Читать книгу Im Schatten der Eiche - Zacharias Amer - Страница 2

Оглавление

I.

Lena

Die Abenddämmerung, wenn die Sonne sich auf den Weg in die Unterwelt macht, war Lena Schuberts Lieblings-stunde. Sie schaute fasziniert hin als sähe sie das Phänomen zum ersten Mal. Schnell nahm sie ihre Pocketkamera, die sie immer auf dem Schoß parat hielt, in die Hand und knipste zehn Bilder hintereinander. Hunderte solcher Bilder hatte sie inzwischen gesammelt und tagtäglich wiederholte sie den Vorgang. Sie saß im Rollstuhl, vor sich ein kleiner Tisch auf dem ein Glas, eine halbleere Weinflasche und ein Aschenbecher standen. Mit dem Rollstuhl rückte sie an den Balkonrand und fixierte die untergehende Sonne. Sie schien sie um die Gunst zu beneiden, verschwinden zu dürfen. „Ja, wenn ich das auch könnte!“, stöhnte sie „warum erhebe ich mich nicht… die paar Schritte bis zum Balkongitter schaffe ich noch. Ich beuge mich tief hinunter und plumps bin ich unten und habe alles hinter mir. Zum Glück wohne ich in der fünften Etage, da darf eigentlich nichts schiefgehen. Ob die Beamten, die herbeieilen um den Fall zu untersuchen, das für einen Selbstmord halten oder nicht, kann mir doch egal sein. Womöglich wird einer von denen sagen: ‚es ist ganz eindeutig, sie hat die Balance verloren und konnte sich nicht halten…‘, von mir aus. Beamte lieben ohnehin die Eindeutigkeit und sind glücklich, wenn sie einen Fall »ordentlich« abschließen können. Mit so einem Schritt mache ich alle glücklich: meinen Mann, der langsam von meiner Pflege die Nase gestrichen voll hat, meiner Schwester verschaffe ich einen Freudentag, nun darf sie allein alles erben, die Krankenkasse wird frohlocken, vielleicht beordert sie einen Blumenstrauß für mein Grab und am glücklichsten wird das Sozialamt sein, endlich eine Parasitin losgeworden zu sein. Soviel Glück und Freude auf einem Mal für einen kleinen Hops. So, jetzt mache ich die Augen zu, zähle bis zwanzig, lieber bis fünfzig, dann springe ich.“ Sie machte wirklich die Augen zu und zählte sehr langsam bis fünfzig, schlug die Augen auf und sagte: „wusste ich doch, dass ich ein Feigling bin. Große Klappe - aber kein Mumm. Was erwarte ich noch vom Leben, nichts. Mein Zustand verschlimmert sich von Tag zu Tag. Wenn ich so weiterlebe, werde ich doch nur jammern und fluchen, meinen »Lieben« das Leben zur Hölle machen. Als ob ich »Lieben« hätte! Höchstens mein Mann, der tut mir inzwischen richtig leid, der arme Kerl. An seiner Stelle würde ich mich erwürgen und in den Knast wandern. Er hätte es ja viel leichter; denn er hat bereits Knasterfahrung hinter sich und ein paar Jährchen mehr oder weniger Knast, was macht das schon. Die Juristen heutzutage sind so was von vernünftig, die werden sicherlich bei ihm mildernde Umstände gelten lassen, wer würde in dieser Hölle nicht die Nerven verlieren und den Partner erwürgen oder mit einem Kissen ersticken, würden sie argumentieren. Säße er an meiner Stelle im Stuhl, würde ich auch nicht zögern und ihn auch auf der Stelle erdrosseln, das kann er von mir schriftlich haben. An sich ist er ein braver Bursche, einfach gestrickt zwar aber wozu braucht er intelligent zu sein, das bin ich selber, wichtig, dass er mit einer guten Seele gesegnet ist. Ich dirigiere ihn hin und her und er tut alles ohne zu mucksen, täglich bringt er mich zu einem Arzttermin…, Rollstuhl rein in den Wagen, Rollstuhl raus aus dem Wagen, chauffiert mich durch die Stadt, geht mit mir in den Park spazieren und ich sitze da wie ein Häufchen Elend und maule herum. Er kauft ein, kocht und füttert mich wie man eine Katze füttert. Macht er einen kleinen Fehler oder vergisst etwas, was auf dem Einkaufzettel steht, so raste ich aus und will ihm am liebsten den schweren Aschenbecher an den Kopf werfen. Was bin ich für ein Monstrum geworden! Mein Mustafa, mein Kümmeltürke, ist ein echter Schatz. Ohne ihn wäre ich längst krepiert.

Wer hätte das vor zwanzig Jahren ahnen können! Als ich ihn kennenlernte, war ich eine echte Schönheit, gesegnet mit alldem, was die Männer um den Verstand bringt. Vorne und hinten hat alles gestimmt: Brust und Beine, Haare, Schminke und einen prachtvollen, knackigen Hintern. Allein die Schminke war ein wahres Kunstwerk. Ich saß ja auch mindestens anderthalb Stunden vorm Spiegel und retuschierte wie ein Maler, wie Rembrandt oder einer von diesen Heinis, dann verließ ich das Haus, um mich begaffen zu lassen. Jeder, an dem ich vorbeiging, drehte nach mir den Kopf um. Ich kann drauf wetten, dass bei vielen das Pimmelchen sich in der Hose regte. ‚Ja, eine Nacht mit der und danach sterben‘, müsste der eine oder der andere gestöhnt haben. Jetzt wird bei meinem Anblick jeder den Kopf angeekelt drehen und denken: warum krepiert die nicht, ich selber traue mich gar nicht mehr, in den Spiegel zu schauen, um meine Visage nicht sehen zu müssen. Neulich scherte ich mir den Kopf kahl, alles ratze putze weg und ungeschminkt schaute ich in den Spiegel, irgendwie war ich angeekelt und fasziniert zugleich. Wer ist das denn, wer kann das sein? Die armselige Kreatur im Spiegel tat mir leid, ich überlegte fieberhaft, ob man nicht für sie was tun kann, ja man soll sie erlösen, die Ärmste, einen langen Schal um den Hals, ziehen und schon ist es vorbei. Sie ist gewiss schon tot, dachte ich, nahm eine Schere in die Hand und wollte die Probe aufs Exempel machen und schauen, ob sie Schmerz empfindet. Ich verpasste ihr einige Stiche hie und da und wartetet, dass sie laut schreit, sie tat es nicht, die Missgeburt, dann legte ich den Spiegel weg und war erleichtert, als die Tote auch weg war. Ich glaube, langsam verliere ich den Verstand. Wenn es einen Gott gäbe, der das sieht und nichts dagegen unternimmt, muss er ein Sadist sein. Er erwartet wahrscheinlich, dass ich die Initiative ergreife, so ein Blödmann. Ich kann die Sache drehen und wenden wie ich will. Ich habe wirklich keine andere Wahl, die fünfte Etage ist die Lösung, meine einzige Rettung. Was brüllen jetzt die islamischen Verrückten ‚Islam ist die Lösung‘, oder so was Dummes, Idioten… Die Welt ist wirklich voll von Idioten, trotzdem klammert man sich an das Leben, anstatt es abzuwerfen. So, jetzt gehen wir an die Sache vernünftig ran, Lenchen. Viel vorzubereiten für den ersehnten Hops, habe ich ja nicht, da es bei mir nichts, absolut nichts, zu vererben gibt, gibt es auch nicht viel zu regeln. Verdammt und zugenäht, wie kann Gott das zulassen. Wie kann ein hübsches, attraktives Mädchen schon mit fünfzig so aussehen wie eine Bestie, Bluthund, Gorilla... Scheiße, mir fällt nichts ein, was gibt es noch für Monster? Wäre es nicht ein guter Vorschlag, eine Obergrenze festzulegen? Männer dürfen nicht älter werden als sechzig und Frauen als fünfzig oder fünfundfünfzig. Denn nach dem fünfzigsten Lebensjahr verliert fast jede Frau ihre Attraktivität, danach ist es nur noch ein Krampf. Sie präsentiert nicht mehr ihre Schönheit, sondern will nur noch ihre Hässlichkeit, die von Tag von Tag zunimmt, verbergen und Männer sind spätestens mit sechzig völlig verblödet, die Mehrzahl längst vorher. Also Gott, beweg den Hintern und tu was.

Mustafa sah auch nicht übel aus damals: großgewachsen, muskulös, ohne Schnurrbart, ich hasse Schnurrbärte, gutangezogen, lehnte lässig an der Theke und schaute vor sich hin als warte er auf Kundschaft. Als ich in die Kneipe eintrat, wandte er keine Sekunde den Blick von mir. Er glotzte mich an als wäre ich der Heilige Geist. Ich weiß nicht, ob man den Heiligen Geist anglotzen kann. Ich konnte es durchaus nachvollziehen. An seiner Stelle wäre ich über mich hergefallen und hätte mir eins verpasst. Was in seinem Kopf vor sich ging, ging also auch in meinem. Eigentlich wollte ich an dem Tag niemanden kennenlernen, sondern war nur heiß auf einen ordentlichen Fick. Große Auswahl hatte ich ja nicht. Es waren nur wenige da, die herumlungerten und nicht wussten, was sie tun sollten, dann platzte so eine wie ich herein und alle waren wie elektrisiert. Ich hatte sie geweckt, plötzlich war Leben in der Bude und sicherlich machte sich der eine oder andere Hoffnung, das habe ich sofort in ihren wirren Blicken gemerkt. Ich kenne solche Typen und Mustafa war einer von denen. Ich nahm ihn nur als Glotzenden wahr und dachte bei mir: kann der Arsch nicht aufhören meine Brüste anzustarren? Gut, sie waren ja auch schön fest, hatten die ideale Größe und luden geradezu zum knappern ein. Ich wollte ihm zurufen: ‚Na, schonmal so eine Frau gesehen, du Armleuchter?‘ Ich fürchtete, die Augen fallen ihm gleich runter. Was solls, hier sind halt nur solche Typen zu finden. Mir wäre lieber, in ein vornehmes Lokal zu gehen, aber dafür reichte das verdammte Geld nicht. Ich kenne keine Zeit, in der ich keine finanziellen Sorgen hatte, wirklich zum Kotzen. Ich ahnte nicht, welche schwerwiegenden Folgen dieser Tag für mich haben wird. Ich weiß noch, dass ich meine rotweiß gestreifte Bluse anhatte. Sie war eine meiner Lieblingsblusen und offenbarte mehr als sie verbarg, verständlich, dass sie jedem den Verstand raubte, aber solche Typen haben ohnehin keinen Verstand. Wozu zum Teufel brauche ich einen Mann von Verstand, vorausgesetzt, es gibt überhaupt welche. Denken kann ich allein, ich bin eine Denkerin und mein Verstand reicht für ein halbes Dutzend. Der soll nur kommen mit einer gutgefüllten Brieftasche, danach werde ich ihn erziehen und ihm ein wenig Verstand beibringen. Das Portemonnaie ist viel wichtiger als der Schwanz. Schwänze werde ich mehr als genug finden, so wie ich aussehe, aber ich brauche einen, der alles übernimmt, der mir die finanzielle Sicherheit bieten kann, der meinen Luxus finanziert. Warum habe ich bloß so einen teuren Geschmack, aber was kann ich denn dafür, bin halt so. Ist es Luxus, eine teure Bluse oder eine teure Handtasche zu haben? Wenn ich sehe, wie viele dämliche Frauen sich alles leisten können, kriege ich die Krätze. Was haben diese dusseligen Kühe mir voraus, nichts. Sie sind weder schöner noch intelligenter, aber schlau genug, sich den Richtigen zu angeln, warum gelingt mir das nicht. So, Ihr Schlawiner, ich bin gekommen, um zu angeln. Ja ich brauche einen Versorger, scheußliches Wort. Deutsche Sprache ist ohnehin scheußlich, wahrscheinlich die scheußlichste Sprache überhaupt, so brutal, so… so gewöhnlich, ach, zum Teufel damit. Sobald man anfängt, Deutsch zu reden, wird man ordinär. Quatsch, ich bin wirklich ein Quatschkopf und mir juckt es überall. Fände ich den Richtigen so wird er mir die Wünsche von den Augen lesen, dafür darf er mich beschnuppern, ich biete viel mehr als ich nehme, bin wirklich ein fairer Mensch. Jetzt drehe ich mich ein wenig um und mache den obersten Knopf meiner Bluse auf und wenn das nichts bringt, gehe ich nach Hause.“ Sie tat es und warf einen kurzen Blick in die Öffnung, „Donnerwetter! Das ist ja zum Mäusemelken. Ich nahm die Blicke zur Kenntnis und dachte bei mir: wen nehmen wir denn? Heute nehme ich den da drüben, sieht blöd aus, aber das sind doch alle Männer. Würde ich auf einen Mann warten, der Geld und Verstand hat, da kann ich lange warten bis ich alt und grau bin. Die meisten haben weder das eine noch das andere. Es ist entschieden, Lenchen, und jetzt an die Arbeit. Ja, Arbeit ist es in der Tat…“, stöhnte sie. Doch sie bewegte sich nicht vom Fleck, sah auf die Uhr, dabei war es ihr völlig gleichgültig, wie spät es war, sie tat so, als ob sie auf jemanden wartet und gab sich Mühe, desinteressiert in die Runde zu blicken. „Zuerst saß ich artig an meinem Tisch und bestellte mir ein Glas Wein und war überrascht als kurze Zeit später der Mann, der an der Theke lehnte und nicht der Kellner mir das Getränk brachte.“

„Ich wusste gar nicht, dass Sie der Kellner sind.“

„Bin ich auch nicht.“

„Dann gehört Ihnen die Kneipe?“

„Nein, natürlich nicht. Ich arbeite hier.“

„Als was denn?“

„Arbeiten ist auch nicht richtig. Weißt du…“

„Seit wann duzen wir uns?“ unterbrach sie ihn und zeigte sich verärgert. ‚Hält er mich für eine Dirne, der Ochse!‘ Lena fühlte sich zutiefst beleidigt. Sie wanderte mit den Augen hin und her als suche sie einen Retter und dachte: ‚von so einem darf man kein Benehmen erwarten, der weiß vermutlich gar nicht, was Benehmen ist‘.

„Ach, ich bitte vielmals um Verzeihung, war nicht so gemeint.“ ‚Na, also es geht doch, jetzt fängt er an zu kriechen, der blöde Hammel‘.

„Also, da drüben hinter der Theke ist ein Raum, eine Art Casino, wo die Leute Karten spielen. Da spiele ich manchmal ein bisschen mit. Darf ich die Schöne Frau Gesellschaft leisten?“

„Der schönen Frau.“ Er schaute sie verständnislos an.

Mit ihrem forschenden Blick versuchte Lena ihr Gegenüber zu entschlüsseln: ‚schauen wir mal, was für ein Heini der ist. Auf den ersten Blick würde ich sagen: ein Schlawiner. Man kann sich aber auch irren. Ja, man schon, aber ich doch nicht. Ich irre mich nie‘. Sie kippte den letzten Schluck aus ihrem Glas in sich hinein, und überlegte, ob sie ihm erlaubt, Platz zu nehmen.

„Dann setz dich“, sagte sie und bemühte sich, desinteressiert zu wirken. Er starrte sie die ganze Zeit an, als sähe er eine Erscheinung, dann setzte er sich hin und sagte: „ich muss meine Unhöflichkeit wieder gutmachen, lass mich die…, ich meine Sie, Ihnen…“ Er verhaspelte sich und sein langsam arbeitendes Hirn sortierte die Worte hin und her. Lena grinste vergnügt und fand ihn irgendwie süß. Dass er ein Kanake ist, war ja klar aber das störte sie wenig. „… ein Getränk spende, spendieren.“ Lena lächelte und dachte: ‚Na, wenn das kein Esel ist, fresse ich einen Besen‘. „Gut“, sagte sie „ich nehme einen Cocktail.“ Er bestellte für sie einen Cocktail und für sich ein Glas Wein. Von der Art wie er den Kellner herbeiwinkte und die Bestellung aufgab, merkte sie, dass er hier ein Stammgast ist und nicht nur einer, der zwischendurch ein bisschen mitspielt.

„Wo kommst du her, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin Türke und heiße Mustafa.“

‚Ach du lieber Himmel, auch das noch. Wenigstens weiß ich, wo die Türkei liegt‘. Sie dachte daran, wie sie einen Mann kennenlernte, der ihr sagte er sei Marokkaner und sie zu grübeln anfing ‚wo zum Teufel ist das denn? Afrika oder so was in dem Dreh, kann auch Asien sein‘. Die Getränke kamen, sie prosteten sich zu und Lena nahm den ersten Schluck und stöhnte: „Wow, der schmeckt aber lecker. Ich glaube, das ist eine Hausspezialität.“ Mustafa nickte zufrieden.

„Sag mal, heißen alle Türken Mustafa?“

„Wie kommst du darauf? Wie viele Türken kennst du denn?“

„Keinen einzigen.“

„Siehst du.“

„Aber man hört es doch öfter, so wie Mario bei den Italienern.“

„Der Name ist eher selten. Bei den Arabern kommt er öfter vor.“

„Und was machst du so beruflich“, fragte sie, nicht aus Interesse, sondern nur um überhaupt etwas zu sagen. Mustafa war das ein wenig unangenehm. Bei der Frage fühlte er sich immer unwohl. ‚Verdammt noch mal, dachte er, warum sind Frauen immer so direkt. Diese dümmlichen Ziegen. Warum fragt sie nicht, wieviel Geld ich in der Tasche habe‘. So zögerte er lange, dann sagte er: „nichts Bestimmtes.“

„Was heißt das, nicht Bestimmtes?“

„Dies und das. Ich bin noch auf der Suche…“

Das hat mir noch gefehlt, dachte sie „und was suchst du so?“

„Von Beruf bin ich eigentlich Wasserinstallateur.“

„Das ist doch ein toller Beruf.“

„Ja schon, aber sie wollen keine Kanacken haben.“

„Wer ist sie?“

„Die Firmen.“

„Dann mach dich doch selbständig. Wasserinstallateure werden immer gebraucht.“

„Dazu habe ich keine Lust mehr, habe lange genug in dem Beruf gearbeitet. Dieses auf dem Boden hocken und bei den anderen die Scheiße wegräumen… es bringt nicht viel, man will ja auch ein bisschen leben.“

‚Scheiße‘, dachte Lena ‚der Mann gefällt mir. Genau mein Typ. Pfeift auf Karriere und will das Leben genießen ohne sich anzustrengen. Er hat meine Lebensphilosophie kapiert, ohne von mir unterrichtet zu werden‘.

„Warum denn nicht, als Wasserinstallateur kann man doch gut verdienen.“

„Mag sein, aber ehrlich gesagt, der Beruf geht mir auf die Nerven.“

Sie schaute ihn genauer an und wunderte sich, dass einer, der gar nicht arbeitet so schick angezogen sein kann. Sie war überzeugt, dass er lügt, ‚aber wo gibt es bitteschön einen Mann, der nicht lügt. Ist er ein Kanacke, dann kann er eigentlich gar nicht anders. Egal, der Halunke verdient jedenfalls sein Geld woanders und das allein macht ihn interessant‘. Sie wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und der Sache gleich beim ersten Mal auf den Grund gehen und war froh, dass ihr Türke von allein das Thema wechselte.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

„Ich war schon ein paar Mal hier, mal allein, mal mit einer Freundin. Du bist anscheinend Stammkunde hier.“

„Na ja, Stammkunde würde ich nicht sagen. Wie gesagt, am Spielkartentisch spiele ich ab und zu mit. Habe übrigens ein glückliches Händchen, echter Spieler bin ich jedoch nicht.“ Über seine eigentliche Aufgabe schwieg er, doch Lena wusste sofort, was Sache ist. Der Schickangezogene verdient leicht sein Geld, wie man auch das Wort ‚Leicht‘ definieren mag. ‚Eigentlich genau was ich suche. Soll er von mir aus, die anderen betrügen und an der Nase herumführen, wenn sie dumm sind, dann verdienen sie es auch, und wenn er mit Drogen handelt, na und. Wer freiwillig krepieren will, soll krepieren. Gibt es einen besseren Ort, mit Drogen zu handeln als am Spieltisch?‘ Sie wechselten das Lokal, die Köpfe wurden immer schwerer und die Gespräche hatten gar keinen Inhalt mehr. Um 3 Uhr brachte er sie nach Hause, sie bat ihn herauf und sie liebten sich, bis es tagte. In den nächsten Wochen wiederholte sich die Prozedur mehrere Male.

Lena schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlaf. Als sie aufwachte, waren die letzten Sonnenstrahlen verschwunden.

Ihre Katze, Tapsy, schlich sich an sie heran, Lena spielte mit ihr eine Weile, liebkost sie, die Katze fühlt sich sichtlich behaglich. „Ja, Katze, du kannst wirklich froh sein, dass du kein Mensch bist. Du weißt gar nicht, was dir dadurch an Gemeinheiten erspart geblieben ist. Glaube mir, wenn ich könnte, würde ich mich sofort in eine Katze verwandeln. Was meinst du, sollen wir nicht tauschen? Nee, für eine kurze Weile nur. Wusste ich doch, dass du ein kluges Tier bist. Stell dir vor, du wärst Mitglied meiner Familie. Kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein Höllenleben ist. Meine Familie hat mich zugrunde gerichtet. Sie hat mich krankgemacht, diesen Zustand, in dem ich mich befinde, verdanke ich meiner Familie. Ich war ein verwahrlostes Kind. Habe zwar nie Hunger erleiden müssen, aber was ist das schon verglichen mit der inneren Verwahrlosung. Die Eltern arbeiteten den ganzen Tag wie Feldochsen, tagein tagaus immer das gleiche. Täglich standen sie im Laden und verkauften Fische und Salate. Nach Fisch stinkend kamen sie abends nach Hause, völlig kaputt, völlig fertig. Ich glaube, sie haben vergessen, dass sie eine Tochter haben. Sie sagten nie etwas zu mir, waren einfach nur froh, nicht reden zu müssen. Für sie war ich Luft. Das ist nicht ganz richtig, denn mein Vater liebte mich. Öfter nahm er mich auf seinen Schoß und spielte mit mir, er streichelte mir die goldenen Haare und küsste mich. Lange dauerte der Spaß aber nicht, er war erschöpft und wollte schlafen. Mit Lisa, meiner dämlichen Schwester, hat er nie gespielt oder sagen wir selten. Meine Mutter dagegen nahm meine Anwesenheit gar nicht wahr, und sprach sie zu mir, dann in dem herrischen, befehlenden Ton, den die meisten Eltern draufhaben: ‚mach das, lass das sein, benimm dich, wie redest du denn, nimm die Füße runter, du bist starrköpfig wie ein Esel‘. Ich hatte nie einen Esel gesehen und einen starrköpfigen Esel schon gar nicht. Stellte mir den Esel wie einen kleinen Elefanten vor, oder doch wie ein Pferd. ‚Man sollte dir den Hintern versohlen‘. Na, Tapsy, kannst du dir das vorstellen, diesen kleinen, herrlichen, knackigen Hintern! Die Mutter stöhnte: aus dem Kind wird nichts. Und? Ist aus dir etwas geworden, du Arbeitstier? Die Eltern überließen uns Tante Käthe, der Schwester meines Vaters. Gut, dass mein Vater überhaupt eine Schwester hatte, die auf mich aufgepasst hat. Sie war gütig, aber eben eine Altjungfer, die mit so einem kleinen, hübschen…, was guckst du so, gefällt dir das Wort nicht? Ich war hübsch, ich war sogar sehr hübsch, wenn ich mal Zeit und gute Laune habe, zeige ich dir ein paar alte Fotos. Du wirst staunen, wie hübsch ich war. Wo sind wir stehengeblieben? Ach ja. Ich war hyperaktiv und die Tante war völlig überfordert. Sie hat getan, was sie konnte und langweilte mich zu Tode. Hätte ich eine andere Familie gehabt, eine Familie mit einer sagen wir, künstlerischen Ader gehabt, was glaubst du, was aus mir geworden wäre! Komm, sag jetzt was du denkst? Wenn du nichts sagst gibt es heute kein Wiskas“. Die Katze verstand die Warnung und miaute. „Ich hatte gespürt, dass ich künstlerisch begabt bin, ich wusste zwar nicht genau auf welchem Gebiet meine Begabung am stärksten war, aber dass sie da war, spürte ich innerlich und nun diese Familie, die ein Theater von einem Pferdestall nicht unterscheiden kann. Ach, warum ist das Leben immer so ungerecht, warum hatte ich nicht andere Eltern gehabt?“ Tränen standen ihr in den Augen. „Warum muss ich mich mit der Viererbande quälen? Kennst du die Vierbande? Das sind meine Mutter und ihr Mann, meine Schwester und deren Mann. Der Teufel soll sie alle holen. Sie sind die bösartigsten Menschen auf Gottes Erden. Jetzt verstehst du, warum ich die halbe Nacht wachbleibe. Wie soll ich schlafen, wenn ich über dieses verkorkste Leben nachdenken muss? Komm lass uns an den PC setzen und ein paar Gedanken in die Tasten hauen. Weißt du, mit den Gedanken ist es so eine Sache, die muss man sofort festhalten. Wenn du eine Maus siehst, bist du auch wie der Blitz hinterher, nicht wahr?“ Beim Wort Maus hob die Katze den Kopf in die Höhe, richtete den Schwanz auf wie eine Antenne, schaute sich um und war bereit zum Sprung. „Nein, du Dummchen, da ist jetzt keine Maus da. Aber mit den Gedanken ist es genauso, sie tauchen blitzschnell auf und verschwinden schneller als eine Maus. Mein eigentliches Problem ist, dass ich so schnell denke. Der Stift ist zu langsam für mich. Ich brauche einen Apparat, der diese Gedanken schon im Entstehen festhält, sobald sie im Hirn schwirren, hält er sie fest. Ich hätte ganze Bände mit meinen Gedanken füllen können. Patsy, was glaubst du, was ich bin? Na, komisch, ich vergesse immer wieder, dass du nicht reden kannst. Ich sage es dir, ich bin eine Denkerin. Ich denke, ich denke Tag und Nacht, und je mehr ich denke, desto widerlicher finde ich die Menschen, vor allem meine Familie. Aber ich merke, wir schweifen wieder ab. Ich würde dir gern einen Schluck Wein anbieten. Wo waren wir, ach bei der Tante, also wie soll eine Altjungfer, die nie einen Mann gehabt hat… ist das nicht gruselig? Sie hat sich nie vor einem Mann ausgezogen, sich von ihm streicheln lassen. Die Arme, was ist das für eine Scheißleben! Also diese Mannlose Frau sollte mich erziehen. Mich kann man überhaupt nicht erziehen. Ich habe früher gelebt, ich war… ich war entweder ein Model oder eine Prinzessin, ich kam erzogen zur Welt, deswegen war ich für diese mickrigen Kreaturen eine Zumutung. Ja, Patsy, ich bin eine Zumutung und die Tante hat mir aufrichtig leidgetan. Was sollte sie machen mit so einem aufgeweckten Kind? Und weißt du, was das Allerallerschlimmste war, dass man ihr später alles in die Schuhe geschoben hat: du hast das Kind verzogen, warst sehr nachsichtig, hast das Kind verhätschelt... und so weiter. Gut, ich gebe zu, leicht war ich nie, wie sollte ich. Wenn einer, sagen wir, ein anderes Niveau hat, also intelligenter ist als andere, dann hat er oder sie es nicht leicht mit dieser ganzen dumpfen Mittelmäßigkeit um sich herum zurechtzukommen. Er muss schon einiges einstecken. Pflegeleicht war ich nie und die Arme hat ihr Bestes gegeben. Ich bedurfte andere Eltern, sensible, künstlerisch begabte Eltern, aufgeschlossene, einfach intelligentere Eltern. Wie kann es überhaupt sein, dass dumme Eltern ein intelligentes Kind haben? Das muss eigentlich verboten werden, man richtet das arme Kind damit zugrunde. Ich begreife das nicht, ich begreife nicht, wo diese Intelligenz herkommt, vom Vater nicht und von der Mutter noch weniger? Und wie ist deiner Meinung nach die Schlussfolgerung? Genau, hier stimmt etwas nicht. Patsy, ich würde mich nicht wundern, wenn es herauskommt, dass sie mich im Krankenhaus verwechselt haben, dass ich das Kind ganz anderer Eltern bin. Bestimmt ist mein Vater ein Uni-Prof., ein Chefarzt, ein Bankdirektor, oder ein Minister, das spüre ich. Diese Unstimmigkeit habe ich sofort nach der Geburt empfunden, ich würde nicht sagen, gleich am ersten Tag, aber in der ersten Woche schon, und da fing ich an, zu schreien. Ach, ich möchte so gern lachen aber ich kann es nicht, was für ein verdammtes Leben! Und angenommen, diese doofen Eltern sind doch meine, was wäre aus mir geworden, wenn ich die nötige Förderung gehabt hätte, wenn irgendeiner rechtzeitig, meine Fähigkeiten, meine Intelligenz erkannt hätte? Stattdessen hatte ich die zwei Arbeitstiere als Eltern, sie sparten und sparten, um ein Häuschen zu kaufen oder zu bauen. Das war ihr Ziel. Das war der Sinn ihres Lebens. Ist das nicht schauderhaft? Aber so denken Spießbürger immer. Sie wollten es »zu etwas bringen«, erfolgreich sein, den anderen zeigen, schaut her, wir haben es zu etwas gebracht, lobt uns, bewundert uns. Wie ich dieses Wort »zu etwas bringen« verabscheue! So ließen sie mich dahinvegetieren, sie traten meine Seele mit Füßen, diese Trampeltiere. Ich sah sie nicht als Förderer, sondern als Feinde, verabscheute ihr ganzes Leben, wurde immer bockiger und nahm mir vor, bloß nicht so werden wie sie. Die Außenwelt nahm ich als mir übelgesinnt wahr. Ich spürte innerlich, bei diesen Eltern gehe ich zugrunde, auch wenn ich mich damals nicht so artikulieren konnte. Und die Tante? Gott habe sie selig.

Ich habe noch eine zweite Tante. Tante Dorit, meine Tante mütterlicherseits, ist eine auf Ausgleich bedachte Herzensseele. Sie glaubt ernsthaft an das Gute im Menschen, dabei braucht sie sich nur im Familienkreis umzuschauen. Für jede Untat findet sie eine Entschuldigung, nicht verwunderlich, dass sie ein paar Mal in ihrem Leben auf die Schnauze fiel und übern Tisch gezogen wurde. Na ja, wenn man so naiv ist und an Schiller und die ganze Scheiße glaubt, was soll schon draus werden? Sie ist eine Schiller-Verehrerin, wenigsten tut sie so. Anlässlich seines 200. Todestag, der im Fernsehen großgefeiert wurde, kamen wir auf diesen Heilkünstler zu sprechen. Bisher hatte ich mich nie dafür interessiert, für Politik auch nicht und von Schiller kannte ich praktisch nur seinen Namen und die Schillerstraße irgendwo in Wilmersdorf oder Charlottenburg. Ich wusste auch nicht, wo diese Aversion gegen ihn herkommt, womöglich von meinem Stiefvater, vom braunen Herr Braun, der schwärmt auch so von ihm. Was dieser Mistkerl liebte, hasste ich instinktiv und was er hasste, liebte ich. Wir standen immer auf Kriegsfuß. Wie gern hätte ich mich mit ihm duelliert, um die Welt von dieser Seuche zu reinigen.

Jedenfalls sagte mir Tante Dorit am Telefon, ich muss unbedingt die Bürgschaft lesen. Sie schwärmte: ‚ach, wenn ich die Bürgschaft lese, kommen mir jedes Mal die Tränen‘, wie kann man bloß so bekloppt sein? Gut, sagte ich, mache ich, wenn ich dir damit eine Freude machen kann und ich las sie, nur um der guten Seele einen Gefallen zu tun. Oh Gott, wie gruselig! dieses vermenschlichte Gequassel, diese geschwollene Sprache, dieses gewollt Gereimte, dieser Sinn- und seelische Tiefgang, nur um die Zeilen zu füllen, gefiel mir überhaupt nicht. Was der Autor uns zum Thema Treue und Mut sagen wollte, ließe sich ja auch mit weniger Pathos und Künstlichkeit anders erzählen. Aber nein, dieser großtuerische Reimkünstler redet von Leidenschaft und von der Hingabe des Herzens für die Treue aber so, dass es kein Herz berührt und keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Alles schien mir so gespielt, so aufgesetzt wie eine Predigt in der Kirche und diente nur dazu, das Ego des Autors zu befriedigen. Ich habe nie viel übrig gehabt für Gefühlsduseleien. Schiller ist für mich niemand, der mir was mitteilen kann, was ich nicht selber wusste, also reine Zeitverschwendung! Zum Zeitvertreib oder aus intellektuellen Gründen sich Schiller reinzuziehen, ob auf der Bühne oder als Buch, also wirklich, bin ich denn verrückt, um mir das anzutun? Ich habe besseres zu tun, viel Interessanteres, was ich als geistreicher empfinde, zum Beispiel selber nachdenken. Oder muss man Schiller gelesen haben, um mitreden zu können? Aber mit solchen Leuten will ich doch gar nicht reden, mit denen, die nur angeben wollen und sagen: Ich kenne alles von Schiller und sonst nichts zu sagen haben, weil sie eigentlich nichts wissen und lieber denken lassen und das Gedachte nur konsumieren wie Leckereien.

Unerträglich langweilig war zum Schluss eines langen Fernsehtages, eine Aufführung von Schillers »Wilhelm Tell«, für mich sinnloses Zeitvertrödeln, ich konnte es nur kurz aushalten und habe dann umgeschaltet, um nicht trübsinnig zu werden. Was soll der Mensch aus solch einem Mist, den man Kunst nennt, lernen? Schiller muss ein sehr eitler, nur nach Anerkennung strebender Mensch gewesen sein, dem es weniger um Weisheit, als vorrangig um seinen eigenen Ruhm und die Ehre ging, ein Ego-Mensch, nennt man sowas. Ihn als Genie zu bezeichnen, na also wirklich! Ein Edler, im Sinne von Weise, war er bestimmt nicht, nur einer der die Sinne befriedigen wollte. Welcher Sinn des Menschen ruft stärker nach Sättigung, als das menschliche Ego, welches in seinem Kopf spukt und sich im ständigen Widerstreit zu seiner im Herzen wohnenden Seele befindet? Am Ende siegt meist das Ego über das Herz, aber dann ist auch alle Kunst leer und tot, seelenlos. Instinktiv wollte ich von dem nie was hören oder wissen, jetzt weiß ich warum. Erstaunlich, wie sehr einmal erreichter Ruhm zum Selbstläufer wird und die Menschen über Jahrhunderte hinweg zu blenden vermag, ohne kritisch hinterfragt zu werden, wie im Falle von Schiller und Goethe. Weiser bin ich von all dem Wissen, was ich bei diesen sinnlosen Feierlichkeiten angeschaut hatte, nicht geworden; denn ich weiß und wusste schon immer aus mir selbst heraus, was Weisheit ist und wo sie zu finden ist. Das zeigt sich immer mehr und wird mir immer bewusster; es bestätigte sich, zu meiner Verwunderung, ständig aufs Neue, dass wahres Wissen nur durch eigenes Nachdenken wächst und reift und nicht gelernt werden kann, wie Schreiben, Rechnen oder das Brezelbacken. Ich war beruhigt, vor allem darüber, dass ich bisher nichts Wesentliches versäumt habe, ich fand nichts, was ich für meine Persönlichkeitsentwicklung gebraucht hätte, im Gegenteil, die ganze Schillerlei hätte mir eher geschadet und meinen Freigeist verkleistert.

Anstatt Schiller und den ganzen Abfall sollte sich Tante Dorit lieber um ihre Haare kümmern. Ja, sie muss sich ihre Haare färben lassen, als sich immer die doofe Dauerwelle zu machen, die die Haare noch zusätzlich stumpfer macht. Sie ist ein Herbsttyp, warme Farbtypen bekommen viel später und weniger graue Haare, aber leider sehr unschön und immer mit einem Gelbstich. Aber es hat keinen Sinn mit den Leuten zu reden, so sieht sie immer wie eine graue Maus aus. Ich rede mir seit 30 Jahren Fusseln an den Mund und habe mich mit ihr schon des Öfteren richtig in den Haaren gehabt, weil sie absolut beratungsresistent ist, was ihre Haare angeht. Ständig lässt sie sich diese Oma-Dauerwellen machen und schon so manches Mal hatte sie nur noch Sauerkraut auf dem Kopf. Das schlimme ist, dass sie das aus Eitelkeit tut, weil sie gut aussehen möchte. Sie merkt es aber einfach nicht, dass sie damit richtig altmodisch und zurückgeblieben aussieht. Nur einmal vor ein paar Jahren hatte sie sich die Haare kurz schneiden lassen, weil mal wieder eine Dauerwelle ihre Haare komplett versaut hatte. Ich fand, mit dem Kurzhaarschnitt sah sie richtig gut aus. Sie findet sich aber zu herb mit dieser Frisur, meint das passt nicht zu ihrem Gesicht. Was soll ich bloß mit ihr machen? Ja, Tapsy, ich muss immer leiden.“ Tapsy knurrte.

Lena will sich ein Glas Wein eingießen und stellt fest, dass die Flasche leer ist. „Oh Gott!“, stöhnt sie, „habe ich denn die ganze Flasche getrunken und bin immer noch nicht besoffen. Das soll mir einer nachmachen.

Bei mir ist es so, im Suff bin ich genauso wie sonst auch, etwas redseliger und mutiger, da sage ich, was ich denke, noch deutlicher. Ich war schon immer zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch im Suff sein wahres Gesicht zeigt, weil die Mechanismen der Eigenkontrolle, bzw. der Schauspielerei ‚out of order‘ sind. Vor Jahren sah ich mal eine sehr bekannte Schlagersängerin im Fernsehen erklären, dass ihr Ehemann eigentlich ein ganz lieber Mensch sei, er darf nur keinen Alkohol trinken, dann wird er nämlich gewalttätig usw. das ging durch die Presse. Ich dachte mir, als ich das sah, was redet die sich da ein, der ist in Wirklichkeit ein Fiesling und ein Drecksack. Die macht sich was vor, wenn sie denkt, dass er im nüchternen Zustand ein sehr anständiger und guter Mensch ist. Alles Schauspielerei, Schätzchen. Für mich ist Suff keine wirkliche Entschuldigung für Fehlverhalten, insbesondere nicht für Gewalttätigkeit und ich finde es völlig absurd, dass es im Strafrecht dafür Strafmilderung gibt. Umgekehrt kann ein Mensch, der gerne den harten Kerl raushängen lässt, der oft gereizt ist und böse Worte sagt, eigentlich ein sehr gutherziger Mensch sein; denn, wenn er etwas trinkt, ist er der liebste, lustigste und freundlichste Mensch, den man sich denken kann und weder aggressiv noch böse, Mustafa ist so ein Typ. Allmählich muss ich meine Weisheiten sammeln und unter die Menschen bringen, findest du nicht auch?

Tapsy hör jetzt gut zu, ich habe eine unlösbare mathematische Aufgabe für dich. Ich brauche unbedingt was zum Anziehen. Da mein Körper jetzt keine Konturen mehr kennt, ich habe das Gefühl, jeder Teil macht inzwischen was er will, brauchen wir für Bauch und Taille Größe 46, kann auch bisschen mehr sein, für den Arsch würde Größe 40-42 passen. Wie kriegen wir das hin? Ich trage nur noch Hosen mit elastischem Bund, wie du siehst, was oben passt, passt unten nicht und umgekehrt. Also strenge dich an. Ich habe gehört, im Alter wird man immer dünner, es besteht also noch Hoffnung für mich. Hi, hi, hi. Aufs Kleinerwerden kann ich getrost verzichten. Ich denke aber, bis ich noch mehr schrumpfe, bin ich schon tot. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht so alt werde wie meine Mutter. Sie ist mit ihren 86 Jahren noch sehr unternehmungslustig und wenn es sein muss, sogar spontan. Aber ich? Ich habe weder Energie noch Spontaneität, um mich mal eben mit jemandem zu treffen, brauche ich wenigstens eine Stunde fürs Duschen, Zähneputzen, Anziehen, aber ohne Schminken oder Toilettengang. Verglichen mit mir, geht meine Schwester als schlank durch. Sie trägt, glaube ich, Gr. 40, aber ihre Problemzone ist halt der Bauch, sieht oft wie schwanger aus und neuerdings auch der Po. Manchmal schafft sie es abzunehmen, aber die Kilos kommen immer wieder zurück. So fett wie ich jetzt bin, ist sie allerdings nie gewesen. Ein bisschen neidisch bin ich schon, mit diesem Geständnis würde ich ihr sicherlich eine große Freude bereiten.

Wir könnten bei Ebay herumschnuppern. Du weißt ja ich bin seit vielen Jahren Stammkunde, dort habe ich Klamotten gekauft und verkauft und viele schlechte Erfahrungen gemacht, besonders bei privaten Verkäufern, deshalb hatte ich schon oft Zoff mit den Halunken, die sich dort herumtummeln. Mittlerweile besteht aber mein halber Haushalt aus Gegenständen, die ich bei Ebay gebraucht gekauft habe: Tisch, Stühle, Schränke, Sessel, Bilder, Schreibtisch, Regale, Lampen, Betten, Küchenutensilien, Geschirr, Gläser, Besteck etc. Bei technischen Sachen bin ich vorsichtig, es gibt zu viele, die bescheißen und dir Schrott andrehen. Meine alten Klamotten, die mir seit geraumer Zeit nicht mehr passen, bin ich dort losgeworden, aber auch Möbel und Hausrat. Das Einstellen macht immer sehr viel Mühe, gute Beschreibung und gute Fotos… alles ist sehr zeitaufwändig.“

*

„Ich fahre Türkei,“ sagte Mustafa.

„Und ich fahre Audi“, sagte Lena und schaute ihn lächelnd an, aber Mustafa blieb stumm und wusste nicht, was daran lustig sein soll.

„Die Türkei ist kein Pferd, du Hammel.“

Fanus fühlte sich verpflichtet, seinem Leidgenossen beizustehen und sagte: „Sei nicht so gehässig.“

„Der gibt sich aber auch überhaupt keine Mühe.“

„Die Kommunikation leidet trotzdem nicht darunter. Viele Ausländer sind fähig mit wenigen Worten eine ganze spannende Geschichte zu erzählen. Wenn einer sagt: ‚Ambulanz kommt‘, verstehst du trotzdem was er sagen will: dann ist die Feuerwehr eben gekommen. Das Hauptproblem liegt meines Erachtens darin, dass viele Ausländer von Beginn an alles, oder sagen wir fast alles, falsch lernen und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, das Falschgelernte später loszuwerden. Gerade wenn man als Ungelernter irgendwo unterkommt und das ist bei den meisten häufig der Fall, ist man sozusagen sprachlich halbverloren. Die Eingeborenen entwickeln nämlich eine Sprache, die die Linguisten »Foreigner Talk« nennen. Sie ist eine speziell für Ausländer präparierte Sprache. Man stellt sich auf das Niveau des Unbeholfenen und redet mit ihm so, wie man mit einem Geisteskranken redet. Da wird die Sprache von allem gereinigt: die Grammatik wird auf das Wesentliche reduziert oder verschwindet ganz, ‚du machen das, du nix verstehen‘. Da wundert man sich auch nicht, wenn ein Beamter fragt: ‚Du… Land,‘ anstatt zu fragen: wo kommst du her? Oder: ‚du… Frau?‘ anstatt, bist du verheiratet? … und so weiter. Wobei natürlich zu beachten ist, dass er denjenigen, der vor ihm steht, duzt. Ein Sprachloser hat den amtlichen Respekt nicht verdient, scheint in seiner Beamtenseele eingemeißelt zu sein. Es wird also alles getan, damit der Schafskopf die Worte in seinen Schädel bekommt. Die Eingeborenen werden essentiell. Nachdem ich einiges gelernt und mich getraut hatte, den Mund aufzumachen, stellte ich später zu meinem Entsetzen fest, dass alles falsch war und es unmöglich ist, das Schiefgetretene ganz auszumerzen, es schimmert immer wieder durch.“

„Aber die müssen doch wissen, dass sie ohne Sprache in diesem Land nicht die Spur einer Chance haben,“ sagte Lena.

„Ja, natürlich. Aber erstens haben sie andere Sorgen und zweitens wird es auch bei einem besseren Sprachstand bei diesem ‚nicht die Spur einer Chance‘ bleiben.“

Eigentlich war Lena immer tolerant und schaute, im Gegensatz zu Herrn Braun, auf Fremde nie von oben herab. Sie war freizügig, aufgeklärt und liberal, vielleicht weil sie sich selber stets in einer Abwehrstellung befand. Trotzdem verfügte sie über ihren Mustafa, den sie liebevoll »meinen Kümmeltürken« nannte, nach Belieben, sie sah ihn als ihr Pferd an, auf das sie steigt, wann und wo sie möchte. Sie bestimmte, wann er sich ihr nähern darf, wann er sie lieben durfte und auf welche Weise. Sie stellte die Spielregeln auf und hatte im Haus die Hosen an. Je bettlägeriger, je abhängiger sie von ihm wurde, umso herrischer wurde sie. Der Mann verlor völlig seine Selbständigkeit und tat nur noch, was ihr gefällig war. Er war fügsam wie Tapsy, ihre Miesekatze. Er erfüllte alle seine Pflichten, fühlte sich aber zunehmend unwohl zu Hause und nutzte jede Gelegenheit, aus der Wohnung zu fliehen. Die einzigen vergnüglichen Stunden für ihn waren jene, die er mit einigen seiner Landsleute verbrachte, wo sie sich über Albernheiten vergnügten, Backgammon spielten, Tee aus kleinen Gläsern tranken und Wasserpfeife rauchten. Selten war ein ernsthaftes Thema der Gegenstand einer Unterhaltung. Normal mit Lena reden konnte Mustafa ohnehin nicht. Sein holperiges Deutsch brachte sie zum Lachen und sie fing an, ihn zu korrigieren. Er fühlte sich von ihrer Schulmeisterei genervt, fasste die gutgemeinte Hilfe als Kritik und als Respektlosigkeit auf. Nachdem Lena sich zur Hüterin der Sprachregeln aufschwang, merkte sie bald, dass alles vergeblich war. Mustafa interessierte sich nicht dafür und so blieb er, was er war, sprachlos aber liebenswürdig.

Noch unwohler als zu Hause fühlte sich Mustafa bei Familientreffen. Er saß da mit breitem Lächeln und wirkte dabei, als sei er just in dem Moment völlig verblödet. An der Diskussion nahm er selten teil, was hätte er auch sagen sollen! Das ganze Geplapper ödete ihn an und am liebsten wäre er aufgestanden und hätte das Weite gesucht. Weggehen traute er sich aber nicht, Lena hätte ihn mit einem Blick zur Räson gebracht und so saß er bequem in seinem Sessel, aß und trank und schien auf den erlösenden Moment zu warten, wenn der Gong schlägt und den Zirkus beendet. Das Schönste am Beisammensein war für ihn das Zeichen zum Aufbruch. Es war die Bequemlichkeit eines Gefangenen, eines Gefesselten, der mit Leckereien gefüttert wurde. Er blickte sich um und stellte fest, eigentlich verabscheue ich alle, fast alle. Seine Lena liebte er nach wie vor und ihre jüngere Tante fand er halbwegs sympathisch, ansonsten könnte ihm die ganze Bande gestohlen bleiben. Erst nachdem Franz gestorben war, entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zu Helga, seiner Schwiegermutter. Im Familienkreis hatte er immer das Gefühl, er erfülle seine Pflicht bei einer Beerdigung, bei der er nicht einmal den Toten kennt. Wie hätte er auch fröhlich sein können in einem Haus, in dem er nie ein fröhliches Beisammensein erlebt hat? Immer gab es Zoff und Streit, über eine Lappalie schaukelte sich alles hoch. Jeder und jede spielte den Wissenden und wollte, koste es, was es wolle, unbedingt Recht behalten. Sie sprachen laut und eindringlich, sie prahlten mit Wissen und Halbwissen, warfen mit Namen um sich und taten so, als säßen sie Tag für Tag am Schreibtisch und wälzten dicke Bücher. Nie gab es eine gelöste Atmosphäre, eine entspannte, lässige Plauderei. Die Themen waren massig, schwerfällig, für Mustafa ungenießbar und unverdaulich und er fragte sich: „wollen diese Leute heute unbedingt alle Weltprobleme lösen? Oder wenn sie dauernd das Wort prinzipiell verwendeten, bestehen sie etwa nur aus Prinzipien? Ich will ja auch Prinzipien haben, aber ich weiß gar nicht, wo man sie bekommt, kauft man sie in Tüten oder in Kartons? Ich werde im KaDeWe nachfragen, entweder geben sie mir welche oder sie holen den Wachschutz. Herr Gott, nee. Nein, Unbeschwert-sein können sie nicht. Diese Belasteten, von der Schwere ihrer Schuld Niedergedrückten quälten sich und marterten andere. Sie berauschten sich am Erfolg, wollen immer die ersten, die Besten sein, als wäre der Erfolg für sie ein Betäubungsmittel oder eine Beruhigungstablette.“

Mustafa hatte eine schwere Kindheit, er wuchs in einem kleinen Dorf in Ostanatolien auf. Das Leben war trost- und perspektivlos. Als er ein kleiner Junge war nahm sich seine Oma das Leben. Er sah sie an der Decke hängen, ein traumatisches Erlebnis, das ihn später nie verließ. Ende der siebziger Jahre gelang ihm mit Hilfe von Verwandten die Einreise nach Deutschland. Jahrelang arbeitete er als Wasserinstallateur. Richtig Fußfassen konnte er nicht, er lernte Leute kennen, die ihm die Faszination des schnellverdienten Geldes schmackhaft machten, so geriet er auf die schiefe Bahn, handelte mit Drogen und gewöhnte sich einen verschwenderischen Lebensstil an. Es war die Zeit, in der er Lena kennenlernte.

Mustafa führte in Berlin ein sinnentleertes Leben, er fühlte sich nie heimisch und die einzigen Menschen, seine alte Mutter und seine jüngere Schwester, die ihn herzlich liebten und so nahmen wie er ist, die nie an ihm herummäkelten, blieben in der Türkei. Sie hatten dort ein kleines Stück Land, von dem sie lebten. Mustafa pflegte immer eine gute Beziehung zu den beiden und half ihnen finanziell, insbesondere in der Zeit, wo die Geldscheine seine Taschen füllten. Als seine Mutter im Sterben lag, reiste er sofort in die Türkei und blieb dort bis sie starb. Er stand lange an ihrem Grab und spürte, dass ein Stück seines Lebens mit ihr in die Grube sank. Tieftraurig kehrte er zurück. Als seine zehn Jahre jüngere Schwester starb, brach die Welt für ihn zusammen. Er wusste, dass kein Mensch mehr für ihn da ist, da sein wird, keiner, der mit ihm alle Höhen und Tiefen des Lebens teilt. Er war am Boden zerstört, seine letzte Lebensfreude war dahin. Dann blühte er wieder auf als Helga, seine Schwiegermutter und auch seine Lena pflegebedürftig wurden. Da fühlte er sich gebraucht, als hätte er endlich die Lebensaufgabe bekommen auf die er solange gewartet hat. Er fühlte sich unersetzlich und opferte für die beiden seine ganze Kraft, er kochte für sie, fuhr sie spazieren und besorgte alles, was sie benötigten. Er wurde zum einzigen Lichtblick ihres Lebens. Als seine Lena vor ihrer Mutter starb, schien er nicht wahrhaben zu wollen, was mit ihm geschah und wie grausam der Herr im Himmel sein kann, er stand allein da und blickte verwirrt um sich. Was soll er nun mit sich anfangen? Über Nacht schien er um zehn Jahre gealtert zu sein, die Falten im Gesicht mehrten sich, sein Blick war leer. Er fühlte sich erbärmlich, wirkte verzweifelt und niedergeschlagen.

„Übrigens, Patsy, Fanus, Dorits Ehemann, kommt aus der Wüste und ausgerechnet mit dem hatte ich die wenigsten Probleme. Er ist mir nicht unsympathisch, weil er so ruhig ist und selten was sagt. Bei Familienfeierlichkeiten sitzt er da, lächelt freundlich und sagt nichts. Ich habe mir immer wieder Gedanken darüber gemacht, was er wohl über diesen verrückten Haufen denkt.“

Lena wusste, dass Fanus ein wenig von Literatur versteht, deswegen schickte sie ihm ihre »gesammelten Werke«: Gedanken, Gedichte und Aphorismen… Sie erwartete eine Art »literarisches Gutachten.« Fanus fühlte sich von der Aufgabe völlig gestresst, denn alles war kreuz und quer, unkoordiniert, aufs Geratewohl dahingeschleudert und er wusste nicht recht, sind das ihre eigenen Gedanken oder hat sie hie und da abgeschrieben; denn sie pflegte das, was ihr aus dem Internet gefällt, zu kopieren und einzufügen ohne sich Gedanken über Quellenangaben zu machen. Fanus wollte ihr gern ein paar nette Worte schreiben, um sie aufzumuntern, weiterzumachen, damit sie sich ablenken und ihr Leid zumindest für eine Weile vergessen kann, aber er wusste nicht, was er schreiben soll und den Schleimer spielen wollte er auch nicht. Dann schrieb sie noch einmal: „keine Hemmung, schreib, was dir gerade einfällt, ich erwarte alles, aber kein Lob.“ Nach dieser Ermunterung und nach langem hin und her bekam sie diese Mail von ihm: „Ich finde es toll, dass du alles, was dir durch den Kopf geht, zu Papier bringst. Damit setzt du den Prozess der Erkenntnis, ein philosophisches Grundprinzip, in Gang.

Schreibende Menschen sind einsame Menschen, die ihre seelische Not dem Papier anvertrauen. Es ist ein Schrei nach innen, bei dem sie niemanden schonen und am allerwenigsten sich selbst. Das ist aus deiner bisherigen literarischen Produktion nicht zu erkennen. Man spürt hie und da den Schmerz, kann ihn aber als Leser nicht nachempfinden und das ist eine Voraussetzung für eine gute Arbeit. Du gehst wenig aus dir heraus als fürchtest du, dich zu entblößen. Ein guter Autor aber nimmt auf niemanden Rücksicht und, wie gesagt, am allerwenigsten auf sich selbst, man kann sagen, nicht er hat den Stoff im Griff, sondern der Stoff hat ihn. Er steckt den Finger in die eigene Wunde und schildert den Schmerz, den er dabei empfindet. Nur so kann die erhoffte Befreiung und die seelische Reinigung erreicht werden und der Leser muss mitempfinden. Bei dir dagegen spürt man leider die Tendenz, sich erheben zu wollen, sich den Leser, der gern mitleiden würde, vom Leibe zu halten. Du neigst allzu sehr zu moralisieren und das ist für einen literarischen Erfolg die denkbar schlechteste Voraussetzung.

Die schlechten Erfahrungen, die du im Elternhaus gemacht hast, ließen sich durchaus in eine passende literarische Form gießen. Zerrüttete Familienstrukturen in der westlichen Hemisphäre sind als literarischer Stoff ja gang und gäbe, man kann beinah sagen, sie sind der beliebteste Stoff, weil es sich um eine Materie handelt, die die Autoren am besten kennen. Die Prosaform eignet sich gut dafür, aber keine Aphorismen; denn Aphorismen sind eine schwerzugängliche literarische Form, es sei denn, sie kommen so geistvoll, so elitär daher wie bei Franz Kafka, bei Lichtenberg oder bei Nietzsche. Ein Aphorismus ist nach seiner Definition: »Eine pointierte und schlagkräftig formulierte geistreiche Äußerung, die Bekanntes auf eine durchsichtige Formel bringt.« Das sucht man bei dir vergeblich. Es scheint mir so, dass manche Definitionen und geistreiche Formulierungen aus Weisheitsbüchern entnommen worden sind. Ist dies der Fall, muss man sie kenntlich machen. Z.B. der Satz: ‚der Mensch im Allgemeinen hält den Schatten für die einzige Realität, während er die Ursache des Schattens für ein Hirngespinst hält‘, das schrieb sinngemäß schon Platon vor fast zweitausendfünfhundert Jahren, es handelt sich um das berühmte Höhlengleichnis.

Der Begriff »denken« wird an vielen Stellen erwähnt und aus mehreren Perspektiven beleuchtet, dabei kann man über manche Formulierungen nur den Kopf schütteln, z.B. ‚Am Anfang war das Denken‘... das kann unmöglich sein. Wäre Gott ein Denker, hätte er es mit der Schöpfung sein lassen, du sollst stattdessen lieber Faust lesen. Alles wirkt altklug, anmaßend und wie aufgegossen.

Deinen Frust über die verkorksten familiären Verhältnisse kann ich sehr gut nachvollziehen und leide mit dir ein bisschen. Wenn ich schreiben könnte, würde ich darüber eine Chronik verfassen, ohne jemandem nahezutreten. Du schimpfst allzu häufig und schreibst dir den Ärger von der Seele, für einen neutralen Leser ist dies auf die Dauer ätzend. Willst du einen leibhaftigen Teufel in der Familie darstellen, musst du dafür sorgen, dass er sich selbst demaskiert, ihn zu beschimpfen und als eine kleinkrämerische Seele und als Spießbürger hinzustellen, reicht nicht aus, es ist nicht der richtige Weg.

Das Quirlige Deines Wesens machst du zum Qualitätsmerkmal. Wenn Eigensinn eine deiner Charaktereigenschaften ist, so sollst du wissen, dass dieser sich häufig in Starrsinn, Dickköpfigkeit, um nicht zu sagen in Anmaßung, Besserwisserei und Dreistigkeit äußert, und das kann doch unmöglich als Qualitätsmerkmal des Denkens hingestellt werden. Viele Menschen scheitern jämmerlich gerade an ihrer Unfähigkeit, sich Grenzen zu setzen bzw. dieselben zu erkennen.

Ich vermisse deinen Humor. Eine Prise Humor tut jedem Werk gut. Fontane hat Humor als eine »Gemütsbewegung, die das Darüberstehen, das heiter souveräne Spiel mit den Erscheinungen des Lebens ermöglicht« definiert. Humor ist eine »Gabe des Herzens«, sie könnte dafür sorgen, das Verbissene, was du an den Tag legst, zu mildern.

Du schreibst: »Ich dachte! Also schreibe ich…« Nicht alle, die denken, schreiben und nicht alle, die schreiben, sind fähig zu denken. Der unermessliche schriftliche Schund, der tagtäglich produziert wird, ist der beste Beweis dafür.

Dein Motto für die Zukunft »Leute, ärgert mich…« ist milde ausgedrückt lächerlich. Es enthält eine Trotz-reaktion, heimlich gehegte Neid- und Rachegefühle, impliziert Minderwertigkeit, der man dadurch zu begegnen glaubt, indem man sich über sie erhebt. So würde mein Zukunftsmotto nie lauten, ich würde nie schreiben, Leute, ärgert mich, weil ich Material brauche, sondern ich würde mir lautlos das Material beschaffen, ich würde es verarbeiten und in die richtige Form gießen. Im Verarbeitungsprozess kann der Ärger besiegt werden aber nicht, wenn man ihn hinausbrüllt. Das wirkt eher wie der Schrei des hilflosen Kindes. Übrigens: Literatur bildet die Realität nicht ab, sondern schafft sie neu.

Manche Metaphern sind süßlich, andere sind albern: »Das Leben ist ein Kreisverkehr«, »Denken braucht Mut« (wirklich)? Man kann Literatur nicht mit Wein vergleichen. Bei der Literatur ist die Form höher zu bewerten als der Inhalt, also die Flasche steht höher als der Wein selbst.

In die familiären Geschichten will ich mich nicht einmischen, nur insofern dies von literarischer Bedeutung ist. Du stellst innerhalb der Familie zwei Parteien oder sagen wir zwei Welten einander gegenüber: dich auf der einen, das ist die denkerische Seite, die über den Verhältnissen steht, die Seite in der du dich befindest oder in die du einzutreten gedenkst und die zweite ist der Rest: sie sind borniert, engherzig, spießig und philiströs… von der einen erhebst du dich und weisest mit dem moralischen Zeigefinger auf die andere, du schaust auf sie von oben herab und tust eigentlich genau das, was du den anderen vorwirfst.

Dass ich deine Kritik an Schiller nicht teile, kannst du dir ja denken. Dass dir der moralische Schiller, der Dichterpatriot nicht schmeckt, kann man zum Teil gelten lassen. Schon die Romantiker fanden ihn ‚humorlos und rhetorisch‘ und machten sich über ihn lustig, doch das vermindert seine dichterischen Qualitäten in keinster Weise. Die Franzosen und die Russen haben ihn vergöttert und in Deutschland war er Jahrzehnte lang der gefeierte Star, er stand allein auf dem Podest, an Goethe dachten nur noch Wenige, er schien vergessen zu sein. Schillers Dramen hingegen wurden immer wieder gespielt. Davon abgesehen: Deine herbe Kritik kommt aus dem Bauch heraus und fußt leider auf Unwissenheit.“ Auf eine Reaktion wartete Fanus lange, aber sie kam nicht.

Lena legte einen Hochmut an den Tag, der beeindruckte. Meinungen waren ihr gleichgültig, Wissenschaft dummes Gefasel, große Namen (Goethe, Schiller) Schall und Rauch. Sie ließ keine andere Meinung unwidersprochen. Für sie bedarf eine geäußerte Meinung stets der Korrektur. Mehrfach, eigentlich bei jeder Gelegenheit, wiederholte sie, dass sie immer Recht hat. ‚Ich wusste es‘, gehörte zu ihrem täglichen Repertoire, zu ihren Lieblingssätzen. Sie war allzu sehr von sich eingenommen. Wagte einer, ihr zu widersprechen, so schaute sie ihn sprachlos an und schien dabei zu denken: wie konnte dieser Pfiffikus es wagen, mir zu widersprechen! Ihre Augen sprühten Feuer, ihre Wangen wurden rot, sie holte auf und sah sich verpflichtet, den Fall in allen Einzelheiten auszubreiten, dabei spielte der Gegenstand keine Rolle, es könnte eine Kochsendung sein, eine halbverstandene Nachricht, ein Gerücht, ein medizinischer Ratschlag oder was auch immer. Ging es um Mode und Design fühlte sie sich erst richtig in ihrem Element. Sie war in der Familie der zuständige Papst für Geschmack, für Farben und Kosmetik. Jeder, den sie sah, war immer falsch angekleidet: „Sie sehen blass aus, das sind nicht Ihre Farben…, Sie müssen dies und das tragen, wenn Sie eine Farbberatung benötigen, stehe ich gern zur Verfügung,“ sagte sie und der Angesprochene schaute sie respektvoll an und sagte nichts. Eine andere Meinung gerade auf dem Gebiet ließ sie auf keinen Fall gelten, es brachte sie in Rage und sie ließ nicht locker, bis der Uneinsichtige seinen Irrtum sah und sie Recht bekam und bei ihrer Ausführung war jedes Detail wichtig.

*

Im Schatten der Eiche

Подняться наверх