Читать книгу Glücklose Heimkehr - Zacharias Mbizo - Страница 6
Die Wirklichkeit – ein Traum
ОглавлениеAls ich nach meinem Tod noch einmal in die Welt zurückgeworfen wurde, war alles so, als wäre ich nie weg gewesen. Ein sonniger Oktobertag hüllte den Park in der Nähe meiner Wohnung in jenes milchige Licht, das die Dinge aus ihrem So-Sein befreit und sie für Traum und Verwandlung öffnet. Das mattere Grün der Blätter wies an manchen Stellen schon gelbe und rote Tupfer auf, und das sonnengesprenkelte Laub war bereits von jenem kaum merklichen Zittern erfasst, das die Ewigkeit des Augenblicks mit der Ahnung des baldigen Vergehens verbindet. Todestrunken entfalteten die Astern in der angrenzenden Kleingartenkolonie ihre violette Pracht.
Unbekümmert schlenderte ich über die Wege, die übersät waren von frischen Kastanien. Schmeichlerisch glitten sie durch die Hände und weckten dabei die Erinnerung an die große, wärmende Hand der Mutter, in der man als Kind seine Finger versenkt hatte. Unmittelbar vor mir huschte ein Eichhörnchen über den Weg, flog auf der anderen Seite den Stamm einer alten Eiche hinauf und stürzte sich von dort in routinierter Akrobatik in das Geäst des benachbarten Walnussbaums. Vielleicht war es gerade dabei, seinen Wintervorrat zusammenzutragen.
Von den Kunststücken des flinken Nagers abgelenkt, wäre ich beinahe mit einer alten Frau zusammengestoßen, die in einem Einkaufswagen ihre morgendliche Beute hinter sich herzog. Sie beachtete mich allerdings gar nicht, sondern durchfurchte weiter unbeirrt den aufgeweichten Weg.
Ich ließ mich auf eine Bank fallen und blinzelte in das weit verzweigte Astwerk des Flügelnussbaums über mir, an dem noch die vergilbten Blütenstände des Frühlings baumelten. Ja, dachte ich, alles ist wie immer. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass in dieser beglückend gleichförmigen Normalität etwas so erschreckend Anormales wie mein eigener Tod Wirklichkeit werden könnte. Ich war fest davon überzeugt, dass ich diesen nur geträumt hatte. Selbst das ziellose Umherirren im Park, das für mich – zumal zu dieser frühen Stunde – ganz ungewöhnlich war, konnte ich mir auf diese Weise erklären. Offenbar hatte der Schock über den abscheulichen Traum mich vorübergehend aus der Bahn geworfen.
Da ich mir nicht sicher war, welcher Tag gerade war, warf ich am Kiosk an der Ecke, wo der Park von einer Straße durchschnitten wurde, einen Blick auf die ausgelegten Zeitungen. Unisono verkündeten sie: Montag, 6. Oktober. Eine für mich durchaus beglückende Auskunft – denn die Montage waren wegen der Wochenendvorstellungen probenfrei. Ich musste also nicht ins Theater gehen. So machte ich mich wie selbstverständlich auf den Weg nach Hause.
Vom Park bis zu der Wohnung, die ich gemeinsam mit meinem Freund Salvatore bewohnte, hatte ich nur wenige Schritte zu gehen. An der Kreuzung, wo die aus dem Park kommende Straße mit der Hauptstraße zusammenstieß, schleppte der Gemüsehändler gerade die letzten Obststeigen nach draußen. Vor dem Wirtshaus gegenüber wischte die Küchenhilfe das Angebot des Vortags aus und kritzelte das aktuelle Tagesmenü auf die Tafel: Jägerschnitzel mit Kroketten und Salat, das Ganze für 8.50 Euro. Aus der Bäckerei nebenan drang der Geruch frischer Brötchen auf die Straße und weckte in mir – obwohl ich seltsam appetitlos war – die Lust auf ein ausgedehntes Frühstück mit Salvatore.
Vor dem Wohnblock angelangt, in dem ich zu Hause war, stellte ich fest, dass ich keine Schlüssel dabei hatte. Ich musste sie wohl bei meinem überstürzten Aufbruch auf dem Tisch liegen gelassen haben. Kein Problem, dachte ich, Salvatore wird bestimmt daheim sein. Schließlich genoss er in seinem Job als Werbetexter das Privileg, vormittags von zu Hause aus arbeiten zu dürfen. Die kreativen Meetings der Mitarbeiter und auch die Kundenbesprechungen wurden in der Regel auf den Nachmittag gelegt.
Ich drückte also auf den Signalknopf der Gegensprechanlage – und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis aus dem Lautsprecher die vertraute Stimme Salvatores drang: "Ja? Hallo?"
"Ich bin's", entgegnete ich. "Ich hab' den Schlüssel vergessen."
Anstatt dass der bekannte Signalton erklang – zum Zeichen, dass sich die Haustür nun öffnen ließ –, schnarrte es mir jedoch ungeduldig aus dem Lautsprecher entgegen: "Hallo? Wer ist denn da?"
"Ich bin's – Achmet", setzte ich noch einmal, nun etwas lauter, an. "Ich …"
Aber ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, hörte ich Salvatore verärgert murmeln: "Immer diese Rotzgören …" Offenbar nahm er an, man hätte ihm einen Streich gespielt.
So musste ich wohl davon ausgehen, dass die Gegensprechanlage kaputt war – wobei es freilich merkwürdig war, dass ich Salvatore hören konnte, meine Worte aber nicht zu ihm vordrangen. Während ich nach meinem Handy tastete, um Salvatore anzurufen, öffnete sich plötzlich die Haustür, und Frau Grabowski trat auf mich zu. Sie wohnte in der Wohnung unter uns und hatte sich schon des Öfteren über vermeintliche Lärmbelästigung durch uns beschwert. Einmal hatte sie sogar von uns verlangt, nachts die Klospülung nicht zu betätigen. Wahrscheinlich bestand die Belästigung für sie schlicht darin, dass über ihr zwei Männer zusammenlebten. Aber das konnte sie natürlich nicht offen sagen.
"Morgen", grummelte ich dementsprechend knapp, während ich versuchte, mich an der Berufsnörglerin vorbeizumogeln. Sie aber blieb, ohne mich zu beachten, vor der Türschwelle stehen und kontrollierte in – so schien es mir – aufreizender Weise, ob die Tür hinter ihr wieder ins Schloss gefallen war.
Ich war von der Dame zwar einiges an Frechheiten gewohnt. Einen abschätzigen Blick oder eine ihrer üblichen spitzen Bemerkungen hätte ich wohl auch entsprechend zu kontern gewusst. Die demonstrative Missachtung meiner Person verblüffte mich jedoch so sehr, dass ich mit offenem Mund stehen blieb und mich erst zu echauffieren begann, als Frau Grabowski bereits um die Ecke gebogen war.
Unwillkürlich drückte ich gegen die Haustür. Manchmal schloss sie nicht richtig, und wenn ich Glück hatte …. Tatsächlich fand ich mich kurz darauf im Hausflur wieder. Merkwürdigerweise konnte ich mich jedoch nicht daran erinnern, die Tür geöffnet zu haben. Ich hatte vielmehr das Gefühl, geradewegs durch sie hindurchgeglitten zu sein.
Ich führte den seltsamen Eindruck auf meine Übermüdung zurück und machte mir weiter keine Gedanken darüber. Froh, endlich im Haus zu sein, stieg ich in den vierten Stock hoch, wo sich die Wohnung von mir und Salvatore befand. Oben angelangt, drückte ich in einer kurzen Aufwallung von Lebensfreude gleich mehrmals hintereinander auf die Klingel.
Schritte näherten sich, und unmittelbar darauf zeigte sich die muskulöse Gestalt Salvatores im Türrahmen. "Du, die Gegensprechanlage muss kaputt sein", begann ich. "Ich hab' dich prima gehört, aber du hast anscheinend …"
Ich brach mitten im Satz ab, denn es war offensichtlich, dass Salvatore ebenso wenig von mir Notiz nahm wie Frau Grabowski. Er blickte nach links, er blickte nach rechts, ja, er schien mitten durch mich hindurchzusehen. "Wirklich ein ganz toller Scherz!" rief er dann den nicht existenten Rotzgören zu, von denen er wohl annahm, sie hätten sich irgendwo im Hausflur versteckt. "Ganz originell! Nie da gewesen!"
Während er erbost die Tür zuknallte, trat ich einen Schritt nach vorn. Ohne dass die Tür mich gestreift hätte, gelangte ich ins Innere der Wohnung. Nun stand ich da, ein Einbrecher in die eigenen vier Wände. Ich ließ meinen Blick durch die vertrauten Räumlichkeiten wandern. Die durchgesessenen Polster des Fernsehsessels, der Harlekinkalender, die Spuren der Teetasse auf dem Tisch – alles erinnerte an mich. Meine Anwesenheit hatte sich den Dingen eingebrannt, mein Dasein war unabweisbar, und doch tat Salvatore hartnäckig so, als wäre ich nicht da. Fassungslos sah ich zu, wie er fortfuhr, mich wie Luft zu behandeln. Seelenruhig ging er an seinen Computer zurück, von dem ihn offenbar die Türklingel weggerufen hatte.
Im Fall von Frau Grabowski hatte ich ja die provokante Missachtung meiner Person – so sehr ich mich auch darüber geärgert hatte – noch irgendwie nachvollziehen können. Bei Salvatore hatte ich jedoch keine Erklärung dafür. Wollte er mir etwa einen Streich spielen? Oder war er mir wegen irgendetwas böse? Aber was sollte das sein? Ich konnte mich jedenfalls an keinen Streit mit ihm erinnern.
Ich folgte Salvatore zum Computer, stellte mich hinter ihn und überflog den Text der E-Mail, an der er gerade schrieb:
"… bin ich Dir wirklich sehr dankbar für Deine warmen Worte. Die letzten Wochen waren in der Tat nicht einfach für mich. Das alles ist ja völlig unerwartet über mich hereingebrochen, ich war lange Zeit wie betäubt. Und dann auch noch all der Papierkram, der in so einem Fall zu erledigen ist … Es wäre wirklich schön, wenn wir uns mal wieder sehen könnten. Lass uns einfach die Vergangenheit ruhen und noch einmal von vorn anfangen. Seit Achmets Tod …"
Weiter kam ich nicht. Meine Augen sogen sich fest an diesen drei Worten: "Seit Achmets Tod". Dann war es also doch wahr? Hatte ich meinen Tod doch nicht nur geträumt, sondern war tatsächlich gestorben? Aber wie konnte ich zugleich da sein und nicht da sein? Wie war es möglich, dass ich mein Hier-Sein genauso deutlich empfand wie früher, während ich für andere nicht mehr existent war?
Mein Blick fiel auf eine Zeitungsseite, die neben dem Computer, halb begraben unter diversen anderen Unterlagen, vor sich hin gilbte. Jemand – wahrscheinlich Salvatore – hatte einen Bericht mit Textmarker angestrichen: "Schauspieler bricht während Vorstellung tot zusammen", las ich. Ich zuckte zusammen: Genau wie in meinem Traum! Sollte sich am Ende alles so zugetragen haben, wie ich es geträumt zu haben meinte? Ich schaute nach dem Datum über der Zeitungsnotiz: Montag, 1. September. Demnach wäre ich also schon vor fünf Wochen gestorben. Oder war das Ganze womöglich doch ein Irrtum? Hatte man mich vielleicht mit jemandem verwechselt oder vorschnell für tot erklärt und scheute sich jetzt, das Tableau der Lebenden noch einmal durcheinanderzuwürfeln?
Ich beschloss, alle Zurückhaltung aufzugeben. Nun wollte ich wenigstens Gewissheit haben! Ich klopfte Salvatore auf den Arm – aber er schrieb unbeirrt weiter. Ich stieß ihn in die Seite – er blickte weiter ungerührt auf den Monitor. Ich schüttelte ihn mit aller Macht – er blieb kerzengerade sitzen.
In einem letzten, verzweifelten Versuch, auf mich aufmerksam zu machen, schlug ich schließlich mit der Hand gegen den Bildschirm. Aber auch dieser missachtete meine Existenz und ließ sich keinen Millimeter von mir bewegen. Seltsam, dachte ich – wieso hatte ich dann die Türklingel betätigen können? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich offenbar nur dann in das Weltgeschehen eingreifen konnte, wenn dadurch kein fremdes Weltbild beeinträchtigt wurde. Indirekt konnte ich anscheinend sehr wohl in Erscheinung treten. Sobald ich aber durch mein Tun unmittelbar mit einem anderen Sein in Berührung kam, war alles, was durch mich geschah, im selben Augenblick aus dem Buch des Lebens gelöscht.
Während sich diese Erkenntnis in mir Bahn brach, stand Salvatore auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Ich sah ihm zu, wie er eine Tasse aus der Spüle nahm, sie kurz unter dem Wasserhahn abschwenkte, wie er die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine nahm und die schwarze Brühe in die Tasse goss. Und auf einmal, ohne dass ich es selbst gleich bemerkt hätte, verwandelte sich meine Verzweiflung in Wut. Ich erklärte mir das zunächst mit der Enttäuschung darüber, dass Salvatore augenscheinlich im Begriff war, sich schon jetzt, wenige Wochen, nachdem ich aus seinem Leben verschwunden war, mit seiner verflossenen Liebe über den Verlust hinwegzutrösten.
Natürlich, Salvatore konnte nicht für den Rest seines Lebens in Sack und Asche gehen und allen Freuden des Daseins entsagen, nur weil es mich nicht mehr gab. So war nun einmal der Lauf der Dinge, sagte ich mir, irgendwann musste man die Trauer hinter sich lassen – wie hätte man denn sonst weiterleben sollen?
Allerdings war das nur die Sprache der Vernunft. Mein Gefühl sagte mir etwas ganz anderes. Es erinnerte mich an jene Vogelarten, bei denen der überlebende Teil sich verhungern lässt, wenn sein Partner gestorben ist. War die Liebe hier also ein stärkeres Band, bewirkte sie eine unbedingtere Bindung an ein anderes Leben, als es beim Menschen der Fall war?
Aber vielleicht war die Enttäuschung über Salvatores Untreue noch nicht einmal der entscheidende Funke, der das Feuer meiner Wut zum Lodern brachte. Noch stärker wog wohl das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeschlossenseins, die Verbitterung darüber, nur noch Zuschauer des Weltentheaters sein zu dürfen, während Salvatore nach wie vor nach Herzenslust auf dessen Bühne agieren durfte.
Ein Instinkt begann sich in mir zu regen, den ich noch nie zuvor gespürt hatte, ein Instinkt, von dem ich sofort wusste, dass es nicht der eines lebendigen Wesens war. Eine kaum zu bändigende Zerstörungslust stieg in mir auf, die sich wahllos gegen alles Leben in meiner Umgebung richtete. Ohne zu wissen, was ich tat, bewegte ich mich auf Salvatore zu, ich erhob meine Hände, schon umfächerten sie seinen Hals … Und seltsam: Jetzt, da ich meine Energie aus meinem Vernichtungswillen sog, schien er meine Anwesenheit plötzlich zu spüren. Er erschauerte, als hätte ein kalter Windstoß ihn erfasst.
Ich begriff, dass offenbar allein mein Destruktionstrieb mir zu jener Energie verhelfen konnte, die ich brauchte, um vor anderen Gestalt anzunehmen – und dass ich gleichzeitig jene, die Zeuge dieses Verwandlungsaktes wären, dadurch mit mir in den Abgrund des Nichtseins hinabreißen würde.
Es war keinesfalls eine plötzliche Aufwallung von Mitleid, was mich davon abhielt, meinem neu gewonnenen Instinkt zu folgen. Vielmehr streifte mich im selben Augenblick eine Ahnung, eine halb unbewusste Erinnerung an das Ziel, das mit meiner Rückkehr in die Welt verbunden war. Und ebenso intuitiv verstand ich, dass dieses Ziel für mich unerreichbar geblieben wäre, wenn ich meiner Zerstörungslust nachgegeben hätte.
Unmittelbar darauf befand ich mich wieder draußen auf der Straße. Ich sage 'draußen', obwohl dieses Mal kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass ich übergangslos von einer Sphäre in die andere geglitten war, es für mich also kein 'Draußen' und kein 'Drinnen' mehr gab – aber ohne derartige Kategorien lässt sich das innerweltliche Geschehen nun einmal nicht beschreiben.