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Ein Desaster

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R. kannte G. über dessen Frau, sie war Studienkollegin gewesen. Sie hatten im selben Semester die gleichen Kurse belegt und sich bei der Prüfungsvorbereitung geholfen. Nach dem Studium hatten sie sich aus den Augen verloren, und erst als sie sich zufällig in derselben Stadt trafen, in die sie die Arbeit verschlagen hatte, nahmen sie wieder losen Kontakt auf. Sie gingen manchmal mit den Kindern im Wald spazieren, beide waren verheiratet und hatten Familie oder luden sich zum Essen ein. Nicht oft, nicht regelmäßig und auch nur mit mäßiger Begeisterung. Als G. versetzt wurde, brach der Kontakt wieder fast ab. Nur zu Weihnachten schrieben sie sich Karten und manchmal riefen sich die Frauen an, sie kamen gut miteinander aus.

Dann ergab es sich, dass die R.’s in der Gegend Urlaub machten, in der die G’s jetzt wohnten. Eine beschauliche Gegend, abseits aller kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Strömungen. Flaches Land pur, Kühe, Mais, Kartoffeln. Nur ein Arbeitgeber von Bedeutung, die Fabrik, in der G. eine mittlere Führungsposition bekleidete. Als die G.’s weggezogen waren, hatten sie eine Einladung ausgesprochen - besucht uns doch mal, ihr könnt jederzeit kommen, wir würden uns freuen - die vielleicht nicht ganz ernst gemeinte, aber auch nie widerrufen worden war, denn so etwas macht man ja auch nicht ohne triftigen Grund. Nun machte es R. also wahr und mit Frau und achtjähriger Tochter unangemeldet vor G.’s Haustür. Sie hatten ein Ferienhaus gemietet, das wie üblich nur von Samstag zu Samstag gebucht werden konnte. Die Anfahrt war aber lang und so fuhren sie am Freitag los und hofften, ein Hotel für die eine Nacht zu finden. Sie fanden aber kein freies Zimmer und da kam ihnen die Idee mit dem Besuch bei G., zumal G.’s Frau bei einem ihrer letzten Anrufe von ihrem neuen Haus geschwärmt hatte, einem neuen, großen Haus mit viel Platz für Besucher - ihr könnt jederzeit unterkommen, kein Problem.

Die Überraschung stand G. im Gesicht geschrieben, als er die Haustür öffnete. Der Besuch kam nicht nur unerwartet, sondern auch ungelegen, wie er ihnen bei einem Glas Sprudel im Wohnzimmer eröffnete. Seine Frau sei gerade einkaufen, denn er erwarte heute Abend Besuch, seinen Chef mit Frau, eine wichtige Einladung, wichtig für seine berufliche Karriere. Bevor R. auf die Nöte der von der Fahrt ermüdeten, nach Ruhe lechzenden Besucher einging, legte er ausführlich dar, wie wichtig ihm der Besuch sei, nicht der der G’s, sondern der seines Chefs. Wenn wir einen guten Eindruck hinterlassen, du weißt ja, neben dem Fachlichen spielt die Chemie eine Rolle, die gegenseitige Sympathie, nicht zuletzt die Wirkung seiner Frau auf den Chef und den Eindruck, den sie beide, er und seine Frau, auf die Frau des Chefs hinterlassen müssten, dieser ganze Psychologiekram, du weißt schon. Wenn also heute alles gut ginge, könnte er sich Hoffnung auf eine Stelle machen, die demnächst altersbedingt frei würde. Eine gute Stelle, mit viel Potential, der Einstieg in die Hierarchie. Du weißt ja, wie wichtig Vitamin B ist, genauso wichtig wie Seilschaften, man kommt nur weiter, wenn man Beziehungen pflegt, man muss sich bekannt und unentbehrlich machen. Dass er dieses Feld eifrig bestellte, um im Beruf weiterzukommen, hatte R. schon von früher gewusst, er war ein Schleimer und ein Rackerer. Neu für ihn war, dass G. nun auch im öffentlich Leben Position bezogen hatte. Er kandidierte für die kleinere der beiden Regierungsparteien als Direktkandidat, wie er stolz berichtete, zwar ohne Aussicht auf Einzug in den Bundestag, seine Partei hatte noch nie in ihrer Geschichte ein Direktmandat gewonnen, aber das sei nicht so wichtig, er wolle ja gar nicht gewählt werden, er wolle in der Firma Karriere machen. Jedenfalls hing sein Porträt an allen Straßenecken, was R. auch schon bei der Anfahrt bemerkt hatte, ein wichtiger Schritt zur Vergrößerung seines Bekanntheitsgrads. Diese Kandidatur und seine Strebsamkeit, er war zweifellos ein pfiffiges Kerlchen mit ausgeprägtem Ego, machten ihn für die Firma interessant und genau damit wollte er wuchern und der heutige Abend sollte die Weichen für eine vielversprechende Zukunft stellen.

Nachdem er diese wichtige Botschaft und Erklärung los geworden war, legte er ziemlich unverblümt und schnörkellos den R.’s nahe, für diese Nacht doch lieber ein Hotelzimmer zu suchen, am nächsten Tag, da seien sie herzlich willkommen, dann stehe sein Haus ihnen selbstverständlich zur Verfügung und bla, bla, bla. Doch ein Hotelzimmer zu bekommen war nicht möglich. Diese Erfahrung hatten sie ja schon gemacht, und als G., von seiner Omnipotenz überzeugt, selbst diverse Anrufe tätigte, musste auch er schließlich resigniert feststellen, dass kein Zimmer zu haben war. Den Grund hätte er eigentlich wissen müssen. In der Stadt fand an diesem Wochenende ein überregionales Schützenfest statt, es sollte sogar der deutsche Schützenkönig gekrönt werden und G. würde am Sonntag als Direktkandidat auch seine Aufwartung machen. Jedenfalls waren alle Hotels und Pensionen, alle Privatquartiere und Absteigen ausgebucht und das nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch im näheren Umland. Im weiteren Umland gab es sowieso keine Beherbergungsmöglichkeiten mit Ausnahme der Ferienwohnungen in unberührter Landschaft, die aber wie gesagt, nur von Samstag bis Samstag buchbar waren. Eine Weiterfahrt in eine ungewisse Nacht mit der Aussicht auf stundenlanges vergebliches Suchen wollte R. weder sich noch seiner Familie zumuten und das verstand selbst G. Eine verzwickte Situation, die sich auch nicht lösen ließ, als G.’s Frau eintraf und die Gäste herzlich begrüßte. Den naheliegenden Vorschlag, für die R.’s einfach drei Teller mehr hinzustellen, bei Aldi noch eine Flasche Cabernet Sauvignon und ein paar Tiefkühlpizzas zu holen, machte G. nicht. Das passte ihm nicht in den Kram, es würde seine sorgfältig geplante Strategie stören. Und R., der diese Lösung als selbstverständlich erachtet hätte, brachte diesen Vorschlag selbstverständlich nicht aufs Tapet.

Schließlich fanden sie doch eine Lösung, die G. als optimal anpries, der G’.s Frau nach einigem herum drucksen nicht widersprach und die die R’s notgedrungen akzeptieren mussten. G’s Frau würde für die R’s ein einfaches, köstliches Nachtmahl bereiten, Wurstsalat mit Tomaten und dazu gäbe es einen wirklich guten Riesling. Dann sollten die beiden Alten ins Kino gehen, es laufen sehr gute Filme in unserem Programmkino und die Tochter könnte mit den eigenen Kindern noch spielen, obwohl diese deutlich jünger und somit keine adäquaten Spielpartner waren und dann könne sie ja früh zu Bett gehen. Die Kinolösung war zwar nur suboptimal, aber immer noch besser als bei Nacht und Nebel herumzuirren und ein Zimmer zu suchen. Die Tochter nölte etwas, war aber müde von der Reise und versprach, nachdem ihr für das Wochenende diverse Eisportionen und Schokoriegel in Aussicht gestellt wurden, brav zu sein. Doch nachdem der Riesling zur Hälfte geleert war und R. Zeit gefunden hatte, die unangenehme Situation mit seiner Frau in Ruhe durchzugehen, verkündete er G., sie wollen lieber doch nicht ins Kino gehen, sie hätten keine Lust, auch nicht auf einen Programmkinofilm und auch wegen der Tochter und so, sie würden lieber still auf ihrem Zimmer bleiben und warten, bis der Herr Chef mit Gattin wieder abgezogen sei.

So geschah es. Die R’s saßen in einem der Gästezimmer und lasen den Stern und die Tageszeitung. Die Tochter war in der Tat müde und in ihrem Beistellbett rasch eingeschlafen. Die G.’s hatten pünktlich um acht Uhr den Herrn Chef mit Gattin und Töchterchen in ihr Haus gebeten. Der Tisch war mit edlem Linnen, Rosenthalporzellan und WFM-Besteck gedeckt und mit Blumen geschmückt, zu denen sich nun der Strauß gesellte, den der Chef G’s Frau überreicht hatte. Das Essen fand in der großen Halle im Erdgeschoss statt, die Teil des Wohn-Koch-Bereichs war, während die Schlaf- und Gästeräume im ersten Stock lagen, die durch eine großzügige Galerie miteinander verbunden waren. Es war in der Tat ein extraordinäres, ja ein durchaus repräsentatives Haus, das sich G. in der Gewissheit auf Beförderung und Gehaltserhöhung und unter Aufnahme beträchtlicher Schulden geleistet hatte. Aber er hatte ja eine sichere Stelle und war deshalb für die örtliche Bank ein höchst genehmer Kunde. Wenn die R’s die Tür des Gästezimmers leise öffneten, rochen sie den verführerischen Duft von Lammbraten und Minzsoße und hörten das muntere Geplauder der Abendgesellschaft, wobei der Gastgeber mit seinem lautstarken Schwadronieren bei Weitem dominierte. Am Anfang vernahmen sie auch noch das Geplapper des Cheftöchterchens, das aber bald verstummte. Dieses Mädchen von vielleicht zehn, zwölf Jahren war überraschend mitgekommen. Wenn man das früher gewusst hätte, stellte G. bei der Begrüßung bedauernd fest, hätte man vielleicht auch noch für die eigenen Kinder mit gedeckt. Aber die waren dafür noch zu klein und schliefen bereits. Ob G. in diesem Moment ein wenig bedauerte, R.’s Tochter, die fast gleich alt war, nicht zur Verfügung zu haben, sei dahingestellt. Jedenfalls musste sich das Cheftöchterlein allein mit den doofen Erwachsenen vergnügen.

Der Abend hätte friedlich und schiedlich enden können, wenn nicht R. dringend auf die Toilette gemusst hätte und das kleine Mädchen von großer Langeweile geplagt gewesen wäre. Am Riesling hatte es sicher nicht gelegen, aber möglicherweise hatte der rustikale Wurstsalat schon einen Stick gehabt. R. schlich sich jedenfalls über die Galerie in Richtung Badezimmer und wagte nicht, nachdem er sein Geschäft erledigt und sein Wohlbefinden zurückgewonnen hatte, die Wasserspülung zu betätigen, um keine Aufmerksamkeit auf die klandestinen Mitbewohner zu richten. Fast nackt, nur in einer Miniunterhose anstelle eines Pyjamas, war er auf dem Weg zurück in das rettende Gästezimmer, als er eine kleine Gestalt die Treppe heraufkommen sah. Schnell versteckte er sich hinter einer mächtigen, üppigen Yuccapalme, einem ungeliebten und daher hierher verbannten Geschenk der Eltern oder Schwiegereltern zum Einzug in das neue Haus.

Während R. mit seiner Verdauung kämpfte und schließlich einem natürlichen Drang nachgehen musste, hatte sich im Stockwerk darunter die Lage verändert. Nach der erlesenen Vorspeise und dem höchst erfolgreichen Hauptgang hatte die Frau des Chefs angeboten, bei der Zubereitung des Nachtischs, frisches Limettensorbet mit raffinierter Schokosauce, behilflich zu sein. Sie kamen sich bei dieser anspruchsvollen Küchenarbeit durchaus näher und konnten für eine strategisch wichtige Weile, das Wohnzimmer den beiden Männern überlassen, denn diese sollten sich ja auch nahe kommen, das war schließlich der Sinn und Zweck der Einladung. Und sie kamen sich näher. G. war zur Höchstform aufgelaufen, erläuterte seine Pläne, Ideen, Strategien, Visionen. Der Chef war angetan. Ei der daus, was für ein Potential schlummerte da in seiner Abteilung, was für ein Eisen, das man nur richtig schmieden musste, um es bei Bedarf als scharfe Waffe einsetzen zu können. G. redete und redete, holte sich einen Schreibblock, um seine Gedanken zu veranschaulichen, schenkte Bordeaux nach und schloss aus dem wohlwollend aufmerksamen Verhalten seines Vorgesetzten, dass er auf dem richtigen Weg war. Die Leidtragende, ja die Verliererin des Abends war das Töchterchen, ein munteres Ding voll Tatendrang, das sich allein unter den Erwachsenen fürchterlich langweilte. Erst das grässliche Essen, dann die endlosen, unverständlichen Gespräche, Mama weg, Papa auch irgendwie weg, obwohl er am Tisch saß. Sie streifte durch die Halle, schaute hier hin und da hin und stieg schließlich unbemerkt die Treppe hoch, um in unbekannten Gefilden weiterzuforschen. Ein Ding war schon mal ganz interessant, ein großer Baum, mitten in einer Wohnung, im Halbdunkel des spärlichen Lichts kaum zu erkennen.

Was dann geschah, geschah recht schnell, die Abläufe überschlugen sich. Das kleine Mädchen öffnete in ihrem Forscherdrang die nächste Tür. Es war die zum Bad. Doch als sie eintreten wollte, umgab sie ein ekeliger Gestank. Sie hielt sich die Nase zu, machte kehrt und ging schnell wieder zurück auf die Galerie. Und genau in diesem Moment sah sie, wie ein nackter Mann hinter dem großen Baum hervorkam und geradeswegs auf sie zu eilte. Sie erschrak fürchterlich, schrie gellend auf und stürzte auf die Treppe zu, um schnell zu Mama und Papa zu gelangen. In ihrer Hast und Angst stolperte sie auf deren Mitte und stürzte die letzten Stufen hinab, dabei verknackste sie sich das rechte Sprunggelenk und schrie nun erst recht und das mit gutem Grund. Durch den Lärm wachte die Tochter von R. auf, wähnte sich in einem Albtraum, rannte auf die Galerie und schrie ebenfalls, allerdings ohne Grund. Und auch die G-Kinder waren aufgewacht, tappten auf die Galerie und stimmten in das Schreikonzert ein. R. stand, macht- und hilflos in seiner ganzen Schönheit und seinem Tanga oben auf der Treppe, angezogen durch das Poltern des stürzenden Mädchens und hörte sich die bitteren Vorwürfe seiner Frau an, die natürlich auch auf der Galerie erschienen war, nicht wusste, was los war und schwankte, ob sie zuerst die Tochter beruhigen und dann ihren Mann ausschimpfen sollte, der selbstverständlich für das Chaos verantwortlich war oder umgekehrt. Das Sorbet wurde schnöde im Stich gelassen, die beiden Frauen eilten beim ersten schrillen Schrei aus der Küche und sahen entsetzt, wie das Kind die Treppe herab taumelte und dann herab purzelte. Die beiden Männer, zwar vor Ort, aber mental weggetreten, wurden brutal in die Wirklichkeit zurückgeholt. Alle Pläne und Visionen, alles, was zwischen Hauptgang und nicht serviertem Nachtisch so kunstvoll aufgebaut und eingefädelt worden war, zerstob in einem kurzen Moment. Es war ein Desaster.

Die Knoten all dieser Komplikationen entwirrten sich nach und nach. Die beiden kleinen G-Kinder auf der Galerie beruhigten sich und gingen von selbst in ihr Zimmer zurück, um friedlich weiterzuschlafen. Der Chef, auf dem Arm das jammernde Kind, und seine Frau verabschiedeten sich hastig. R. versuchte einige halblaue Erklärungen anzubringen, doch niemand hörte zu. Seine Frau, immer noch mächtig wütend, war damit beschäftigt die eigene Tochter zu beruhigen, die, brutal aus dem Tiefschlaf gerissen, hemmungslos schluchzte. G’s sanfte Frau hatte sich in ihr Reich, die Küche zurückgezogen, lehnte sich an die Spüle und weinte, weil das Sorbet unvollendet geblieben war. G. selbst war abwechselnd puterrot und kreidebleich. Ihm war immer noch nicht klar, was eigentlich so richtig vorgefallen war und haderte mit dem Schicksal, dass solch ein Scheiß ausgerechnet an diesem Abend hatte passieren müssen. Ihm war aber überdeutlich klar, was er an diesem Abend alles verspielt hatte.

Die R’s reisten am frühen Morgen fast grußlos ab. Der Kontakt erstarb damit vollends. Aus der Beförderung von G. wurde nichts, ein Konkurrent war aus dem Hut gezaubert worden und hatte die Nase vorn. Die Wahl ging gründlich daneben, die Anzahl der Zweitstimmen war weniger und die der Erststimmen viel schlimmer als erwartet. Die Ehe der G.’s wurde nach einiger Zeit geschieden, die Karrieresucht von G. wollte und wollte mit den simpleren Ansprüchen und Ansichten seiner mit mehr Vernunft ausgestatteten Frau nicht harmonieren. Die R’s suchten nie wieder unangemeldet jemanden auf und mieden, nachdem die drei Wochen in der Ferienwohnung überstanden waren, die Gegend, in der G.’s Haus lange Zeit vergeblich zum Verkauf angeboten wurde.

Missgeschicke

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