Читать книгу Glücklose Heimkehr - Zacharias Mbizo - Страница 7

Ein Traum wird wahr

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Ganz allmählich tropften nun all die Bilder in mein Gedächtnis zurück, von denen ich angenommen hatte, es handle sich dabei um Traumsequenzen. Ich sah mich in einer unüberschaubar großen Halle sitzen, in der Tausende, wenn nicht Zehntausende heruntergekommene Gestalten auf abgewetzten Bänken kauerten. Das Ganze erinnerte entfernt an die trostlosen Wartesäle, die es früher auf den Bahnhöfen der großen Städte gegeben hatte. Ein bisschen wirkte es auch wie eine gigantische Armenküche. Eine Art Nebel, ein Dunst wie nach einem sich verziehenden Feuer hatte sich in dem Raum ausgebreitet, so dass die einzelnen Gestalten nur schemenhaft zu erkennen waren.

Obwohl mich die Szenerie vom Äußeren her an einen Bahnhof erinnerte, fühlte ich mich doch eher wie im Wartezimmer eines Arztes oder einer Behörde. Unwillkürlich schaute ich mich nach dem Automaten mit den Nummern um, die man ziehen musste, um aufgerufen zu werden. Als ich mir aber in der stickigen Luft reflexartig mit der Hand über die Stirn wischte – was unsinnig war, da ich überhaupt nicht schwitzte –, bemerkte ich, dass auf meinem Handrücken bereits eine Nummer eingraviert war: 4995. Wenn die Nummern nicht über mehrere Tage hinweg fortlaufend vergeben wurden, sondern die Zählung jeden Tag bei '1' begann, musste es eine Ewigkeit dauern, bis ich an der Reihe wäre.

Seltsamerweise regte ich mich darüber in keiner Weise auf. Es war mir nicht nur völlig gleichgültig, dass, sondern auch, worauf ich warten musste. Zeit spielte nicht nur keine Rolle mehr für mich – ich hatte vielmehr jedes Zeitgefühl verloren.

Allerdings schien das, worauf man hier wartete, auch nicht viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Ständig verschwanden einige der Wartenden aus der Halle, immer mehrere auf einmal, was auf eine zügige Abfertigung hindeutete. Freilich wurde der Wartesaal dadurch keineswegs leerer, da pausenlos Neuankömmlinge eintrafen, die sich auf die Plätze der Abberufenen setzten.

Interesselos ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Dabei stellte ich fest, dass es sich bei den abgerissenen Gestalten, die ich zunächst für Obdachlose oder Bettler gehalten hatte, nicht etwa um menschliches Treibgut handelte, um jene unschleifbaren Brocken, welche die Gesellschaft als unverdaulich ausgespien hatte. Stattdessen waren sie alle so stark vom Tod gezeichnet, dass sie bereits dessen Kleider zu tragen und mit dessen Stimme zu sprechen schienen. Bei manchen machte sich dies lediglich durch eine unnatürlich gelbe oder bläuliche Verfärbung des Gesichts bemerkbar. Anderen aber fehlten komplette Gliedmaßen, und in einigen Fällen war es mir sogar, als fände sich dort, wo der Kopf hätte sein sollen, nur ein behelfsmäßiger Ersatz, eine Art durchscheinende Büste.

"Na, auch aus'm Nahen Osten?" hörte ich neben mir jemanden fragen. Ich wandte mich um, doch die Frage richtete sich an den Sitznachbarn auf der anderen Seite.

"Nee, aus Kalabrien", murmelte dieser abweisend. Sein Gesicht war wie das des Fragestellers nur noch eine breiige Masse aus Blut und Fleischklumpen. Da der Andere ihn verständnislos ansah, ergänzte er: "'Ndrangheta – capisc'?"

Der Mann neben ihm schüttelte geistesabwesend den Kopf. Es blieb unklar, ob er die Worte nicht verstanden hatte oder ob seine Gedanken nur nicht mehr den Nebel durchdringen konnten, der hier wie ein schweres Betäubungsmittel in die Köpfe einsickerte.

Mein Blick fiel auf ein großes, schon halb verwittertes Schild, das an der Stirnseite des Saales hing. "Wartesaal des Todes", las ich. Das erklärte natürlich einiges. Ich wunderte mich allerdings, dass ich die Schrift überhaupt entziffern konnte. Denn das Schild war in einer Sprache verfasst, von der ich noch nie gehört hatte. Ich war mir nur sicher, dass sie uralt sein musste. Erst jetzt fiel mir auch auf, dass die beiden Männer neben mir sich in eben dieser Sprache unterhalten hatten. War das hier also die allgemeine Umgangssprache? Aber wie konnte es sein, dass man sie nur deshalb beherrschte, weil man sich in diesem Saal aufhielt?

"Na, mein Söhnchen, du hast's aber gut getroffen – wohlbehalten wie Adonis!" sprach mich plötzlich jemand von der Seite an. Es war die Gestalt zu meiner Linken, die mich offenbar schon eine Weile lang aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. Ihr Gesicht war so eingefallen, dass ich nicht sagen konnte, ob es das eines Mannes oder das einer Frau war. Seltsam war auch, dass die Hohlwangigkeit zwar die Assoziation an einen Greis weckte, gleichzeitig aber die ledrige Gesichtshaut wie die einer Mumie und eben deshalb alterslos wirkte. Es war daher keineswegs nur Höflichkeit, als ich erwiderte: "Sie haben sich aber auch gut gehalten."

Die Gestalt winkte ab: "Ach, das scheint nur so!" Damit schlug sie den Umhang zurück, in den sie gehüllt war, und gab den Blick frei auf einen Bauch, der zerklüftet war wie ein exotischer Pilz. "Alles klar?" fragte sie knapp, und wollte dann wissen: "Und du? Was hat dir den Garaus gemacht?"

Verständnislos sah ich in das ausgemergelte Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was die Frage bedeutete und worauf sie abzielte. Offenbar ging die Gestalt davon aus, dass auch ich tot war, und wollte nun wissen, woran ich gestorben war. Sobald ich dies erkannte hatte, war es vorbei mit meinem Gleichmut. Hektisch wehrte ich die Frage ab: "Ach, das … das ist nicht so, wie es scheint. Ich bin nur aus Versehen hier."

Ein maliziöses Lächeln verzog das Gesicht neben mir zu einer Fratze: "Das denkt so mancher … Aber glaub mir, Söhnchen: Hierher kommt niemand 'aus Versehen'."

Beunruhigt und verärgert wandte ich mich von der aufdringlichen Person ab – was diese mit einem heiseren Kichern kommentierte. Ich aber achtete schon gar nicht mehr auf sie. Für mich zählte nun allein die Frage, ob ich – da ich mich ja unbestreitbar in diesem "Wartesaal des Todes" befand – tatsächlich mein Leben verloren hatte. Aber hätte ich mich daran nicht erinnern müssen? Ich schloss die Augen, angestrengt spähte ich in den dunklen Wald meiner Vergangenheit – aber da war nichts. Es war, als hätte jemand den kompletten Tresor meiner Erinnerungen leer geräumt. Andererseits: Deutete nicht gerade die Tatsache, dass ich mich an keinerlei Unfall oder an eine schwere Krankheit entsinnen konnte, darauf hin, dass ich fälschlicherweise hier gelandet war?

Viel hätte ich darum gegeben, mich in einem Spiegel betrachten zu können, um das innere Empfinden dem äußeren Erscheinungsbild gegenüberzustellen. Aber in dem ganzen großen Saal gab es nirgends auch nur die Andeutung von Glas oder wenigstens von etwas Metallischem, in dem man sein Ebenbild hätte betrachten können.

Während ich eben aufstehen wollte, um mich noch einmal genauer in der Halle umzusehen, spürte ich an der Stelle, wo die Nummer in meinen Handrücken eingraviert war, ein leichtes Stechen. Es war ein Lockruf, dem ich mich nicht entziehen konnte. Instinktiv strömte ich mit den anderen, die mit mir aufgerufen worden waren, einem unsichtbaren Tor entgegen, durch das man diesen unwirtlichen Ort verlassen konnte.

Kurze Zeit darauf fand ich mich in einem Raum wieder, der in allem das vollständige Gegenteil der dämmergrauen Wartehalle darstellte. Alle Wände bestanden aus Glas, auch die Decke und der Fußboden, so dass der Blick sich überall im Blau des Himmels verlor. Es war, als würde man schweben. Anscheinend war der Raum wie eine Wabe an das übrige Gebäude angebaut und mit diesem nur verbunden wie ein Schwimmer, der eben im Begriff ist, sich vom Beckenrand abzustoßen.

Mir gegenüber, bis zur Hüfte verdeckt durch eine Art Theke, erblickte ich eine Gestalt, welche die gravitätische Anmut eines Apostels ausstrahlte. Über dem bodenlangen Gewand, das den Körper umspielte wie eine sich ständig erneuernde Welle, schimmerte mir ein faltenfreies Gesicht entgegen. Die Haut war so zart, dass sie fast schon transparent wirkte, wie bei einer Fata Morgana.

Das Tun der anmutigen Gestalt war allerdings weit profaner, als es das grazile Äußere vermuten ließ: Sie blätterte erkennbar gelangweilt in einem Aktenordner. Ich wunderte mich, dass mir nicht – wie in solchen Fällen üblich – angeboten wurde, Platz zu nehmen. Dann jedoch stellte ich fest, dass es in dem ganzen Raum nirgends Sitzgelegenheiten gab. Auch mein Gegenüber schien hinter seinem Arbeitsplatz zu stehen – auch wenn ich nicht erkennen konnte, ob seine Füße den Boden berührten.

"Haben Sie sich schon in das Buch des Todes eingetragen?" fragte mich mein Sachbearbeiter lapidar, als er meinen Vorgang gefunden hatte. Das Blau seiner Augen war so ungetrübt, dass seine Reinheit an die absolute Leere grenzte. Mich schwindelte. Es war, als würde ich in einen tiefen, grundlosen Brunnenschacht blicken.

"Nein", murrte ich, verärgert durch die Beiläufigkeit, mit der man mir diese Ungeheuerlichkeit abverlangte. "Und ich werde das auch nicht tun."

Mein Gegenüber neigte den Kopf leicht zur Seite. "Dann haben Sie also noch nicht Ihren Frieden gemacht mit dem Unabänderlichen?" Aus seinem Blick sprach jetzt das überlegene Wissen des Therapeuten.

"Wie könnte ich meinen Frieden machen mit etwas, das ganz und gar unfriedlich ist?" fragte ich unwirsch zurück.

Ein Anflug von Ironie huschte über das durchscheinende Gesicht. "So-so … Dann haben wir es hier also mit einem passionierten Empörer zu tun? Mit jemandem, der sich auch gegen das Unausweichliche auflehnt?"

"Ganz richtig!" bekannte ich. "Denn nur so bekommt das Leben einen Sinn."

Der Sachbearbeiter lächelte nachsichtig: "Und wie kommen wir in diesem speziellen Fall zu der Ehre, das Objekt Ihrer Auflehnungsbegierde zu sein?"

Ich wollte wieder zu einer allgemeinen philosophischen Erklärung ausholen, doch genau in dem Moment blitzten Bruchstücke meiner verschüttet geglaubten Erinnerung in mir auf. Ich sah mich vor einem großen Spiegel sitzen, ich war ich selbst und zugleich jemand anderer, meine Hand streckte sich nach einem Glas aus, ich trank daraus, ein bitterer Geschmack legte sich um meine Zunge …

Obwohl es mir nicht gelang, die Erinnerungssplitter zu einem Ganzen zu ordnen, bestärkten sie mich doch in der Gewissheit, zu Unrecht an diesen Ort entführt worden zu sein. "Meine Zeit war noch nicht gekommen", erwiderte ich daher mit fester Stimme. "Man hätte mich der Welt noch nicht entreißen dürfen."

"Hm", machte mein Gegenüber, sich mit den Fingern über das Säuglingskinn streichend. "So etwas ist ja im Grunde gar nicht möglich …"

"Ach was", wischte ich seine Bedenken beiseite. "Jeder macht mal Fehler."

"Nun gut", gab der Sachbearbeiter schließlich nach. "Wenn sie durchaus der Meinung sind, dass hier etwas nicht korrekt abgelaufen ist, müssen Sie einen Antrag auf Abberufungsüberprüfung stellen. Ich mache Sie allerdings darauf aufmerksam, dass Sie dafür in die Kammer der Erinnerung hinabsteigen müssen."

Müssen? Ich war doch nur froh, wenn man mir das zurückgab, was man mir gestohlen hatte! "Na und?" entgegnete ich daher achselzuckend. "Ich wüsste nicht, was mich davon abhalten sollte."

Ein vieldeutiges Lächeln war die Antwort. Dann sah ich, wie feingliedrige Finger in einen Aktenordner glitten und ein unscheinbares Antragsformular herauszogen. Sobald ich das Dokument, das sich seltsam ledrig anfühlte, berührte, war es, als würde sich der Boden unter mir auftun. Ich fiel und fiel, ich stürzte durch einen Abgrund, der wie ein Tor zu einer anderen Welt war. Dann war es auf einmal ganz dunkel um mich her. Offenbar war ich in der Kammer der Erinnerung angekommen.

Von irgendwoher drangen Geräusche an mein Ohr: ein leises Wimmern, ein Schluchzen, ein Aufheulen. Offenbar war ich also nicht allein an diesem Ort. Ich riss meine Augen auf, um meine Umgebung zu erkunden, aber die Finsternis war so undurchdringlich, dass ich nicht das Geringste erkennen konnte. Auch meine Versuche, mich tastend zu orientieren, waren nicht von Erfolg gekrönt. Boden und Wände boten meinen Händen keinen Halt, sie schienen keine feste Struktur zu haben. Je nachdem, an was ich gerade dachte, fühlten sie sich mal steinhart und mal samtweich an.

Seltsam, dachte ich – warum hier wohl niemand lachte? Wenn dies eine Kammer der Erinnerung war, mussten doch auch glückliche Tage vor dem inneren Auge auftauchen. Oder war der Schmerz womöglich untrennbar mit dem Wesen der Erinnerung verbunden? Schließlich wurde dieser einem ja nicht nur dadurch zugefügt, dass man unangenehme Erlebnisse noch einmal durchleiden musste. Vielmehr ging auch die Erinnerung an schöne Tage und freudige Ereignisse stets mit dem Bedauern darüber einher, dass diese der Vergangenheit angehörten.

Während die äußere Welt für mich in tiefstes Dunkel gehüllt blieb, entrollte sich in meinem Innern ein ganzer Kosmos aus Bildern, Tönen und Gerüchen. Ein kleiner Junge warf mir einen schelmisch-verlegenen Blick zu, im Arm eine Schultüte wie eine umgedrehte Rakete. Hinter ihm ist eine Art Verwaltungsgebäude zu erkennen, mit Fenstern, die wie von hochgezogenen Augenbrauen abgerundet sind. Streng blicken sie aus einer steifen Fassade auf den Jungen herab.

Ja, denke ich, das bin ich vor der alten Schule, das Foto hing lange in meinem Kinderzimmer. Aber plötzlich ist es, als würde ich in das Foto eintreten, ich spüre wieder den Besitzerstolz, der mich erfüllte, als ich die raschelnde Abdeckung oben an der Schultüte zerriss und in diese hineingriff, als meine Hände die Millionen von Schokolädchen ertasteten und dann ganz unten auf das Matchbox-Autor stießen, das ich mir so sehr gewünscht hatte.

Dann ist es plötzlich wieder ganz dunkel, dieses Mal kommt die Dunkelheit aber von innen heraus. Ich trotte langsam über einen Kiesweg, ein breiter schwarzer Rücken versperrt mir die Sicht, es ist der Rücken meines Onkels – und plötzlich weiß ich: Das ist die Beerdigung meines Cousins, er hat sich von einer Brücke gestürzt, mit Mitte 20, verfolgt von Stimmen, die ihn aus Duschköpfen und Steckdosen heraus angeraunt hatten, von stechenden Blicken, die ihm im Dunkeln aufgelauert hatten, von finsteren Mächten, die sein Essen vergiftet und seine Getränke radioaktiv verseucht hatten, so dass er nichts zu sich nehmen konnte, ohne sich hinterher vorsichtshalber zu übergeben.

Ohne jede Ordnung stürzen die Erinnerungsfragmente auf mich ein: der durchdringende Klagelaut meines vergifteten Hundes, der sich mit letzter Kraft nach Hause geschleppt hat, sein fassungsloser Blick, als er erkennt, dass ich, sein Herr und Gott, das Leben nicht in ihn zurückzaubern kann; der verheißungsvolle Atem eines Parfums, der sich auf samtener Haut mit dem sehnsuchtsschweren Duft des Weißdorns verbindet, diesem Duft, der auch durch das geöffnete Fenster eines Büroraums dringt, dort aber von erkaltetem Zigarettenrauch erstickt wird, Staubkörnchen tanzen in der Luft, an den Wänden Regale, vollgestellt mit Aktenordnern und Büchern, der Schatz des Wissens, sauber filetiert, draußen ein Schild: "Prüfung! Bitte nicht stören!", Fragen knallen wie Pistolenschüsse; dann plötzlich ein Teich, Sonnenperlen glitzern auf seiner Oberfläche, der Duft frisch gemähten Heus streicht über das Wasser, das mich weich in sich aufnimmt, ich liege auf dem Rücken, meine Augen trinken das durch die Bäume blinzelnde Licht …

Hoffnungslos versank ich in dem Strom der Erinnerungen. Ich wusste zwar, dass ich eigentlich wie ein Angler an seiner Seite hätte stehen und auf jene Flaschenpost hätte lauern müssen, die es mir erlauben würde, meinen "Antrag auf Abberufungsüberprüfung" zu begründen. Aber es gelang mir einfach nicht, mich von dem Wellenschlag der Erinnerung zu lösen. Ich war fest darin verwoben, oder vielmehr: Ich selbst war dieser Strom, der sich zum Meer weitete, es gab für mich keinen Platz außerhalb seiner Gezeitenschaukel.

Trotzdem blieb ich ruhig. Denn ich fühlte in mir die Gewissheit, dass ich irgendwann auf jenes Bruchstück meiner Vergangenheit stoßen würde, mit dem ich den Beweis führen könnte, unrechtmäßig aus dem Weltengeschehen herausgelöst worden zu sein.

Und tatsächlich: Auf einmal umwölkt mich die staubige Luft eines hohen, fensterlosen Saales, mein Blick fällt auf rote, von unzähligen Hintern eingedrückte Plüschpolster, sie gehören zu Klappstühlen, die im Halbrund hintereinander aufgereiht sind, in den Seitengängen geistert das Notlicht um die Schemen der prachtvollen Wandleuchter, die nun, während der Vorstellung, ausgeschaltet sind. Ich selbst stehe auf der Bühne, das Gesicht gerötet vom Adrenalin des Exhibitionismus und von den Scheinwerfern, die den Zuschauerraum hinter einer Wand aus Lichtreflexen verschwimmen lassen.

Der Vorhang fällt, es ist Pause, ich sitze in meiner Garderobe, ein paar Scherze mit den Kollegen, wir lästern über das Publikum, das an dem Abend etwas steif zu sein scheint. Schon ertönt die zweite Glocke, gleich wird es weitergehen. Noch ein Blick in den Spiegel, ein letztes Herumzupfen am Toupet, ein kräftiger Schluck von meinem Lieblingswasser, das ich immer griffbereit habe, es schmeckt irgendwie anders, bitterer als sonst, dann gebe ich mir einen Ruck, ich möchte zurückgehen zum Bühnenaufgang, aber ich kann mich nicht erheben, es ist, als würde mich ein unsichtbarer Riese gegen die Stuhllehne drücken. Mir wird schwarz vor Augen, ich möchte schreien, aber es dringt nur ein schwaches Röcheln aus meiner Kehle …

Und dann, von einer Sekunde zur anderen, werde ich für mich selbst zu einem Fremden. Ich sehe meinem eigenen Sterben zu, als würden die Bilder einer Überwachungskamera an mir vorbeiziehen: Ich liege am Boden, irgendjemand stößt einen Schrei aus, andere Personen eilen herbei, ich kenne sie, aber ich kann sie nicht erkennen, geschweige denn ansprechen, ich befinde mich in einer Weltraumkapsel, mit rasender Geschwindigkeit entfernt sie sich von dem auf dem Boden liegenden Körper. Ein Arzt beugt sich über das Menschenbündel mit den verrenkten Gliedmaßen, er fühlt ihm den Puls, er drückt mit beiden Händen rhythmisch gegen das Herz, bis der Brustkorb bricht – aber ich spüre nichts, auch nicht, als man den toten Körper auf eine Liege bettet und abtransportiert.

"Schwerer Herzinfarkt", höre ich jemanden murmeln, obwohl ich doch ganz genau weiß: Ich bin vergiftet worden! Es war Mord, ein heimtückischer, perfider Anschlag auf meine Existenz, man hat mir mein halbes Leben gestohlen, meine Zeit war noch nicht gekommen. Ich möchte protestieren, aber mein Kiefer ist erstarrt, ich bringe keinen Ton heraus, und ich kann mich noch nicht einmal darüber aufregen, weil das, was da abtransportiert wird, nichts mehr fühlen kann. Heimatlos schwebe ich über mir selbst, ein verschwimmender Blick über einem verfallenden Leib.

Ebenso plötzlich, wie es sich auf mich herabgesenkt hatte, lichtete sich das Dunkel wieder. Blinzelnd erkannte ich: Ich befand mich wieder in dem Raum aus Glas, ringsum umgeben von unbeflecktem Himmel. Mir gegenüber blätterte der Sachbearbeiter mit dem durchscheinenden Teint in seinen Unterlagen, als hätte ich diesen Ort nie verlassen.

"Tja", murmelte er bedächtig, "wie es scheint, ist Ihrem Antrag tatsächlich stattgegeben worden."

"Dann wird mir also mein Leben zurückgegeben?" fragte ich freudig erregt. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, das Formular ausgefüllt zu haben – aber das war mir in dem Moment auch herzlich egal.

Ein verwunderter Blick traf mich: "Nein, das natürlich nicht …"

"Wie bitte?" rief ich aus. "Was sagen Sie da?" Es war, als hätte man mich ein zweites Mal zum Tode verurteilt.

Die Gestalt in der anderen Ecke verschwamm nun fast vollständig mit dem Licht, das durch die hohen Glasscheiben ins Innere flutete. So hatte ich den Eindruck, als würde mich aus der Tiefe des Alls eine körperlose Stimme anraunen. "Der Tod ist prinzipiell unwiderruflich", hallte es durch den Raum.

Unmittelbar darauf wurde der Ton deutlich jovialer, während mein Sachbearbeiter gleichzeitig wieder klarere Konturen annahm. "Schauen Sie", erläuterte er mir, "das ist wie beim Fußball. Der Tod ist gewissermaßen eine Art Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters. Wenn man sie zurücknimmt, stört man damit nicht nur den Spielfluss, sondern läuft Gefahr, auch die Dynamik des Spielgeschehens zu verfälschen."

"Und was sollte dann dieses ganze Brimborium?" echauffierte ich mich. "Die Kammer der Erinnerung? Dieses dämliche Antragsformular? Warum musste ich mich auf all das überhaupt einlassen, wenn …"

"Weil wir", unterbrach mich mein Gegenüber, "theoretisch nicht ausschließen können, dass es sich irgendwann auch einmal umgekehrt verhält – dass also der Tod eines Einzelnen die Dynamik des Weltgeschehens verfälscht oder gar außer Kraft setzt."

Ich stutzte. Zwar hatte ich nie den Eindruck gehabt, eine vollends bedeutungslose Existenz zu führen oder ohne jeden Einfluss auf meine Umwelt zu sein. Aber eine Änderung der Dynamik des Weltgeschehens, nur weil ich nicht mehr da war? Das schien mir dann doch etwas zu hoch gegriffen zu sein.

"Ich weiß – so etwas erscheint kaum denkbar", räumte der Sachbearbeiter ein, als könnte er meine Gedanken lesen. "Es handelt sich dabei auch um eine rein hypothetische Annahme, um etwas, das uns in der Praxis noch nie begegnet ist. Aber wir müssen nun einmal stets die potenzielle Realität des Außergewöhnlichen in Betracht ziehen. Schließlich wären wir ohne sie ja gar nicht da."

"Und was bringt mir die Bewilligung meines Antrags dann?" hakte ich nach.

Die Antwort klang wie ein Auszug aus einem Gesetzesblatt: "Sie erhalten dadurch das Recht, für einen Zeitraum von maximal vier Wochen in die Welt zurückzukehren. Während dieser Zeit können Sie die Umstände Ihres Todes überprüfen und seine Auswirkungen untersuchen. Damit schaffen Sie selbst die Grundlage, auf der dann später die Entscheidung über eine etwaige Revision Ihres Todesurteils getroffen werden kann."

Der Apostelbürokrat legte eine kurze Pause ein. Dann setzte er mit mahnendem Unterton hinzu: "Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass Ihre neue Existenz nichts mit Ihrer früheren gemein haben wird. Auch wenn Sie sich selbst zunächst fühlen werden, als würden Sie in Ihr altes Leben zurückkehren, werden Sie doch ein völlig anderes Wesen sein. Insbesondere Ihre Gefühle und Instinkte werden in vielem das Gegenteil dessen sein, was Sie von früher her kennen. Das liegt daran, dass Ihre neue Existenz Ihnen nicht aus der Fülle des Seins zuströmt, sondern Ihnen aus dessen absolutem Gegenpol, der völligen Negation des Seins, erwächst. Aus dem Nichts geboren, werden viele ihrer Instinkte auf die Vernichtung des Seins abzielen. Geben Sie ihnen jedoch nach, so wird es Ihnen ergehen wie den Bienen, die mit ihrem Stich zwar ihr Opfer verletzen, dadurch aber zugleich ihr eigenes Existenzrecht verwirken."

Ein letzter feierlicher Blick traf mich: "Wenn Sie Ihren Antrag unter diesen Umständen lieber zurückziehen möchten, so steht Ihnen dies natürlich frei. Noch ist es nicht zu spät dafür."

Meinen Antrag zurückziehen? Jetzt noch? Nachdem ich all die Selbstkasteiungen und Belehrungen über mich hatte ergehen lassen? Ich dachte ja gar nicht daran! Besser eine kurze, fremdartige Existenz als gar keine!

Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Entscheidung laut ausgesprochen oder sie nur in Gedanken formuliert hatte. Jedenfalls handelt es sich dabei um das letzte Element in jenem Reigen bizarrer Träume, als der mir später, als ich mich in dem kleinen Park neben meiner alten Wohnung wiederfand, meine seltsame Reise auf die andere Seite des Seins erschien.

Glücklose Heimkehr

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