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II.

Fanus

Fanus war ein Wüstenprodukt, der im Wald gelandet ist und gleich zu Beginn einen Grünenschock bekommen hat. Als Sprössling der Wüste hatte er noch nie einen Wald gesehen, allein in der Stadt gab es mehr Bäume als in ganz Ägypten. Er nahm die erste Gelegenheit wahr und besuchte einen großen Wald am Rande der Stadt. Plötzlich stand er im Land der Riesen und bekam es mit der Angst; denn die Sonnenstrahlen zeichneten auf dem Boden die schönsten Formationen, die ihn erschreckten. Wer im Wald wandert, der spürt, wie ein unsichtbarer Geist ihn umweht und in der Stille vernehmbar wird, das ist der Baumgeist, dachte er. Den Baumgeist sieht man zwar nicht, aber im Rausch des Windes hört man ihn. Hoffentlich ist er gesittet und versteht Arabisch. Fanus war belesen genug um zu wissen, dass sich hier im tiefsten Wald, in ihrer mythischen Heimat, das Leben der Ureinwohner abspielte, hier hausten die Götter, hielten die Menschen ihre Volks-versammlungen ab und brachten den Göttern ihr Opfer dar. Der Anblick ihres Gottes hätte ihn gewiss in Angst und Schrecken versetzt. Der war nämlich alles andere als das, was man unter Gott versteht. Er hieß Wotan und hatte nur ein Auge, das andere verlor er beim Trinken aus dem Brunnen der Erkenntnis, vermutlich lockerte sich die Augenschraube und fiel ins Wasser, kann ja passieren. Wotan war ein Krieger, vor allem ein Kannibale, nur Menschenfresser akzeptierte er - ein Überbleibsel davon findet man immer noch bei den Angelsachsen, die müssen nämlich zu Weihnachten einen Türken verspeisen -. Bei seinen Touren trug Wotan einen wallenden Mantel und einen breitkrempigen Hut und soll auf dem »Drachenfels« gehaust haben. Er ritt auf seinem achtbeinigen Schimmel »Sleipnir« durch die Wälder, von seinen Raben Hugin und Munin und von bellenden Hunden und heulenden Wölfen begleitet. Fanus schlotterten die Knie, er hielt den Atem an und war froh als alles ruhig blieb, dann setzte er seinen Weg fort und bewunderte die in den Himmel ragenden Bäume, ach! wie majestätisch, erhaben und furchterregend sie sind! Er begriff, warum die Menschen so naturliebend sind und daran glauben, dass Bäume eine Seele haben und krank werden könnten. Bei denen kann man sich sicherlich an der Uni zu einem Baumologen ausbilden lassen, sinnierte er.

Es war verständlich, dass die erste große Schlacht, die sie gewonnen hatten, im Wald stattfand, wie konnte es anders sein? fragte sich Fanus. Damals als Rom mächtig war, waren sie die einzigen echten »Barbaren«, die der Römisch-Griechischen-Welt trotzten. Sie sagten, Kultur kommt bei uns nicht in die Tüte, es lebe der Wald. Diese Natürlichkeit bewahrten sie bis zum heutigen Tag. Die Römer, diese zivilisierten Plünderer, wollten aber an ihrer Nordgrenze keine Barbaren dulden. Zur guten Nachbarschaft gehört es sich, den Nachbarn auf das gleiche Niveau zu heben, dachten sie. Also marschierten sie gen Norden und landeten mitten im Wald. Sie wurden vernichtend geschlagen, nicht nur weil es für die Barbaren ein Heimspiel war, sondern weil diese mit einer Bullenkraft gesegnet waren und sie liebten den Krieg über alles. Krieg war eine Art Volksfest oder Familienfeier. Selbst-verständlich waren Frauen und Kinder mit dabei, damit der Krieger ihre Stimmen hört und von ihnen zum Kampfe angespornt wird, er wurde nach vorne gepeitscht, dann gepflegt und verarztet. Ein alter Römer schrieb über sie: »Mit Schweiß verdienen, was man mit Blut erwerben kann, galt bei ihnen als Feigheit und Faulheit.« So versteht es sich von selbst, dass für sie jeder Baum eine Seele hat, wird er verwundet, so blutet er und dass die Götter den Menschen aus Holz geschnitzt haben und nicht aus Lehm wie bei unserem fantasielosen Gott. Aus dem Baum entstand also der Mensch, im Baum ruht sein Ursprung. Dann vermischten sie sich doch mit den Römern, veredelten ihr Blut und zivilisierten sich ein wenig. Sie verließen die Bäume und ersetzten das Klettern durch Laufen.

Fanus akklimatisierte sich schnell und kam mit den Berlinern gut zurecht, weil er ihre Art schnell begriffen hat. Sie sind aufgeschlossen, witzig und schlagfertig. Ihr Dichterfürst aber sprach »vom verwegenen Menschen-schlag«, da müsse man bei ihnen »Haare auf den Zähnen haben und etwas grob sein, um sich über Wasser zu halten.« Rebellisch sind sie ja nicht, doch beherzigen sie ihren eigenen Spruch: »Meckern ist wichtig, nett sein kann jeder.« Also von denen ständig »anjemeckert« zu werden, hat nichts zu bedeuten, es gehört einfach dazu. Ihre Schlagfertigkeit bringt jeden in Verlegenheit. Man steht bedeppert da und weiß nicht mehr, war es ernst gemeint, oder nur ein Witz. Ein Fremder, der in den Bus steigt und dem Busfahrer die Frage stellt: »entschuldigen Sie, wie komme ich zum Zoo?« wird prompt die Antwort zu hören bekommen: als was? Versteht der Fremde den Witz, würde er darüber schmunzeln, versteht er ihn nicht, würde er sich über die Ungeschliffenheit und Rohheit wundern. Der Berliner ist helle, gepfeffert und gesalzen strömen die Worte aus seinem Mund.

In Berlin fühlte sich Fanus ganz wohl und die junge Stadt, verglichen mit Memphis und Theben war Berlin für ihn blutjung, gefiel ihm außerordentlich. Er dachte, irgendwie passt die Gründung der Stadt zu diesem etwas ungehobelten Charakter der Einwohner. Die Stadt erlebte ein paar Schönheitsoperation, bei der letzten wurden ihr die Tränensäcke entfernt, teure, wertvolle Tränen, für die sie sogar einen Palast bauten. Er erfuhr, dass sie auf Sumpf gebaut und von Albrecht dem Bären gegründet wurde, deswegen hat sie einen Bär als Wappenzeichen. Albrecht war, das sagt schon der Name, ein bärenstarker Mann, vor allem im Glauben. Er musste eine schreckliche Abstammung gehabt haben; denn er tat mit seinen Gegnern das, was unser Mohammed Ali mit den Mamluken zu Beginn des 19. Jahrhundert tat. Jener lud die Wendefürsten in seine Burg, dieser die Mamluken in die Zitadelle ein, um ihnen die Köpfe abzuschlagen, eine hervorragende Methode, den eigenen Feind loszuwerden. Fanus war erstaunt darüber, wie überall Geschichte sich ähnelt.

Aber nicht mit den Menschen und mit der Stadt hatte Fanus ein Problem, sondern mit der Sprache. Er war von Anfang an der festen Überzeugung, diese Sprache lässt sich nicht lernen. Da er aber ehrgeizig war und sogar vorhatte, sein unterbrochenes Studium fortzusetzen, war er dazu verdammt, sie zu lernen. Seine ersten Gehversuche erhielt er von Madam Ay, bei der er als Untermieter wohnte. Sie war eine sehr nette Dame, die eine sehr attraktive, leider Gottes verheiratete Tochter hatte. Madam Ay sorgte für ihn wie eine Mutter, brachte ihm täglich ihre großlettrige Zeitung vorbei, mit der sie Fanus sprachlich und geistig auf Vordermann bringen wollte. Fanus war von der Liebenswürdigkeit sehr angetan, konnte aber keine Zeile lesen. Er blätterte die Zeitung trotzdem durch und bewunderte die hübschen Mädchen, die ihn fast auf jeder Seite freundlich grüßten. Abends wenn er zu Hause war, kam sie ins Zimmer und wies ihn auf eine sehr lustige Fernsehsendung hin, die er unbedingt sehen sollte. Von der Sendung verstand er noch weniger als von der Zeitung. Über seine ersten Sprachversuche lachte Madam Ay aus vollem Herzen, muss sehr komisch gewesen sein, was er fabriziert hatte. Sie ließ aber nicht locker und arbeitete nach dem Prinzip »mit häufigen Wiederholungen kapiert es sogar ein Esel«, Fanus war da anderer Meinung, das mag auf andere Sprachen zutreffen, aber nicht auf diese, davon abgesehen sind hiesige Esel sicherlich aufgeweckter und intelligenter als die orientalischen.

Dann kam die Tochter zu Besuch und Fanus vergaß, dass es überhaupt eine Sprache gibt. Sie schaute ins Zimmer um zu sehen, mit wem ihre Mutter wohnt. Sie sagte auch ein paar Worte aber Fanus stand da mit offenem Mund und war von ihren Kurven völlig vernebelt. Dann setzte sie sich sogar auf die Couch und wollte anscheinend das Erziehungswerk der Mutter fortsetzen und ihm ein paar grammatikalische Regeln beibringen. Fanus schaute sie entgeistert an und wollte sie fragen, ob sie nicht verspannte Schultern hätte und eine Massage braucht. Orientale wie er war, wollte er am liebsten gleich zur Sache kommen. Sprache hin, Sprache her, dachte er: „Ich würde ihr den Vorschlag machen, uns auf Hieroglyphisch zu unterhalten. Mit wenigen Strichen ließe sich eine ganze Geschichte erzählen: ich könnte als erstes ein Herzchen malen, das bedeutet, ich opfere dir mein Herz, mein Schatz, daraufhin malt sie einen Vogel und sagt damit, du hast wohl einen Vogel. Ich würde mich nicht entmutigen lassen und male eine liegende Frau mit erhobenen Armen und schmachtenden Blicken, die nach dem Geliebten schreit, sie malt eine Schere und deutet damit an, noch so ein Ding und ich schneide dir die Ohren ab. Hieroglyphisch ist wirklich die herrlichste aller Sprachen, es genügt, die Sonne zu malen, anstatt ‚O Sole mio’ zu jauchzen. Eine Unterhaltung auf diese Art ist viel amüsanter als diese schreckliche Sprache zu lernen. Überhaupt bin ich sehr für die Wiedereinführung der Hieroglyphen. Da wir wenig reden und sowieso nichts zu sagen haben, genügen uns schon die paar Bilder.“

Möglich, dass die Sprachversuche nicht ganz umsonst waren. Allmählich wurde es besser und mit der Zeit fing Fanus an, die Feinheiten oder sagen wir lieber die Sonderlichkeiten der Sprache kennenzulernen. Sofort fiel ihm auf, dass die Eingeborenen das Verb, der Dreh- und Angelpunkt eines Satzes, nicht besonders mögen und es ans Ende des Satzes stellen, als handele es sich um einen Aussätzigen. Dass es schwache Adjektive gibt, also solche, die unter Vitaminmangel leiden und starke Verben, die die anderen Wörter über den Zeilenrand wegschieben. Sie haben auch Bindewörter, das sind keine Wörter mit denen man Pakete zusammenschnürt, sondern um mit ihnen Zusammenhänge herzustellen, sie sind dazu da, um Brücken zu bauen, Sprachbrücken. Natürlich haben sie auch »Streckverben«, das sind keine Verben, mit denen man sich einen Pullover oder eine Mütze stricken kann, nein, es sind lahme, verkrüppelte Verben, die nicht allein gehen können und daher ein »Substantiv« als Krücke benötigen, man nennt sie auch Funktionsverben, weil sie so gut funktionieren, (z.B. Abhilfe schaffen, Folge leisten, in die Flucht schlagen, Beachtung schenken, in Erwägung ziehen), ist das nicht schön gestreckt? Sie haben auch eine Leideform. Die benutzen sie besonders, wenn sie leiden. Also wenn ich sage: »vorige Woche wurde mir von Räubern die Brieftasche gestohlen«, da muss man doch leiden. Und sie lieben die doppelte Verneinung wie: (Nicht unentbehrlich, es ist so unüblich nicht), bei denen ist einer nicht unvermögend, und wenn sie Berliner sind, sagen sie: Ick hab keen Jeld nich, und natürlich beklagen sie »einen missglückten Fehlstart«, wer tut das nicht. Dann betrachten sie »Und« als vollwertiges Satzglied und schreiben es auf der Zeile getrennt. Ein Trennstrich heißt bei ihnen, wie könnte es anders sein, ein Bindestrich. Sie haben auch »Luftwörter« wie: abändern, absichern, anheben, anmieten, aufzeigen, ansteigen, absinken. Wörter werden so aufgeblasen, sie verwandeln sich danach in Luftwörter, die fliegen können. Man mietet nicht eine Wohnung, sondern sie wird angemietet. Um sich etwas zu merken, bauen sie für den Esel eine Brücke. Das Komische ist, hier gibt es gar keine Esel, jedenfalls nicht so viele wie bei uns, sie hätten doch sagen sollen »Eine Schweinebrücke».

Der arme Fanus war überfordert und gestresst. Er sagte: „Sie schreiben nicht nur von der falschen Seite, sondern machen alles anders. So werden Wörter zusammen-geschrieben manchmal zwei, drei oder vier. Ich weiß nicht, ob sie das nur aus Faulheit tun, um die Feder nicht zu heben und neu anzusetzen oder ob sie, als geborene Kapitalisten, nur jeden verfügbaren Raum nutzen wollen. Zum Beispiel solche unglaublichen Worte wie: »Körperschaftssteuerdurchführungsverordnung«, »Kindertageseinrichtungspersonalverordnung«, »Hochschulrahmengesetznovellierung«, da besteht doch die Gefahr, dass einem so ein Wort im Halse steckenbleibt und man daran erstickt.

Einerseits sind manche Wörter so lang, dass ein einziges Wort eine ganze Zeile für sich in Anspruch nimmt, andererseits reißen sie manche Wörter so weit auseinander, dass am Anfang der Seite die eine Hälfte des Wortes steht und am Ende die zweite. Bis man dahin kommt und das Getrennte gedanklich zusammenfügt, ist einem, wie bei Mark Twain, unterwegs längst die Luft ausgegangen und man hat das Interesse am Inhalt des Satzes längst aufgegeben.

Und als ob das nicht genug wäre, da kommen manche und drücken sich noch umständlicher aus: man sagt nicht: er siegte, sondern er trug den Sieg davon, da man ja beim Sieg meistens etwas wegträgt: einen Pokal, einen Scheck oder beim Fußball die drei Punkte. Man bestreitet auch nicht irgendetwas, sondern stellt es in Abrede. Auch nicht »betrachten«, sondern in Augenschein nehmen. Man schweigt ja auch nicht, das wäre einfach und ordinär, sondern es wird »Stillschweigen gewahrt.« Sie sagen nicht: "Rauchen und Trinken sind schädlich ", sondern »Das Rauchen und Trinken führt in gesundheitlicher Hinsicht zu einer großen Beeinträchtigung«, halleluja. Wer bei ihnen das Einfache einfach sagt oder schreibt, ist unten durch. Das Einfache muss so formuliert werden, dass keiner es versteht, das zeugt von Geist, beschert Bewunderungen. Gerade hier drückt sich die ganze Schwere ihres komplizierten Charakters aus. Sie neigen zum Abstrusen, zum Unergründlichen, zu Preziosität wie einer ihrer Sprachvirtuosen konstatierte. Sie lieben einfach das »Absolute«, so ist keiner nur »überzeugt«, sondern restlos überzeugt, also nicht nur ein bisschen überzeugt, sondern total. Es gibt keine Wahrheit, sondern die »nackte Wahrheit«, manchmal ist sie sogar rein, also hat vorher gebadet und natürlich gibt es auch brennende Fragen, da sollte man sich in Acht nehmen und einen Feuerlöscher in der Nähe haben. Ihre Bücher sind von einer Schwere belastet, die die Schwere ihres Gemütes widerspiegelt. Warum soll man einfacher schreiben, wenn es komplizierter geht, pflegen sie schmunzelnd zu sagen. Hätten sie sich bloß an die Maxime eines ihrer eigenen Philosophen gehalten, der sagte: »Wer klar denke, der könne sich auch klar ausdrücken.« Liest man eines dieser Bücher, so hat man das Gefühl, der Autor ist gar nicht daran interessiert, einem etwas beizubringen. Ihm ist es einerlei, ob man überhaupt etwas kapiert, wichtig für ihn ist, sein unermessliches, harterworbenes Wissen auszubreiten, seine Gelehrsamkeit an den Tag zu legen. Als Leser hat man ihn zu bewundern und in Ehrfurcht vor seiner Gelehrtheit zu erblassen.

Stellenweise ist die Sprache gewalttätig, in ihr spiegelt sich das Militärische wider: sie springen in die Bresche, halten die Fahne hoch, heben jemanden aus dem Sattel und setzen den Fuß auf dessen Nacken, aber vorsichtig sind sie ja und verschießen selten ihr ganzes Pulver auf einmal. Bevor sie kämpfen, werfen sie die Handschuhe weg, was ich für unsinnig halte, warum sollte man die Handschuhe wegwerfen, wenn sie noch gut zu gebrauchen sind? Sie sprechen vom Umklammerungsgesetz (z.B. hat ... geholfen) als handele es sich um einen Ringkampf. Abgehärtet sind sie schon, sie essen sogar Splitterbrötchen ohne Handschuhe.

Sprachliche Absurditäten bilden ein Kapitel für sich, da kommt es schon vor, dass jemand von der »treulosen Tomate« redet. Ich zerbrach mir eine Weile den Kopf darüber, wie eine Tomate treulos sein kann, da diese Eigenschaft für Frauen reserviert ist. Ist einer nah am Explodieren, geht er die Wände hoch und läuft Gefahr, sich auch noch den Hals zu brechen, und wenn sie genug haben, lassen sie die Kirche im Dorf, als ob man die mitnehmen könnte, dann streiten sie um des Kaisers Bart, vermutlich noch bevor der gestorben ist. Und wenn sie es sich einmal gut gehen lassen, lassen sie die Sau raus, da fragt man sich als neutraler Beobachter, warum sie sie eingesperrt haben, oder sie lassen die Fünf auch mal eine gerade Zahl sein, ist das nicht ein mathematischer Pfusch? Haben sie jemanden lieb, gehen sie mit ihm Pferde stehlen und sorgen dafür, dass er im Gefängnis landet. Das ist doch eine Gemeinheit, nicht wahr? Wenn sie jemandem Beistand leisten wollen, sagen sie »Hals und Beinbruch«, sie hoffen also auf dessen totale Vernichtung.

Überhaupt reden sie sehr eigenartig und meines Erachtens total unlogisch. Will einer von denen, dass ich mir etwas merken soll, da sagt er, ich soll mir das hinter die Ohren schreiben. Ist das nicht merkwürdig? Erstens ist der Platz hinter den Ohren viel zu klein, um sich ein paar vernünftige Sätze notieren zu können und würde man diese herkulische Aufgabe bewältigen, könne man doch das Notierte kaum lesen, auch nicht mit Hilfe eines Spiegels. Mit solchen ausgefallenen Forderungen verkomplizieren sie alles und verhindern, dass man ihren Wünschen nachkommt. Um all das aufzunehmen, wozu ich aufgefordert werde, müsste der Platz hinter den Ohren unendlich groß sein, größer als ein Fußballplatz. Im Englischen finde ich es dagegen viel netter, da sagen sie: »Put that into your pipe and smoke it.« Ist das nicht ein herrlicher Vorschlag, vernünftig und realitätsnah? Auch für Nichtraucher durchaus akzeptabel.“

So kam Fanus, das Wüstenprodukt, zu der Erkenntnis, dass er es doch mit einer sehr schönen aber eben einer sehr schweren Sprache, die sich kaum beherrschen lässt, zu tun hat. Bei ihr vermisst man das Leichte, das Melodische der romanischen Sprachen, die Italiener reden nicht, sie singen. Das mag am Konsonantenreichtum liegen. Man sagt, die deutsche Sprache »sei wie ein Urwald, dicht und geheimnisvoll, ohne großen Durchgang und doch tausendpfadig.« Sie hat etwas Rauhes und Ungehobeltes.

Nach seiner Ankunft und nach dem grünen Schock schlenderte Fanus durch die Straßen ziel- und orientierungslos. Er schaute sich um und erwartete, dass jemand auf ihn zukommt und ihn willkommen heißt. Er wusste ja, ein ungeschriebenes Gesetz bei denen lautete: »zwischen einem Bekannten und einem Unbekannten, was das Recht des Gastes anlangt, macht niemand einen Unterschied.« Und ein weiteres Gesetz: »irgendjemanden, wer es auch sei, von seinem Haus abzuweisen, wird für frevelhaft gehalten.« Ach, die Gesetze müssen sie geändert haben, stöhnte er. So stand er auf dem Boulevard und sah aus wie ein Grieche unter Barbaren. Er hörte sich ihr wirres Gebrumm an und dachte: „An sich ist dieses Nicht-Verstehen ein Segen: man könnte von jedem beschimpft und zur Sau gemacht werden und würde alles mit einem Lächeln quittieren.“ Er war aber nicht der Grieche, sondern eher der Barbar; denn seine wirren Augen machten den Eindruck eines Irrenhausentflohenen, der sich über den regen Verkehr wundert. Sein Magen knurrte und keiner lud ihn zu einer Mahlzeit ein. „Leute, was ist das denn für eine Gastfreundschaft! Es ist wirklich nicht nötig für mich gleich ein Schaf zu schlachten, ein Huhn oder eine Ente würde auch reichen. Ich bin Fanus, der Sohn von Abu Fanus und Um Fanus. Sie sind leider Gottes beide tot und schauen jetzt von dort oben auf mich herab, was sollen sie von Euch denken, wenn sie sehen, dass Ihr gar nicht so nett seid zu ihrem Kindchen? Fanus heißt übrigens Laterne. Ich bin also eine Leuchte, ich leuchte sogar nachts wie ein Salamander. Allah, wo bist Du?“ schrie er laut wie Faust nach Helena. Weit und breit war kein Huhn zu sehen, weder lebendig noch gebraten, stattdessen lauter Gäste: braune, gelbe, weiße, schwarze, dicke, dünne... und es schien so, als gäbe es mehr Gäste als Gastgeber. Er vergaß dabei, dass viele Gäste die Freundschaft verderben und es waren viele da, die an ihm vorbeigingen und alles andere als edel aussahen, erschreckend viele. Er erwartete großgewachsene, trotzige Kerle mit blauen Augen und rötlichen Haaren, sah stattdessen viele schwarzhaarige und eine Anzahl ganz ohne Haare, glattrasiert. Dieser Mischmasch irritierte ihn.

Einer der ersten Worte, deren Sinn Fanus begriffen hat, war das Wort »Scheiße«. Zuerst wunderte er sich gar nicht darüber, wie häufig das Wort »Scheiße« vorkommt; denn er hatte einmal in einem Buch gelesen, dass bei diesem an sich so sauberen Volk das Wort »Scheiße« das meistgebrauchte Wort ist. In der Tat, man bekommt es wirklich permanent zu hören. In diesem Lande gebrauchen die Menschen gern knusprige Begriffe, die man nicht nur hört, sondern auch riecht. Im Grunde genommen ist ihnen alles »scheißegal«, auch wenn dem nicht so ist. Sie »scheißen« auf alles und Ausländer sind »Scheißdreck«. Überhaupt ist alles »verdammte Scheiße« und das ganze Leben ist ohnehin eine »große Scheiße«. Dann aber fragte er sich, ob die Sprache an anderen Fluchworten arm ist oder ob diese womöglich nicht so gut riechen? Bei der kleinsten Beleidigung oder unachtsamen Bemerkung wird man freundlichst aufgefordert, den Arsch des Beleidigten zu lecken. Sogar der Dichterfürst ließ seinen Götz dem Hauptmann ausrichten, er möge ihn »im Arsch lecken«. Wenn man tapfer sein soll, muss man die »Arschbacken zusammenkneifen«; dann »dampft die Kacke«, als handele es sich um wohlschmeckende Speise. Will man jemanden beeindrucken, prompt bekommt man die Frage zu hören: Ist das auf deinem Mist gewachsen? Was heißen soll, hast du es selbst geschissen? Will man zwischen Streithähnen schlichten, wird man aufgefordert, sich lieber um den eigenen Dreck zu kümmern.

Wenn die Eichwälder trübsinnig sind, und das sind sie die meiste Zeit, singen sie:

Das Leben ist'ne Hühnerleiter

Vor lauter Dreck kommt man nicht weiter

Und wenn man endlich oben ist

Dann steckt man drin im tiefsten Mist.

Oder solche köstlichen Sätze wie: »Das Leben ist ein Kinderhemd - kurz und beschissen.«

Sogar ein Regierungschef, ein Mensch mit beachtlichen Maßen, machte mit und wartete mit einem seiner vielen brillanten, sinnbeladenen Sprüche auf: »Wichtig ist, was hinten rauskommt«, pflegte er zu sagen.

Fanus konnte seinen Platz auf der Karte orten. Als er aber das Wort Abendland zum ersten Mal hörte, konnte er damit gar nichts anfangen. Die Bezeichnung hat ihn völlig verwirrt. Soll das heißen, dass dort immerzu Abend ist? Fragte er sich, oder meinten sie damit den Westen, das Totenreich, die Nekropole, dort, wo die Sonne untergeht, wo die Schakale hausen und die Toten auf ihre Auferstehung warten? In seinem Schädel schwirrten die Begriffe umher und er nahm sich vor, nachzuforschen, warum sie dauernd vom Abendland reden. Zu Hause fand er ein schmales dünnes Lexikon, geschrieben von einem gewissen Pierce. Er schlug es auf und fand auf der ersten Seite die erhoffte Begriffsdefinition: »Abendland ist jener Teil der Welt, der westlich (bzw. östlich) des Morgenlandes liegt. Größtenteils bewohnt von Christen, einem mächtigen Unterstamm der Hypokriten, dessen wichtigste Gewerbe Mord und Betrug sind, von ihnen gern ‚Krieg‘ und ‚Handel‘ genannt.« Die Definition gefiel ihm, weil sie mit dem übereinstimmte, was er zu Hause im Geschichtsunterricht eingetrichtert bekam: Nirgends auf der Welt ist auf einem so kleinen Fleckchen Erde so viel Blut vergossen worden wie hier. Entweder schlachteten die Menschen andere Artgenossen ab oder sich gegenseitig. Schon in ihrer mythischen Zeit legten sie gleich los: Saturn fraß seine Kinder, um sich zu verjüngen und Medea schlachtete ihre eigenen, um sich zu rächen; Agamemnons Vater Atreus schlachtete zwei Söhne seines Bruders Thyestes und setzte sie diesem als Speise vor, weil Thyestes ihn betrogen hatte... Von da an floss das Blut unaufhörlich. Es kam die Religion, und die Blutmasse verdoppelte, verzehnfachte sich. Sie waren trunken von der herrlichen roten Farbe und hielten ihren mythischen Vorvätern die Treue. Allmählich berauschten sie sich weltweit am Blut anderer, da dies billiger und wertloser sei als das eigene: so ging eine Sekte von denen nach Lateinamerika und probierte dort ihre Methoden, eine andere in die neue Welt, um Einheimische abzuschlachten und sich das Land anzueignen, eine dritte Sekte knöpfte sich die Aborigines vor und eine vierte die Schwarzen in Afrika... Zweiundeinhalbtausendjähriger Erfahrung in der Ausbeutung anderer Völker sind ein beachtlicher Zeitraum.

Um seinen Herrschaftsanspruch zu zementieren und um wie Vampire über die anderen herzufallen und ihnen das Blut aus den Adern zu saugen, erhob dieses Abendland die Rassenkunde zu einem wissenschaftlichen Fach. Die Gelehrten eiferten, den Nachweis für die Überlegenheit der Vampire zu liefern. Ein gewisser Gobineaus stellte die Ungleichheit der Menschenrassen fest und behauptete: »alle Zivilisationen stammen von der weißen Rasse.« Gobineaus schrieb ein vierbändiges Werk mit dem Titel: »Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen.« Er war mit Richard Wagner befreundet und übte auf dessen Schwiegersohn, Houston Stewart Chamberlain, großen Einfluss aus. Was bei Gobineaus fehlte, nämlich der Aspekt des Antisemitismus, wurde von Chamberlain ergänzt. Die Lehre, auf der das Herrenmenschentum der Nazi fußte, war damit vollendet. Für Gobineaus, diesen Misanthropen, der den Menschen als das böse Tier schlechthin sah, gab es drei Rassen, die aber miteinander wenig zu tun haben und unmöglich vom selben Gott geschaffen sein konnten. Von Adam konnte ja nur die arische Rasse abstammen, aber wo kamen bloß die anderen, die gelbe und die schwarze her? Er sah in der geschichtlichen Vermischung (in der Promiskuität) das Grundübel, das zum Untergang der Kultur führen wird. Kulturfähig sind eben nur die Arier. Verständlich, dass seine Lehre zur Rechtfertigung der Sklaverei führte. Ach, was wäre aus der Menschheit geworden ohne den weißen Mann! Doch lange vor Gobineaus waren alle eifrig dabei, das Rassismus-Gebäude zu errichten. Schon die großen Philosophen, die man mit Ehrfurcht liest, hielten alles, was nicht hellenisch war, für barbarisch und legten so den Grundstein für ein Haus, das auf festen Fundamenten errichtet war und heute noch überall strahlt wie eh und je. Im Hellenismus brachten die Griechen keineswegs nur Kultur und schöne Künste mit, sondern darüber hinaus eine verrohte Seele, die mit äußerster Brutalität gegen die Einheimischen vorging und sie wie eine Zitrone auspresste. Wenn nun die heutigen Abendländer ihre Wurzeln auf Griechen und Römer zurückführen, dann legen sie damit eine bemerkenswerte Ehrlichkeit an den Tag. Sie führen das fort, was jene ihnen vorexerziert hatten. Ihr Rassismus ist so alt wie ihre Kultur. An dieser Kultur klebt der Makel von Menschenverachtung und ein bis dahin nie gekannten Rassenwahn.

Dieses Abendland, ein Land der Missionare und der Heilslehren, betont seine Christlichkeit so sehr und täte gut daran, dieses Wort gar nicht hervorzuheben und lieber den Abend durch Finsternis zu ersetzen. Sie hatten von Anfang an ein blutrünstiges Wesen, das sie bis zum heutigen Tag nicht ablegen können. Allein der Erfindungsreichtum bei den Folterinstrumenten ist beachtlich, da wurden Menschen gekreuzigt, gerädert, gevierteilt, gegrillt..., da werden Hexen verbrannt und Säuglinge ertränkt. Sie hielten an der Sklaverei so sehr fest, als würden sie für diese Mildtätigkeit einen Lorbeerkranz erhalten. Alles, was sie aus dieser Zeit geerbt haben, sitzt in ihren Seelen tief und schimmert in ihren Verhaltensweisen ab und an durch. Fanus brauchte eine geraume Zeit, um sich von dem Erkenntnisschock zu erholen.

Fanus erlebte die Zeit der Teilung mit allen Perversitäten von Grenzkontrollen, die ihm wie ein Stück absurdes Theater vorkamen, daher freute er sich mit den anderen über die Wiedervereinigung und glaubte, nachdem der unnatürliche Zustand sein Ende nahm, nun wird alles besser sein. Seine Sympathie lag ganz eindeutig bei den Leuten »von drüben«, sie erweckten in ihm irgendwie heimatliche Gefühle und machten auf ihn von Anfang an einen sehr orientalischen Eindruck, sie sahen unbedarft aus und hinkten auf allen Gebieten hinterher. Die Westlichen waren und sind dagegen arrogant und aufgeblasen. Sie ließen sich auf eine erneute Ehe mit diesen Orientalen ein, aber es ist immer dasselbe in den Ehen, begeistert geht man hinein und es währt nicht lange und der große Katzenjammer beginnt. Sieht er jetzt, 25 Jahre später, was aus ihnen geworden ist, rumorte es ihm kräftig im Magen.

„Die orientalisierten Eichwälder waren augenfällig die Gerechteren,“ sagte Fanus. „Sie waren humaner, kultivierter, erhoben die Gleichheit und Gerechtigkeit zum obersten Prinzip. Da hagelte es in den Medien tagtäglich Humanität. Dann praktizierten sie das Prinzip: alles gehörte jedem und keiner durfte mehr als die anderen haben, ein außerordentlich edler Gedanke, der einen an das Gute im Menschen glauben ließ. Es war nicht nur eine familiäre Atmosphäre, es war eine Ehegemeinschaft, die das ganze Volk umfasste: alle freuten sich zur gleichen Zeit, alle heulten zur gleichen Zeit, sogar wenn einer krank wurde sagte er nicht, »ich bin krank«, sondern »wir sind krank«, schließlich leiden ja alle anderen Brüder und Schwestern mit ihm, dessen war er sich sicher. Bei Feierlichkeiten marschierten alle mit erhobener Brust an den Wächtern vorbei, die auf der Tribüne Platz nahmen und mit kränkelnden, gichtverseuchten Händen winke winke machten. Leider gab es wenig Abwechslung in dieser edlen Atmosphäre, es war kein Menü mit mehreren Gängen, sondern ein salz- und pfefferloser Eintopf. Alle löffelten ihn aus; denn er schien zu schmecken. Die Wessis waren barbarischer, gesegnet mit vom Kapitalismus verdorbenen Seelen. Die Ossis waren hingegen von Natur aus barmherziger und edelmütiger, solidarisierten sich mit allen Barfüßigen der Welt. Die schönsten Reden wurden gehalten. Man hätte vor Rührung heulen können, so viel Anteilnahme, so viel Nächstenliebe, so viel Wille, den Bruder ans Herz zu drücken und mit ihm das Nichts zu teilen... man fühlte sich zurückverfrachtet zu den Ursprüngen des Christentums. Die Reden wurden immer emphatischer, immer wuchtiger. Vor lauter Reden vergaßen sie aber die Arbeit ganz und gar, und verloren das Ziel, die Welt zu vermenschlichen, aus den Augen. So fielen sie hinter den Feind zurück und sanken allmählich ab. Eine Misere bahnte sich an. Sie waren überzeugt, nur der verruchte Westfeind, mit seinen Spionen überall, könne dahinterstecken. Er betreibe einen Zersetzungsprozess und will mit seinen Art- oder Systemgenossen, das Menschliche zerstören. Natürlich waren sie gezwungen, gegenzuhalten. Aber sie waren bereits infiziert, der Virus, die Seuche war unter ihnen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich gegenseitig zu bespitzeln, um die Schwachstellen herauszufinden. Es bildeten sich Apparate, die tagtäglich größer wurden. Die immense Aufgabe erforderte übermenschliche Anstrengung. Jeder wurde gebraucht, an Arbeit dachte keiner mehr, d.h. es blieb gar keine Zeit übrig, um geregelter Arbeit nachzugehen. Denn jeder war verpflichtet, über den anderen Berichte zu schreiben und abzuliefern. Um die Diskretion zu wahren, bekam jeder einen falschen Namen. Anfänglich wollte das Überwachungskommando Nummern benutzen, sah aber davon ab, weil darin Gefängnishaftes steckt. Sie dachten ja, es ist eine Frage von Wochen oder Monaten, um die Löcher, die der Westteufel ins System gebohrt hat, zu stopfen. Aber sie irrten sich. Der Teufel war schlauer als sie dachten, daher musste der Apparat ständig wachsen und perfektioniert werden. So entstanden Berge von Akten, deren Bearbeitung ungeheure Kraft und Anstrengung erforderte. Der Staat, den sie gründeten war ein »Horch und Guck-Staat«, in der Abkürzung hieß es dann »HGR«. Das Wort Staat ersetzten sie durch Republik, um zu zeigen, dass sie demokratisch sind und bleiben wollen. Natürlich blieben die Überwachungskommandos der Westwälder nicht untätig. Doch ihre Methoden waren diskreter, technisch versierter und daher umso effizienter.

Nach dem Zusammenschluss ging es mit der glorreichen Humanitätsphase bedauerlicherweise vorbei. Viele sehnen jene Zeit zurück, denn es war doch alles besser damals als die Vorhänge aus Eisen waren und die Gefangenen in Eintracht und Harmonie mit den Wächtern lebten. Jetzt müssen die Ostwälder mit ihren Brüdern in der Ausübung von Rassismus Schritt halten, aber da fehlt es leider Gottes an Erfahrung. Also gehen sie momentan ziemlich plump vor, jagen einem Fremden hinterher, schlagen ihn tot oder zum Krüppel, zünden ein Asylantenheim an... Es besteht aber die Hoffnung, dass sie im Laufe der Zeit ihre Methoden etwas verfeinern, lernfähig sind sie ja.

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Im Schatten der Eiche

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