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DIE LÜGE, MIT DER ALLES ANFING

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Die Verzweiflung blieb und die Probleme auch.

Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen, alles hatte länger gedauert, als es sollte. Ich wollte das Geburtstaggeschenk von Eva, einer Mitschülerin und Freundin, nicht ablehnen – ein Besuch beim Friseur, da mein letzter schon drei Jahre her war. Wir saßen bis abends im Salon und danach musste ich meinen Kleinen bei meinen Schwiegereltern abholen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich etwas für mich tat, wenn auch mit schlechtem Gewissen.

Als wir nach Hause kamen, sah ich schon, dass jemand mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Tom hatte versucht, mich zu erreichen. Als ich ihn zurückrief, reagierte er sehr unfreundlich. Ich erklärte ihm, dass es bei meinen Schwiegereltern, wo ich den Kleinen abholen musste, Streit gegeben habe und ich gerade erst nach Hause gekommen sei.

Tom wollte vorbeikommen. Meinen schwachen Einwand, dass das nicht nötig sei, ließ er nicht zu. Ich hatte keine Kraft, mich durchzusetzen.

Als Tom seinen Unfall hatte, war er gerade dabei gewesen, seinen Führerschein zu machen. Da er seitdem Angst davor hatte, selbst zu fahren, beendete er seine Fahrstunden nicht. Sein Bruder, ein eher arbeitsscheuer Mensch, der vor allem an sich selbst dachte, fuhr ihn zu uns.

Tom erklärte mir, dass sein Bruder ziemlich sauer gewesen sei, weil er ihm für die Fahrt kein Geld hätte geben können. So etwas kannte ich aus meiner Familie nicht. Man half nicht für eine Gegenleistung, entweder man tat es oder man ließ es sein. Dennoch erklärte ich ihm, dass ich ihn nicht jedes Mal fahren könne, wenn er zu mir kommen oder uns bei sich haben wolle.

Da mein Sohn in der Kita ein Theaterstück aufführte, das Tom sich auch ansehen wollte, blieb er bis Mittwoch. Wir sprachen viel darüber, wie wir uns regelmäßig sehen und besser kennenlernen könnten. Da er mit Luca gut umging und es mir eine große Hilfe war, dass er sich außerhalb der Kita um mein Kind kümmerte, fragte ich ihn, ob er nicht in den Ort ziehen wollte.

Sein Vorschlag war, dass wir in das Dorf ziehen, in dem er mit seinen Eltern und Brüdern wohnte. Dies lehnte ich aus vielen Gründen strikt ab, nicht zuletzt, weil ich nicht bei seiner Familie leben wollte.

Obwohl ich das Alleinleben mit meinem Kind genoss, erklärte ich mich schließlich damit einverstanden, dass er bei mir einzog. Ich war alleinige Mieterin der Wohnung und dachte, unter diesen Umständen wäre es kein so großes Risiko. Ein fataler Fehler, wie sich sehr bald herausstellen sollte. Da ich allein im Mietvertrag stand, glaubte ich, dass er mich nicht aus der Wohnung werfen konnte. Sollte sich herausstellen, dass es mit uns nicht funktionierte, würde er gehen müssen.

Die ersten Tage verliefen eigentlich gut, abgesehen davon, dass er in meiner Abwesenheit die Wohnung sauber machte und bei der Gelegenheit gleich das Geschirr in den Schränken aus- und anders wieder einräumte. Stolz präsentierte er mir das Ergebnis. Ich war wenig begeistert. Tom war beleidigt, er hatte es gut gemeint. Es entlastete mich ja, dass er den Haushalt machen wollte, aber leider hatten wir sehr unterschiedliche Auffassungen von Sauberkeit.

Leider kam es, was sein Putzen betraf, immer wieder zu neuen Streitpunkten. Es kam nicht selten vor, dass ich das von ihm gespülte Geschirr schmutzig aus dem Schrank holte. Als ich sah, dass er den Boden gewischt und das schmutzige Wasser in die Badewanne gekippt hatte, fragte ich ihn, wer ihm das so beigebracht habe. Ich fand das nicht besonders hygienisch und entsorgte so etwas in der Toilette.

„Meine Mutter macht das auch so“, erklärte er. „Das hat sie auch bei ihrer Putzstelle so gemacht, wenn ich ihr geholfen habe.“

Auf mein Nachfragen, warum er seine Mutter begleitet hatte, erklärte er, dass seine Mutter sich eine Putzstelle bei einer älteren Dame im Privathaushalt gesucht hatte. Dorthin habe er seine Mutter oft begleiten und mitarbeiten müssen. Die Tochter der älteren Dame sei jedoch dahintergekommen und habe sie rausgeschmissen, weil angeblich sie den Haushalt ihrer Mutter mache.

Ich hatte ziemlich schnell bemerkt, dass seine Mutter eine Konkurrenz in mir sah und mich offenbar in allem übertrumpfen wollte. Aber ich gehöre nicht zu den Menschen, die so etwas tun. Ich bin ein Individuum. Meiner Meinung nach bin ich gut, so wie ich bin. Ich muss niemanden finden, mit dem ich mich messen kann, um hinterher sagen zu können: Darin bin ich besser als du. Zumindest zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch so viel Selbstbewusstsein.

Im Sommer waren wir zum Geburtstag von Toms Oma eingeladen. Kurz vorher rief seine Mutter an. Sie wollte, dass ich sage, Luca wäre nicht mein Kind, sondern das einer Freundin. Der Grund für diese Bitte war klar. Die Schwester von Toms Mutter wurde aus irgendeinem Grund immer als bösartig dargestellt und offenbar sollte sie in Bezug auf die wahren Verhältnisse getäuscht werden. Ich bat Tom, allein hinzugehen. Ich würde nicht lügen, nur weil eine Tante ein moralisches Problem haben könnte.

Wir gingen dann doch gemeinsam hin. Toms Tante war sehr freundlich. Sie sprach mich direkt mit dem Vornamen an, was mich aber nicht störte. Sie wirkte gar nicht, wie sie beschrieben wurde, kein bisschen arrogant oder bösartig. Das Einzige, was auffiel, war, dass sie und ihr Bruder offenbar ein ganz anderer Schlag waren als der Rest der Familie.

Tom erklärte mir später, dass seine Oma seine Mutter damals adoptiert hatte. Er sagte mir auch, dass er darüber nachdachte, Luca zu adoptieren. Ich erwiderte, dass das nicht einfach so gehen würde und ich mir eine so weitreichende Entscheidung vorher auch gut überlegen möchte.

Im November davor war Luca krank geworden und mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gekommen. Ich verbrachte jede Minute bei meinem Kind. Eine große Sorge waren meine Fehlzeiten in der Schule. Eine Schülerin, die nicht gerade zu den Musterschülern gehörte, würde an der VHS gnadenlos aussortiert werden. Bleiben durfte nur, wer den richtigen Notendurchschnitt hatte. Fehlzeiten wären egal gewesen, solange die Arbeiten gutgeschrieben wurden und der Außendarstellung der Schule nicht schadeten. An der VHS legte man großen Wert darauf, dass die Schüler gute Noten schrieben und ihre Abschlüsse erreichten. Alles andere hätte vermutlich dem Image der Schule geschadet.

Meine Mitschülerin Eva war so ein Mensch. Sie hatte es tatsächlich geschafft, den Realschulabschluss zu machen und nur Einsen im Zeugnis zu haben. Ich erklärte ihr, dass mich als Arbeitgeber so ein Zeugnis erst mal stutzig machen würde. Jeder hatte schließlich irgendwo Schwächen und das Zeugnis hätte für mich in dieser Hinsicht keine Aussagekraft gehabt.

Kurz nachdem ich mit Tom zusammengezogen war, verlief sich meine Freundschaft zu Eva leider im Sande. Tom hatte es geschafft, mich zu manipulieren und mich immer mehr von den wenigen Freunden, die ich noch hatte, zu isolieren.

Meine Schule am Morgen brachte ich nicht mehr zu Ende. In Mathe und Physik hatte ich nicht die erforderliche Drei und obendrein wurde ich in der Stadt mit meinem kranken Kind auf dem Weg zum Arzt von einer Lehrerin gesehen. Das führte dazu, dass man mich trotz der Atteste der Schule verwies. Ich beschloss, wieder abends auf eine andere Volkshochschule zu gehen. Das wiederum wurde mit der Arbeit schwierig, die ich nebenbei hatte. Damals war ich eine „Schlecker-Frau“, wie die Medien es nannten.

Im Juli hatte ein schon länger geplanter OP-Termin angestanden, die Mandeln sollten raus. Ich überlegte bis zum Schluss, ob ich es lassen sollte. Das Betriebsklima an meiner Arbeitsstelle war sehr schlecht und ich wurde immer unglücklicher. Hinzu kam, dass ich damals niemanden hatte, der sich um Luca hätte kümmern können.

Dieses Problem bestand im Grunde nicht mehr, seit Tom bei uns wohnte, der nach wie vor keinen Job hatte.

Somit nahm ich den OP-Termin wahr und ließ mir im Alter von 28 Jahren die Mandeln herausnehmen. In den ersten Tagen konnte ich nicht sprechen. Drei Wochen lang hatte ich starke Schmerzen und es fiel mir schwer, zu essen und zu trinken. Kurz nach der OP, ich war gerade die erste Nacht zu Hause, kam es nachts zu einer Nachblutung. Ich wurde davon wach und lief ins Badezimmer. Ich nahm eine Waschschüssel von Luca und hielt meinen Kopf darüber. Das Blut kam schwallartig aus dem Mund. Als die Schüssel ungefähr halbvoll war, kippte ich sie aus. Ich bat Tom, einen Krankenwagen zu rufen, ich müsse zurück ins Krankenhaus. Ich hatte Panik, ich wollte nicht, dass Luca mich so sah. Also lief ich nach unten vor die Tür und wartete dort. Tom kam dazu. Irgendwann sagte ich, dass ich nicht sterben wolle und dass ich mich vielleicht doch von Luca verabschieden sollte. Ich wollte wieder ins Haus gehen, um mein Kind zu wecken und ihm zu sagen, dass ich ihn liebhabe und mir für ihn wünsche, dass es ihm gut ergeht. Dazu kam es jedoch nicht, da der Krankenwagen in dem Moment eintraf. Die Sanitäter kümmerten sich um mich und brachten mich ins Krankenhaus. Tom war die ganze Zeit über eher abweisend gewesen, schon fast gleichgültig. Ich verstand seine Empathielosigkeit nicht.

Ich wurde direkt auf die Intensivstation gebracht. Die Blutung konnte gestillt werden und ich fiel kurz darauf in einen sehr festen Schlaf. Am nächsten Morgen wurde ich wach und bekam mit, dass Tom schon im Krankenhaus aufgetaucht war und dort vor der Station laut und renitent geworden war, weil man ihn noch nicht zu mir lassen wollte. Ich sollte vor der Entlassung noch einmal abschließend untersucht werden.

Das Essen war mir nicht so wichtig. Viel schlimmer war, dass ich kaum trinken konnte. Trotz der Schmerzmittel brannte alles, was ich trank, im Hals. Nach drei Wochen ging es mir endlich besser und ich konnte wieder trinken und essen ohne, dass es so schmerzte. Als es mir wieder gut ging, hörte ich kurz vor der großen Pleite bei Schlecker auf und suchte mir einen neuen Job. Ich fing an, nachts in Vollzeit Taxi zu fahren, um uns durchzubringen.

Doch von Tom war nichts zu erwarten. Wäre ich nicht auf ihn angewiesen gewesen, um so arbeiten zu können, wie ich es tat, hätte ich ihn vielleicht sofort rausgeschmissen und alles beendet – spätestens in dem Moment, als ich ihn dabei erwischte, dass er uns beklaute. Ich wollte Duschen und ging in die Küche, um es Tom zu sagen. Da sah ich, dass er Lucas offene Spardose in den Händen hielt.

„Was machst du da?“, fragte ich.

„Ich zähle das Geld“, erwiderte er.

„Es geht dich nichts an, wie viel Geld in Lucas Spardose ist.“

Als ich auf ihn zuging und ihm die Spardose wegnahm, sah ich, dass nur noch Centstücke darin waren.

„Vorher war mehr in der Spardose. Wo ist das Geld?“

Er versuchte, alles zu bestreiten, gab aber schließlich zu, dass er das Geld aus der Spardose genommen hatte. Ich sagte ihm, dass ich das nicht dulden würde und von ihm erwarte, dass er alles, was er genommen hatte, zurückgab. Außerdem wollte ich unter diesen Umständen nicht mit ihm zusammenleben.

Ich ging duschen und dachte darüber nach, wie er eine Beziehung führen wollte, wenn er mein Kind beklaute. Schließlich hatte er auch schon Geld von mir genommen, als ich wegen der Mandel-OP im Krankenhaus lag.

Er täuschte daraufhin einen Schwächeanfall vor. Zu Luca sagte er, er solle zu mir gehen und mir sagen, ihm wäre schwarz vor Augen geworden. Tom spekulierte darauf, dass ich unter diesen Umständen und mit dem Versprechen, dass er Luca das Geld zurückgeben würde, bereit wäre, die Beziehung weiterzuführen. Hin und her gerissen ließ ich mich darauf ein. Schließlich musste ich nachts arbeiten und konnte Luca nicht alleine lassen. Dass Tom so etwas schon öfter vorgetäuscht hatte, wusste ich damals noch nicht. Leider war es nicht seine einzige Lüge, wie sich ziemlich schnell herausstellen sollte. Doch es war es zu spät.

Weil ich mobil sein musste, um zur Arbeit zu kommen, und nur einen Smart Fortwo hatte, der aufgrund seines Alters und der hohen Laufleistung sehr teure Reparaturen brauchte, musste ich mir etwas einfallen lassen. Tom erzählte mir auch regelmäßig, wie blöd es sei, dass wir nie zu dritt wegfahren konnten. Ich verdiente gut bei dem Taxi-Unternehmen, zumindest so gut, dass ich die restlichen Schulden tilgen konnte und im September schuldenfrei war. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass ich mich erneut von einem Mann abhängig gemacht hatte.

Ich sagte Tom, dass wir ein Auto kaufen könnten, sobald er sich endlich einen Job suchte. Im Februar würde ich meine Ausbildung anfangen. Alleine könne ich die Kosten nicht tragen, wenn er sich daran beteiligte, würde es gehen.

Er versprach, sich einen Job zu suchen. Kurzzeitig, hatte er über eine Zeitarbeitsfirma tatsächlich einen, den er allerdings nicht lange behielt, genauso wie den bei Burger King. Leider glaubte ich zu diesem Zeitpunkt noch, dass er sich wirklich um Arbeite bemühen würde.

Dass er das nicht tat, wurde mir in dem Moment bewusst, als ich sah, dass er sich nachts an meinem Laptop mit einem jungen Mädchen geschrieben hatte. Ihr gegenüber hatte er seine Situation so dargestellt, als müsste er auf mein Kind aufpassen, damit ich meinen Spaß haben konnte. Außerdem hatte er sich in einem Flirtportal angemeldet.

Wütend konfrontierte ich ihn mit meinen Entdeckungen. Er leugnete nichts. Im Gegenteil, er erklärte mir, dass ihm bei mir etwas fehle.

Ich war sehr enttäuscht. Während ich nachts arbeiten ging, bemühte er sich nicht einmal ansatzweise um eine Anstellung. Wenn er der Meinung war, dass ihm bei mir etwas fehlte, hätte er mit mir darüber reden können. Stattdessen meldete er sich in einem kostenpflichtigen Flirtportal an, das er nicht bezahlen konnte, was wiederum ein Inkassoverfahren nach sich zog.

Da ich den Bezug von Arbeitslosengeld 2 abwenden wollte, musste ich arbeiten und irgendwie Geld verdienen. Als ungelernte Kraft hatte ich nicht viel verdient und es war für mich von Anfang an schwierig gewesen, Tom finanziell mit durchzuziehen. Er wusste, dass ich ab Februar meine Ausbildung machen wollte und es dann enger würde, weil eben Arbeitslosengeld 1 oder 2 im Raum standen.

Einige Zeit später erklärte ich Tom, dass die Alternative Arbeitslosengeld 2 bedeute und ich nur noch acht Wochen brauchte, um ins Arbeitslosengeld 1 zu fallen. Keine Woche später kam die Kündigung von meinem Arbeitgeber. Sein Sohn hatte seinen Job verloren, deshalb wollte er ihn einstellen. Somit war ich ab November arbeitslos.

Im Februar des folgenden Jahres begann ich meine Teilzeitausbildung zur Bürokauffrau. Bis dahin war alles noch in Ordnung. Finanziell war es eng wegen des Autos, aber es ging mehr oder weniger gut.

Es war ein schleichender Prozess. Je länger die Situation schwierig war, weil ich nicht mehr arbeitete, desto mehr Streit gab es. Anfangs ging es nur um finanzielle Dinge. Tom hatte nach wie vor keinen Job und wirkte auf mich auch nicht motiviert.

Gefangen im eigenen Leben

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