Читать книгу Ungewollt kinderlos - ZEIT ONLINE - Страница 2

Einleitung Wer kein Kind bekommen kann, leidet im Verborgenen. Zwar gilt Zeugungsunfähigkeit als medizinisch behebbar, aber sie ist gesellschaftlich ein Tabu.
VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

Оглавление

Ein Kind ist geboren, wenn es das erste Mal gedacht wird. Wer einmal den Gedanken daran zugelassen hat, Nachkommen zu zeugen, der kommt nicht wieder dahinter zurück. In der Fantasie ist das Kind dann schon da, selbst wenn real noch gar nichts dafür getan ist.

Wenige Dinge wirken so stark auf das Selbstbild des Menschen wie die Fähigkeit, sich fortzupflanzen. Drei Viertel aller Deutschen unter 50 Jahren wünschen sich Kinder. Obwohl die Geburtenraten hierzulande sinken, obwohl die Familien kleiner werden und Eltern bei der Geburt ihres ersten Kindes immer älter sind, bleibt die Möglichkeit, Nachwuchs zu bekommen, ein elementarer Bestandteil eines jeden. Wichtiger noch, als Kinder zu haben, ist die Sicherheit, welche haben zu können.

Für mehr als sechs Millionen Bürger ist das ein großes Problem.

Sie haben keine Kinder, obwohl sie sich welche wünschen. Und sie leiden darunter. Ungewollte Kinderlosigkeit ist ein Zustand, der nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Zwar gilt Zeugungsunfähigkeit heutzutage als ein medizinisch behebbares Problem; in der Gesellschaft aber ist sie ein Tabu.

Widerspruch zwischen Medizin und öffentlichem Diskurs

Dieser Widerspruch ist befremdlich. Über Methoden der künstlichen Befruchtung wird viel und detailreich berichtet. Ungewollte Sterilität ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Krankheit anerkannt. Über die Modalitäten von Adoptionen wird gerade wieder lebhaft diskutiert. Doch kaum eine Frau mag über den Kreis ihrer engsten Freundinnen hinaus darüber sprechen, wenn sie Hormone nimmt, um ihre Fruchtbarkeit zu stimulieren – Männer noch viel weniger. Wer wie die Autoren dieses E-Books nach Menschen sucht, die öffentlich über ihre Erfahrungen mit der künstlichen Befruchtung reden und auch über das Scheitern daran, trifft auf große Zurückhaltung. Diejenigen, die sich entschließen, davon zu erzählen, tun es oft nur anonym.

Drei Gründe lassen sich dafür finden. Sie rühren an den Kern unserer Identität. Alle haben wenig mit dem Kind zu tun, sondern viel mit den potenziellen Eltern.

Eigennutz

Erstens: Fragt man Psychologen, warum Menschen sich Kinder wünschen, lautet ihre Antwort fast immer, es gehe um Selbstverwirklichung. Dahinter treten die althergebrachten Motive zurück: Arterhaltung, wirtschaftliche Absicherung, soziale Konformität.

Was den Kinderwunsch vieler Menschen heutzutage antreibt, ist beispielsweise die Vorstellung, mit dem weitergegebenen Leben ein Ebenbild von sich selbst schaffen zu können und so ein Stück Unsterblichkeit zu erlangen. Manche projizieren Glücks- und Heilserwartungen auf das Kind, die das eigene Leben nicht anzubieten hat. Andere hoffen darauf, bedingungslos geliebt zu werden. Oft ist es auch die Angst, im Alter einsam zu sein. "Zutiefst persönliche Ursehnsüchte kreuzen sich hier mit einem utopischen Begehren nach einer besseren Welt", schreibt die Autorin Millay Hyatt über ihre eigene Kinderlosigkeit.

Dieser Egoismus ist Paaren, die kein Problem mit dem Kinderkriegen haben, selten bewusst. Sie werden auch nicht danach gefragt. Doch jene, die sich medizinisch um Nachwuchs bemühen, hören schnell: Warum ist Euch das so wichtig? Ehrlich zu antworten hieße Eigennutz zuzugeben. Oder Naivität. Schweigen aber lässt diese Motive nicht verschwinden. Sie sind tief in uns verankert. Argumente helfen da nicht weiter.

Unwucht in der Beziehung

Der zweite Grund: Der unerfüllte Kinderwunsch untergräbt ein Bild unseres modernen Lebens, nämlich das des emanzipierten und gleichberechtigten Liebespaares. Von außen wird Kinderlosigkeit oft als Problem eines Paares betrachtet. Er und sie können eben keinen Nachwuchs bekommen. So aber ist es nur in einem kleinen Teil der Fälle. Viel öfter könnte sie schon, wenn er fruchtbar wäre; oder umgekehrt.

Das bringt eine gefährliche Unwucht in die Beziehung. Der unfruchtbare Partner muss nicht nur mit der eigenen Unzulänglichkeit fertig werden. Ihn quält auch noch das Schuldgefühl, dem gesunden Gegenüber einen Herzenswunsch, ein zentrales Moment des gemeinsamen Seins vorzuenthalten. Der Gesunde wiederum sieht sich mit einer Entscheidung konfrontiert, die er nie hatte treffen wollen: Mit einem anderen Partner könnte es ja gehen. Warum also zusammenbleiben?

Drittens: Der gesellschaftliche Fortschritt stellt sich zunehmend gegen die Natur. Und es scheint, dass wir noch keine tragfähige Lösung für diesen Konflikt gefunden haben.

Das Problem ist der Zeitpunkt, zu dem der Kinderwunsch heute üblicherweise einsetzt. Viele Frauen in Deutschland bekommen ihr erstes Kind inzwischen erst, wenn sie älter als 30 Jahre sind. Der Anteil der Erstgebärenden über 36 Jahren macht knapp ein Fünftel aller Mütter aus. Viele Frauen sind heute besser ausgebildet als früher. Sie wollen zuerst arbeiten, bevor sie sich auf eine Familie festlegen. Zudem fordert der Arbeitsmarkt von ihnen eine hohe Flexibilität, die schwer mit dem Muttersein zu vereinbaren ist.

Doch die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, liegt bei einer Frau von 30 Jahren nur noch bei rund 60 Prozent, mit 40 Jahren unter 40 Prozent. Wenn viele Frauen sich für ein Kind bereit fühlen, hat fast die Hälfte von ihnen nur noch schlechte Chancen. Und nicht einmal ein Drittel der Versuche künstlicher Befruchtung führt zum Ziel.

Dieses Problem trifft auch die Männer. Obwohl sich die große Mehrheit von ihnen Kinder wünscht, ist der Anteil derer, die dauerhaft kinderlos bleiben, auf fast ein Viertel gestiegen. Und er wächst weiter. Das hat einerseits mit ihren Frauen zu tun. Andererseits unterschätzen viele Männer, dass auch ihre Fruchtbarkeit trotz aller Geschichten über alte Väter begrenzt ist. Dass ein Mann, der älter als 40 Jahre ist, zum ersten Mal Vater wird, ist statistisch selten.

So werden Millionen von Frauen und Männern mit ihren Erwartungen an ihr Leben, den Fortschritt und die Freiheit konfrontiert. Auch mit ihrer eigenen biologischen Verfassung. Viele leiden still darunter, manche zerbrechen daran. Doch andere schaffen es, mit der psychologischen Belastung fertig zu werden. Indem sie die Hoffnung nicht aufgeben. Indem sie andere Wege finden, ihr Leben zu vervollständigen. Oder indem sich der Wunsch nach einem eigenen Kind am Ende doch erfüllt. Davon handelt dieses E-Book.

Zum Weiterlesen

Millay Hyatt: Ungestillte Sehnsucht - Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt erschienen im Ch. Links Verlag, Berlin (2012)

Helga Levend: Warum ein Kind? erschienen in Psychologie heute 6 (2010)

Martin Spiewak: Wie weit gehen wir für ein Kind? erschienen in Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin, Eichborn, Frankfurt am Main (2002)

Ungewollt kinderlos

Подняться наверх