Читать книгу Missgeschicke - Yupag Chinasky - Страница 6
Animalische Komplikationen
ОглавлениеEr hatte Indien bisher gemieden. Indien? Nein, das musste nicht sein! Die Menschenmassen, das Elend auf der Straße, das diskriminierende Kastenwesen, die wenigen unglaublich Reichen einerseits und die vielen, die absolut nichts haben. Dazu die verwirrende Religion mit ihren 30 Millionen Göttern, die fremdartige, für uns seltsame Kultur, die Unkenntnis über geschichtliche Zusammenhänge in diesem Raum, all das hatte ihn abgehalten, Indien als Reiseland überhaupt in Erwägung zu ziehen. Doch dann kam ganz plötzlich die Erkenntnis, wenn nicht jetzt, dann nie und er buchte eine Indienreise. Drei Wochen mit Mietwagen und Fahrer durch Südindien. Natürlich sah er Menschenmassen, beobachtete überfüllte Busse und Bahnen und wurde, wenn auch nur passiv, mit dem Wahnsinnsverkehr in den Städten konfrontiert. Auch das Elend und den Unrat auf den Straßen sah er, wenn dies auch, wie er von Reisebekanntschaften hörte, längst nicht so drastisch ausgeprägt war wie im Norden. Vom Kastenwesen bekam er gar nichts mit und die positiven Eindrücke der Religion und der Kultur überwogen. Er war sehr angetan von dem uralten kulturellen Erbe, von den phantastischen Tempeln, von der sichtbaren, ja geradezu greifbaren Frömmigkeit der Menschen. Auch die Natur, das angenehme Klima und die fast ständige Abwesenheit von Regen, trugen zu diesem positiven Bild bei. Er hätte mit seiner Reise sehr zufrieden sein können, wenn da nicht diese Viecher gewesen wären. Nicht die Mücken, die manchmal schon sehr lästig waren, nicht die giftigen Kobras oder die menschenfressenden Tiger, die keinem Touristen jemals gefährlich werden können, weil man ihnen nur im Zoo begegnet. Nein, es waren andere animalische Erfahrungen und Verwicklungen, auf die er lieber verzichtet hätte.
Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel verschaffte ihm einen ersten Eindruck von dem chaotischen Verkehr, der ihn auf seiner weiteren Reise ständig umtosen würde: das ewige Hupen, das ständige Aufjaulen der Motoren, das nervige Blubbern der Diesel, das „tuk-tuk“ der gelb-schwarzen Motorrad-Rikschas. Alle fuhren durcheinander, gerade wie sie wollten, nutzten jede Lücke, die sich bot, rücksichtslos, draufgängerisch, uneinsichtig. Es war ihm schleierhaft, wie man in diesem Chaos abbiegen, wenden oder überholen konnte, ja selbst das Überqueren einer größeren Straße zu Fuß war eine Kunst, die man erlernen musste. Zum Glück konnte er die meiste Zeit das Gewusel, das sich letztlich aber doch selbst organisierte und irgendwie funktionierte, aus seiner klimatisierten Schutzzelle namens Suzuki verfolgen. Und er konnte auch die heiligen Kühe beobachten, die wie erwartet seelenruhig durch die Straßen schlenderten, sich mitten im Verkehr hinlegten, als ob sie auf einer herrlichen grünen Weide wären. Sie genossen höchste Priorität, kein Autofahrer wagte es, sie zu vertreiben oder gar anzufahren, welch Sakrileg wäre das. Bei einem abendlichen Spaziergang sah er eine Kuh, die im Müll, direkt neben einer vielbefahrenen Straße wühlte. Er war fasziniert von ihrem Tun und wollte die Schmankerl, die sie sich ins Maul beförderte, besonders gut aufnehmen. Deshalb machte er, die Kuh fest im Sucher der Kamera, einen Schritt nach rückwärts auf die Straße, mit ihrem brandenden Verkehr. Ein wütender Schrei, ein schepperndes Klingeln, das kratzende, schleifende Geräusch einer Vollbremsung, im letzten Moment konnte der Fahrer eines Tuk-tuks in den Verkehrsstrom eintauchen, der Zusammenstoß war vermieden. Erschrocken hielt er kurz inne, um dann von einem sichereren Standpunkt aus weiterhin aufzunehmen, was die Kuh fraß: Palmblätter, Bananenschalen, Kokosnusshüllen, Zeitungen, Packpapier, Pappendeckel, Plastiktüten.
Dann das Erlebnis mit dem Hund, einem der Viecher, die in Massen Straßen und Plätze bevölkern. Der Wagen fuhr langsam auf den Tempel zu. Er sah seinen ersten, grandiosen, vielfarbigen Tempelturm, war begeistert, öffnete die Tür, schaute ehrfurchtsvoll hinauf zu den überbordenden Massen steinerner Götter und menschlicher Helden, um schließlich mit einem weiten Schritt aus dem Auto zu steigen, den Blick zwar noch nicht im Sucher der Kamera, aber bei dem Pantheon. Bei diesem unüberlegten Schritt trat er einem der faul herumdösenden Köter auf den Schwanz. Dieser jaulte auf, sprang hoch, drehte sich um seine eigene Achse und wehrte sich, indem er nach dem Bein des Angreifers schnappte. Der Biss war nicht tief, nicht bösartig, mehr ein Kneifen, aber es blutete. Ihm wurde mulmig. Indien, das wusste er, war das Land mit den meisten Tollwutfällen. Tollwut ist unheilbar, hatte er gelesen, man ist unausweichlich zum Tode verurteilt, wenn man nicht geimpft ist. Der faszinierende Tempel wurde nicht besucht, stattdessen trieb er den Fahrer an, so rasch wie möglich in das nächste Krankenhaus zu fahren. Spritzen, Tests, Untersuchungen, viel, viel Zeit ging mit Warten drauf. Zum Glück, zum großen Glück, brachte das Ergebnis Entwarnung. Der Hund war sauber und der Biss nicht Folge eines tollwütigen, sondern nur seines tollpatschigen Verhaltens.
Ein Höhepunkt der Reise war der Aufenthalt im Tiger Sanctuary, einem schönen Wildreservat mit irreführendem Namen. Es gibt dort keine Tiger und auch die anderen Tiere sieht der durchrasende Tourist meist nur eher sporadisch: kletternde Streifenhörnchen, freche Affen, ab und zu einen grasenden Hirsch oder ein suhlendes Wildschwein, auf jeden Fall aber viele Vögel. Auch Elefanten waren dort, jawohl, allerdings nur zahme, nur solche, die dazu dienten, Touristen in schaukelnden Sänften für eine Stunde in den Dschungel, der hier ein sehr lichter Wald war, zu tragen. Auf dem Elefantenparkplatz beobachtete er, wie ein Mahout, seinen Elefanten einige Kunststücke vorführen ließ. Er warf einen Stock, der Elefant apportierte ihn. Ein griff an sein Ohr, das Tier trompete. Eine Handbewegung zum Teich und die graue Masse legte sich wohlig in das Wasser und ließ sich die Haut bürsten, nicht nur von seinem Mahout, von jedem, der bereit war, ein paar Rupien zu spendieren. Zum Schluss hielt das frisch gewaschene Tier seinen Rüssel segnend über den Kopf der Leute, die ihm dafür ein Geldstück in den Rüssel steckten. Von den reichen Touristen erwarteten sowohl der Elefant als auch sein Herr einen Schein. Er wich von der Regel ab, steckte dem Tier eine Münze zu, eine Rupie, die kleinste Münze, die es gibt. Der Mahout protestierte lauthals, doch der mildtätige Spender dreht sich achselzuckend um und ging davon. Ein leise geflüsterter Befehl, der Rüssel tauchte in den Teich und ein wohldosierter, voluminöser Wasserstrahl traf den Rücken des Geizhalses.
Das allein wäre schon ein Grund, den Wildpark in fataler Erinnerung zu behalten, doch ein weiteres animalisches Schlüsselerlebnis sollte hinzukommen. Nach einem „soft walk“, einem Rundgang mit Führer durch den leicht begehbaren Teil des Waldes mit botanischen und zoologischen Erklärungen und Hinweisen – here you see a giant beetle, there is termite hill and over there, the strange tree with the long leaves, is a eucalyptus, origin Australia - war er wieder am Parkplatz angekommen. Hungrig und durstig von dem Gang in der Mittagshitze, beschloss er eine Kleinigkeit in der vegetarischen Imbissstube – pure veg - zu essen. Er bestellte Massala, tunkte knackigen Binis in rote Soße und beobachtete die Affen, die scharenweise umherstreiften, sich um weggeworfene Bananenschalen balgten, sich lausten, sich aneinander klammerten, zwischendurch kopulierten und immer die Bäume rauf und runter, rauf und runter. Das Gewusel gefiel ihm und er fotografierte eifrig mit seiner kleinen, verchromten Canon. Nach einer Weile stand er auf, ging zur Theke, um sich noch eine Lassie zu holen, eines dieser köstlichen Joghurtgetränke. Fatalerweise ließ er nicht nur das erst halb aufgegessene Mittagsmahl unbeaufsichtigt auf dem Tisch stehen, auch seine Kamera, seine schöne, neue, nicht ganz billige Kamera ließ er liegen. Noch ehe er die Theke erreicht hatte, hörte er die Leute am Nebentisch schreien. Er dreht sich um und sah, wie sie die Affen verscheuchten, die sich gerade über sein Mittagessen hermachen wollten. Sie ließen auch tatsächlich von ihrem verwerflichen Tun ab und trollten sich, zurück auf die Bäume. Doch der Letzte, wirklich der Letzte aus der Horde, vermutlich ein übermütiger Teenager mit zu viel Testosteron, grabschte im Wegrennen die Kamera und nahm sie mit in den Wald, in dem er mit seiner kostbaren Beute sofort verschwand. Einen Trost in dem aufgekommenen Ärger gab es. Kameras sind ersetzbar und in Indien, einem partiellen High-tech-Land auch erhältlich und nicht allzu teuer.
Das animalischste und scheußlichste aller animalischen Schreckenserlebnisse traf ihn jedoch am Strand, kurz vor Ende der Reise. Er hatte zum Entspannen nach all dem Sightseeing, den vielen Tempeln, den Hunderten von Kilometern stressigen Indienverkehrs und den in unzähligen Fotos festgehaltenen Eindrücken von Land und Leuten noch ein paar Tage in einem Ressort gebucht. Es lag an einem dieser Traumstrände, an denen angenehm warmes Wasser in einer leichten Dünung den feinen weißen Sand umspült und die wiegenden Palmen die einzige Gefahr darstellten, weil eine schwere Kokosnuss, die aus großer Höhe herabfällt, beträchtlichen Schaden anrichten kann. Das Schönste war, dass es, obwohl Hauptreisezeit, kaum Touristen gab und er sich wunderte, wie der Betrieb aufrechterhalten werden konnte. Die Umgebung war geschmackvoll, mit sehr viel Grün, vielen Bäumen und Büschen, Rasenflächen und Teichen, Vögeln und Streifenhörnchen. Ein Paradies und er mitten drin. Er wohnt in einem komfortablen Holzhaus, speiste in dem Freiluftrestaurant und genoss den exzellenten Service des zahlreichen, unausgelasteten Personals. Aus der abgeschlossenen Komfortwelt des Ressorts gelangte man durch eine Tür im Zaun direkt an den Strand. Neben der Tür saß ein Wächter, der jeden nach seiner Zimmernummer fragte, aus Sicherheitsgründen, falls man abhandenkam, abgetrieben oder von Haifischen angefallen. Wenn man den abgesteckten, gesicherten Bereich des Traumstrands verließ, gelangte man zu den Hütten der Anwohner, früher hätte man Eingeborene gesagt, aber das Wort kann man heute nicht mehr verwenden. Die Männer saßen im Schatten ihrer malerischen, meistens bunt angestrichenen Fischerboote, die sie ein weites Stück vom Meer weg auf den Sand gezogen hatten, und flickten die Netze. Ein Idyll, wie aus dem Bilderbuch. Jenseits der Sandzone, im Schatten der Palmen grasten Kühe und Wasserbüffel. Kaum sahen die Kinder des Dorfs den Fremden, kamen sie in Scharen herbeigelaufen und riefen „come from? pen please“.
Am zweiten Tag hatte er den Hotelstrand verlassen und war lange am Meer entlang gewandert, bis zu einer Halbinsel, die sich bogenförmig ein paar Hundert Meter in das Meer hinein erstreckte. Auf der Halbinsel standen ein paar Hütten und eine Menge Palmen. Kühe grasten, Hühner liefen herum, er sah keine Menschen, nur ein paar Hunde, die knurrten, als er näher kam, sich aber dann trollten. Das Ufer bestand hier aus Felsen, es war wilder und deutlich steiler und die heftigere Brandung versprach ein größeres Badevergnügen. Er zog sich aus und legte seine Kleider unter eine Palme, die Hose, das Hemd, die Unterhose, die Sandalen, ein Buch, alles, was man so dabei hat. Dummerweise hatte er auch seinen Brustbeutel aus olivgrünem Stoff mitgenommen, statt ihn in dem sicheren Zimmer des Bungalows gelassen zu haben. Das war wirklich dumm, aber, so sein nächster Gedanke, wer sollte hier schon vorbeikommen und ihn beklauen. Sorgfältig legte er den Beutel unter die Kleider und ging ins Meer. Das Schwimmen war herrlich, die Brandung hielt, was sie versprochen hatte, er tauchte, ließ sich vom Wasser hin und her treiben, hochschaukeln und niederziehen. Dann paddelte vom Ufer weg, bis die Dünung wieder ganz sanft wurde, legte sich auf den Rücken, ließ sich sanft wiegen, blinzelte in die Sonne, schloss die Augen und träumte. Nachdem er die Freuden des Badens im Meer genügend ausgekostet hatte, schwamm er zurück und die kurze Phase des Traumurlaubs war in dem Moment zu Ende, als er aus dem Wasser stieg und zu seiner Palme gehen wollte. Er erstarrte. An dieser, seiner Palme stand eine Kuh und entledigte sich gerade einer großen Ladung dunkler Kuhscheiße. Aber das war nicht der Grund seiner Erstarrung, nicht das Hinterteil, nein das Maul war es. Der Anblick dieses Mauls veranlasste ihn, seine Schockstarre schleunigst aufzugeben, loszurennen und auf das Tier einzuschreien. Die Kuh, die in seinen Kleidern gewühlt hatte, sah erstaunt auf und hoppelte dann eilig davon. Er hinterher, fluchend schimpfen, mit den Armen rudernd und weiterhin schreiend. Denn das, was er für einen kurzen Moment gesehen hatte, war fürchterlich. Er hatte gesehen, wie der handliche, grünliche Brustbeutel mit seinem wertvollen Inhalt, Bargeld, Kreditkarte, Pass im Maul der Kuh verschwand und nur noch die weiße Schnur heraushing. Als er die Kuh eingeholt hatte, schlug er auf sie ein, packte sie am Horn und versuchte den Beutel an dem Bändel wieder herauszuziehen. Doch das misslang, der Bändel riss und die Kuh riss sich, den Kopf heftig hin- und herschüttelnd von seiner Hand los. Eine alte Frau war aus einer der Hütten gekommen, hatte gesehen, wie einer dieser Fremden es wagte eine heilige Kuh zu beleidigen, zu beschimpfen, festzuhalten, gar zu schlagen. Sie begann ihrerseits zu kreischen und auf den Frevler einzuschimpfen. Weitere Dorfbewohner eilten aus ihren Hütten und scharten sich um den Unhold. Dieser versuchte ihnen klarzumachen, was passiert war und sie durchschauten die Sachlage überraschenderweise sehr schnell und ihre anfängliche Feindseligkeit verwandelte sich in Hilfsbereitschaft. Ein Mann fing die Kuh ein und öffneten ihr das Maul, doch das war leer. Der grüne Brustbeutel war wohl schon im Pansen angekommen. Der einzige Trost, der ihm blieb, war, dass sein Konto mit der gestohlenen Kreditkarte nicht geplündert werden würde. Doch der Frust war groß, die Scherereien vielfältig. Finanziell war das Desaster erträglich. Die Rundumsorglosreiseversicherung ersetzte alle materiellen Schäden, doch die entgangenen Freuden unter Palmen, ersetzte ihm niemand.