Читать книгу Para - Das Schicksal liegt in euren Händen... - Zeraphina Cloud - Страница 9
ОглавлениеNoch ein Tag
Irgendwann spürte Nex, dass das Buch unter ihmverschwunden war. Verwirrt sah er auf. Er saß aufeinem Stuhl, an einem Tisch, in der Bibliothek. Das Licht, das von draußen hereinschien, wirkte plötzlich trüb. Er hatte Para verlassen. Aber wann? War er etwa beim Lesen eingeschlafen? Nicht zu fassen! So etwas war ihm noch nie passiert. Er setzte sich gerade hin und verzog vor Schmerz das Gesicht. Rückenschmerzen. Auch das noch. Reichte es denn nicht, dass er mit den Überresten der Rauferei von gestern zu kämpfen hatte?
„Nex? Hey, wo bist du denn?“, hörte er Moona rufen. Mit einem Schlag war er hellwach. Wie lange hatte er hier gefehlt? Oder war er einfach verschwunden und Moona hatte sein Fehlen jetzt erst bemerkt? Ja, wahrscheinlich war es ihr bis eben nicht aufgefallen, denn er war die ganze Zeit über in der Bibliothek gewesen. Vielleicht sollte er eine Liste mit dem ganzen Para-Kram anfertigen, das alles war immer noch ziemlich verwirrend, obwohl er sich einige Dinge gut merken konnte, aber das Buch war wirklich dick und umfangreich.
„Ähm, Nex?“ Er seufzte, dann stand er unter Schmerzen auf.
„Ich bin hier“, antwortete er und schon rauschte Moona um die Ecke. Sie sah tatsächlich wie eine professionelle Putzfrau aus, wie sie so den Staubwedel hielt. Und dann hatte sie doch allen Ernstes ein schwarz-weißes Kleid an. Putzfrau durch und durch. Sie starrte ihn perplex an. Stimmt, für sie war nicht eine Sekunde vergangen. Sie blinzelte überrascht, dann atmete sie sichtbar durch.
„Nex! Wow, wie bist du so schnell…“, begann sie, brach jedoch ab. Er musste sie ziemlich verwirren. Nex erinnerte sich daran, wie Liah und Onkel Handix plötzlich verschwunden waren und er eine ganze Weile allein in der Villa gewesen war. Was sollte er jetzt tun? Moona von Para zu erzählen kam überhaupt nicht infrage, aber was sollte er ihr denn sonst sagen? Es war wohl das Beste, wenn er sich dumm stellte.
„Was bin ich?“
Moona wirkte auf einmal unsicher.
„Nun, du warst eben bei mir und dann… warst du plötzlich weg und tauchst hier wieder auf…“ Sie bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick. Lass dir nichts anmerken. Tu einfach so, als sei nichts gewesen. Nex zuckte möglichst lässig mit den Schultern.
„Ja, wir haben uns eben kurz getroffen, aber ich bin doch gegangen“, er runzelte die Stirn, „wissen Sie das nicht mehr? Ich wollte mir ein neues Buch zum Lesen holen, aber bis jetzt habe ich nichts gefunden.“ Die Putzfrau starrte ihn an. Hoffentlich kauft sie mir das ab…
„Ich, ähm, doch, natürlich“, erwiderte sie und wirkte mit jedem Wort etwas verwirrter. Das war besser, als dumme Fragen gestellt zu bekommen, da war Nex sich sicher. Er zwang sich zu einem Lächeln.
„Tja, ich gehe dann mal wieder hoch. Liah wartet bestimmt schon.“ Moona hob fragend die Augenbrauen.
„Wolltest du dir nicht ein Buch holen?“ Verdammt. Jetzt musste er sich schon wieder etwas einfallen lassen.
„Ja, aber ich habe nichts gefunden. Ich kann mich auch später nochmal umsehen.“
Mit diesen Worten eilte er aus der Bibliothek, bevor Moona noch irgendwelche anderen Fragen stellen konnte. Während Nex die Treppen nach oben zum Dachboden eilte, wurde ihm klar, dass ihn Liah aufgrund der Zeitgesetze unmöglich schon vermissen konnte. Diese Sache mit Para brachte ihn völlig durcheinander. Er sollte sich mal etwas Klarheit verschaffen. Und das wiederrum lenkte seine Gedanken auf das, was er zuvor in Para gelesen hatte…
Schneller als gedacht stand Nex vor der Leiter zum Dachboden. Unwillkürlich musste er grinsen. Als Liah und er die Villa am zweiten Tag erkundet hatten, war ihm der Weg hierher wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen, aber in den letzten Tagen war er so oft hoch und runter gerannt, dass er das Gefühl hatte, schon immer hier gewohnt zu haben. Mit einem Schlag war sein Grinsen verschwunden. Nein, so fühlte es sich nicht an. Vor nur wenigen Wochen hatte er ein normales Leben gehabt, mit einer normalen Familie, mit seinem besten Freund Paul und einer Schule, die er kannte und einigermaßen mochte. Hier war alles anders. Im Grunde genommen wusste Nex noch nicht einmal, wo genau sie hier lebten.
Entschlossen schob er diese Gedanken beiseite und betrat den Dachboden. Es roch nach Staub und vielen Jahren, aber daran hatte er sich längst gewöhnt. Überall standen Kisten und einzelne Möbelstücke herum, die sich wohl mit den Jahren angesammelt haben mussten. Nex wusste immer noch nicht, wie Tante Mandi in den Besitz dieser Villa gekommen war und warum sie nie jemand erwähnt hatte. Aber es gab noch so viele andere Dinge, die sie nicht wussten…! Aber eines wusste der Junge jetzt ganz genau. Er bahnte sich einen Weg zur Sitzecke, wo Liah im Schneidersitz auf der alten Couch saß, das Notizbuch auf dem Schoß und ein paar goldbraune Strähnen im Gesicht.
Nex beobachtete sie mit einem traurigen Lächeln. Liah. Sie war so unglaublich tapfer, tapferer, als er es jemals sein würde. Sie hatte nur selten Angst, und wenn, dann scheute sie sich nicht, ihre Angst offen zu zeigen. Sie hatte nur noch einen älteren Bruder und einen mürrischen Onkel, die auf sie aufpassen konnten, keine Eltern mehr. Sie hatte ihre Freunde verlassen müssen. Sie hatte zusammen mit Beatrice, der Freundin ihrer Mama, eine Beerdigung planen müssen. Mit zehn Jahren Vollwaise, und das, obwohl sie nie etwas getan hatte, um so etwas zu verdienen. Wie es mit ihm selbst stand, konnte Nex nicht sagen, aber er wollte sich nur ungern in Selbstmitleid baden, denn er war praktisch alles, was Liah noch hatte. Es war seine Aufgabe, Mama und Papa so gut es ging zu ersetzen, auch, wenn er wusste, dass ihm das niemals wirklich gelingen würde. Manchmal wünschte er sich, seine Eltern um Rat fragen zu können, aber das war nicht möglich. Es war nicht so, als ob sie jetzt in Para waren oder ähnliches…
Liah sah auf und warf ihrem Bruder einen überraschten Blick zu.
„He, Nex, was machst du denn schon hier?“ Sie sah auf seine leeren Hände und sah ziemlich enttäuscht aus.
„Du hast nichts gefunden, was? Aber ich dachte, dass wir uns in deinem Zimmer treffen?“
Was? Oh, richtig. Mist, das hatte er bei all der Aufregung mit Para und Moona völlig vergessen. Er setzte sich neben seine Schwester, die ihn mit neugierigen gelbbraunen Augen ansah.
„Hör mal, ich muss dir etwas erzählen.“ Sie wartete gespannt und Nex musste wieder lächeln.
„Ich bin ganz Ohr.“
„Okay, also: Ich war eben wieder in Para. Als ich in der Bibliothek war. Und frag mich jetzt nicht, wie lange ich dort gewesen bin, ich weiß es nämlich selbst nicht. So, in Para habe ich Glina getroffen und ihr erstmal alles erzählt. Sie war zum Glück nicht sehr böse auf uns. Sie hat die beiden mal gesehen, und – Oh, verdammt, ich habe vergessen zu fragen, ob sie weiß, wo die sind! Na, egal. Auf jeden Fall habe ich Glina gesagt, was wir herausfinden wollen, und sie hat mir geholfen. Dann hat sie einen Brief von Tante Mandi gefunden…“
„Tante Mandi!? Was stand drin?“ Liah zappelte aufgeregt und Nex legte ihr die Hand auf ein Bein, damit sie stillhielt.
„Das sagte ich dir gleich, aber bitte wackle nicht so, damit bringst du mich durcheinander!“ Seine Schwester kicherte, beruhigte sich jedoch wieder.
„Ja?“
Nex schüttelte grinsend den Kopf.
„Also… sie hat da was von einer Mauer und Zahlen geschrieben. Sie hat damit sozusagen unsere Namen ersetzt, aber warum, weiß ich auch nicht so genau. Wenn wir wieder dort sind, kann ich dir den Brief zeigen. Aber das war noch nicht alles, weil Glina und ich noch mehr wissen wollten. Wir haben ein riesiges dickes Buch gefunden, in dem praktisch alles über Para aufgeschrieben worden ist! Da gab es auch ein Kapitel über die goldene Taschenuhr und diese Zahlen, von denen ich dir eben erzählt habe. Ich habe sie mir durchgelesen und bin dann irgendwann eingeschlafen, bevor ich wieder zurückgewechselt bin…“ Bei diesen Worten fing Liah an zu lachen.
„Du bist eingeschlafen? Wirklich?“ Und dann gab es für die nächsten zwei Minuten kein Halten mehr.
Nex seufzte genervt.
„Liah, bitte reiß dich zusammen! Ich muss dir was Wichtiges erzählen und du fängst einfach an zu lachen…“ Da gackerte sie noch mehr los. Ihr Bruder rollte mit den Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ungeduldig, bis Liah sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
„Okay, tut mir leid, aber wie du das mit dem Einschlafen gesagt hast, war einfach zu lustig!“
Nex konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, was daran so witzig sein sollte, aber das war jetzt auch nicht so wichtig. Also zwinkerte er ihr bloß zu und sprach weiter.
„Bevor ich wieder zurückgekommen bin, sind Glina und ich auf ein paar interessante Sachen gestoßen, und da hatten wir folgende Idee: Wenn wir beide das nächste Mal in Para sind, dann müssen wir wieder in diesen Wald hinter der Villa und zu der Ruine gehen, wo ich diese Mauer gefunden habe, weißt du noch?“ Seine Schwester nickte und machte dabei ein nachdenkliches Gesicht.
„Aber warum denn?“
Nex holte tief Luft.
„Das erkläre ich dir am besten, wenn wir da sind. Das ist… ein bisschen schwierig, okay?“
Liah sah enttäuscht aus.
„Oh, okay. Und was ist mit der Uhr?“
Nex zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln.
„Laut dem Buch gibt es die Taschenuhr und einen Schlüssel. Wenn man beides besitzt, kann man nach Belieben zwischen den Welten wechseln und sich sogar eine Gabe aneignen, obwohl man kein Wechsler ist.“
Das Mädchen bekam große Augen.
„Heißt das, dass die beiden jetzt sind wie wir?“
Da musste Nex grinsen. Wenigstens hatten sich jetzt zwei seiner Fragen geklärt.
„Ähm, Nex? Was ist denn so komisch?“
Sein Grinsen wurde breiter.
„Tja, weißt du… Die beiden sind nicht wie wir. Ist dir auch schon aufgefallen, dass sie nicht mehr hier aufgetaucht sind?“ Liah nickte langsam. Ihr Bruder nahm eine triumphierende Haltung ein.
„Genau, das sind sie nicht. Und das bedeutet, dass sie den Schlüssel nicht haben.“ Er zog die Augenbrauen in die Höhe und sah seine Schwester erwartungsvoll an, aber sie schien nicht zu wissen, was er wollte. Gut, dann eben nicht. Ich dachte nur, dass es logisch ist. Er seufzte.
„Was ich damit sagen will: Die beiden sind in Para gefangen! Sie können nicht weg, weil sie nicht den Schlüssel haben, um wechseln zu können. Und das wiederum heißt, dass wir den Schlüssel als erstes finden müssen, um zu verhindern, dass sie zu so etwas Ähnlichem wie Wechsler werden.“ Er zwinkerte ihr zu und jetzt musste auch Liah grinsen.
„Also halten wir sie auf?“, fragte sie aufgeregt und ihr Bruder nickte. Das Mädchen streckte ihm den kleinen Finger entgegen.
„Versprochen?“
Nex erwiderte die Geste.
„Versprochen.“
Nex war wieder in Para. Es war Nacht und nass, die Straßenlaternen gaben ein flackerndes Licht ab. Herz und Atem rasten, während er die düsteren Straßen entlangrannte. Er kämpfte wieder den gleichen, aussichtslosen Kampf gegen die Männer. Er schlug sich bis zu jenem stockfinsteren Haus durch, entkam über eine versteckte Treppe und sprintete zur Hauptstraße, wo er rechts abbog. Mittlerweile hatte der Regen stark zugenommen und Nex war völlig durchnässt. Er hatte unglaubliche Angst. Wann hatte er sich zum letzten Mal so gefürchtet? Jeder seiner Gedanken führte ihn zu Liah oder Gelbauge. Ob Liah in Sicherheit war? Er hatte sie versteckt, aber wenn sie sie finden sollten, würde er nichts tun können…
Er erreichte eine Kreuzung und zögerte. Irgendwie kam ihm das bekannt vor, aber das half ihm nicht. Welche Richtung sollte er wählen?
Er wandte sich nach rechts, doch dann entschied er sich um und bog nach links ab. Immer wieder trat er in Pfützen, während die Rufe hinter ihm lauter wurden. Seine Handflächen schwitzten. Er wollte hier weg. Er wollte nach Hause. Nur gab es das nicht mehr…
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Nex drehte sich um, aber es war zu spät. Im Licht einer Laterne blitzte etwas auf und kurz darauf spürte er einen scharfen Schmerz in seiner Seite. Nex war vollkommen schockiert. Als nächstes tauchte das Gesicht eines Mannes vor ihm auf und grinste ihn boshaft an.
„Das war´s für dich, du kleiner M***!“, knurrte er, dann lag er auch schon auf dem Boden, nachdem Nex ihm einen Kinnhaken verpasst hatte. Der Junge stolperte paar Schritte zur Seite, dann brach er stöhnend zusammen. Seine rechte Hand umfasste den Griff des Messers, das in seiner Seite steckte. Der Schmerz war unbeschreiblich. Er versuchte es herauszuziehen, aber ihm fehlte die Kraft. Liah. Sein Kopf dröhnte. Eine letzte Schmerzwelle, dann wurde alles schwarz und es war vorbei.
Mit einem Schrei fuhr Nex hoch und fasste sich dabei an die rechte Seite. Sein Herz raste und der Schweiß lief an ihm herab. Keuchend saß er in seinem Bett, im Zimmer war es dunkel. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich wieder beruhigt hatte. Oh Mann, schon wieder ein Albtraum. Würde das denn nie aufhören? Seine Hände zitterten. Irgendwie hatte er bei diesen Träumen den Eindruck, dass sie von Mal zu Mal realistischer wirkten. Und er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache…
Er atmete tief durch, stand auf und lief leise zu seinem Tisch. Er hatte sich all seine Träume als eine Art Plan aufgezeichnet. Jetzt fügte er bei der Stelle „KREUZUNG“ einen Pfeil hinzu, der nach links führte. Dort schrieb er noch „GESCHEITERT“ dazu. Erneutes Durchatmen. Frustriert fuhr er sich durchs Haar, dann stützte er seinen Kopf ab. „Ich halte das langsam nicht mehr aus“, flüsterte er, dann ging er wieder ins Bett.
Zum Glück gehörte er zu diesen Leuten, die fast sofort einschliefen, aber noch bevor er in seinen Träumen versunken war, wurde er sich der drohenden Kopfschmerzen bewusst. Er konnte nur hoffen, dass er davon verschont wurde.
Mit einer heißen Tasse Kaffee in der Hand setzte Handix sich an den Tisch und wartete auf die Kinder.
Er konnte immer noch nicht fassen, dass er versagt hatte. Er hatte Mandi versprochen, dass er auf die Kinder aufpassen würde, und was war passiert? Nex hatte sich mit zwei gefährlichen Männern angelegt, sich mit einem von ihnen geprügelt, und zu allem Überfluss wäre er einige Tage zuvor beinahe erschossen worden! Nein, er hatte sich wirklich nicht als guter Onkel erwiesen. Jetzt hatte er eine ganze Welt verraten, die Nex und Liah nun beschützen mussten.
Handix nahm einen Schluck und warf einen Blick in den Flur. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie er Nex dort hatte stehen sehen. Der Junge hatte sich einen Plan zurechtgelegt, um jemandem zu helfen, der ihn sieben Jahre lang ignoriert hatte. Handix wusste, wie wütend sein Neffe auf ihn war, das hatte er vom ersten Augenblick an gemerkt. Ihm war klar, dass er das verdient hatte, aber irgendwie (und das wollte er sich nicht eingestehen) hatte er gehofft, dort weitermachen zu können, wo sie aufgehört hatten. Natürlich war das nicht der Fall. Was hatte er auch erwartet? Der Mann schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck. Das Ticken der Küchenuhr erfüllte die Stille.
Dann endlich hörte er Schritte aus dem Flur kommen. Die Kinder waren wach, gut. Handix wollte gar nicht wissen, wie es wohl sein würde, wenn er einmal nach oben gehen und die beiden wecken musste. Das brachte ihn auf den Gedanken, dass Mandi und er nie Kinder bekommen hatten.
Als erstes tauchte Liah in der Küche auf. Sie sah unglaublich zerbrechlich aus, so dünn, wie sie war, aber sie hatte stets riesigen Hunger und aß alles, was ihr schmeckte. Manchmal erinnerte sie ihn an Mandi. Diese übermäßig gute Laune und der Tatendrang, die Neugier, die Offenheit… Es fehlten nur noch die braunen Haare und diese wunderschönen Augen…
Als Nex eintrat, wurde Handix jäh aus seinen Gedanken gerissen. Der Junge sah immer noch verprügelt aus, weil der Bluterguss nicht weggehen wollte, aber im Gegensatz zum gestrigen Tag schien er wieder Kopfschmerzen zu haben. Noch ein Punkt, den Handix sich nicht eingestehen wollte: Er machte sich Sorgen. Die Albträume, die Kopfschmerzen, die Tatsache, dass Nex schon mehrfach Probleme mit diesen Männern gehabt hatte… In Wahrheit wusste Handix, was es bedeutete, aber das konnte, nein, wollte er sich nicht eingestehen.
Sein Neffe ließ sich auf den Platz neben Liah fallen und stützte sich den Kopf ab. Handix zögerte.
„Willst du wieder Tabletten?“, fragte er schließlich und war einmal mehr erstaunt, wie sich seine Stimme in den letzten sieben Jahren entwickelt hatte. Er klang mürrischer als damals mit Mandi. Mandi. Er verdrängte den Gedanken an sie. Nex brummte irgendwas vor sich hin und sein Onkel nahm es als ein Ja.
Das Frühstück verlief wie immer schweigend. Liah sah aus, als ob sie gerne etwas sagen wollte, aber ihr Bruder war offensichtlich nicht in der Stimmung für so etwas und Handix bemühte sich darum, so desinteressiert wie möglich auszusehen. Er dachte daran, dass er den Kindern versprochen hatte, ihnen bei dieser Sache zu helfen, und wenn er das tun wollte, dann musste er ihnen sagen, was er wusste. Aber wo sollte er anfangen? Am besten wäre es wohl, wenn er darüber nachdachte, wenn die Kinder in der Schule waren. Handix warf Nex über seine Tasse hinweg einen Blick zu und fragte sich allen Ernstes, ob er nicht besser hierbleiben sollte. Der Mann wollte es gerade vorschlagen, als ihm klar wurde, was Nex darauf erwidert würde. „Nein, geht schon, ich kann Liah nicht allein lassen. Sind nur Kopfschmerzen, das geht wieder weg…“ Also ließ er es bleiben.
„Okay, hör mal: Du hast mir gestern gesagt, dass du nicht darüber reden willst, und das verstehe ich. Aber du machst mich wirklich neugierig. Schließlich kommst du in die Schule und siehst aus, als hättest du dich mit jemandem zu Tode geprügelt, und dann läufst du auch noch so leicht angeschlagen. Willst du´s mir echt nicht sagen? Ich bin wirklich neugierig-“. Basti redete wie ein Wasserfall auf Nex ein, der es eine ganze Weile über sich ergehen ließ, bis er seinen Klassenkameraden unterbrechen musste.
„Wie lange willst du mich denn noch bearbeiten?“, warf er ein und Basti hielt einen Moment lang die Klappe, während er ihn überrascht ansah.
„Ich… naja, ich habe nur laut nachgedacht, das ist alles.“ Aus irgendeinem Grund musste Nex ein wenig lächeln.
„Zugegeben, an deiner Stelle würde mich das auch interessieren, aber es ist kompliziert. Wenn du verstehst, was ich meine.“
Basti nickte.
„Klar, du hast sicher recht. Sag mal, wollen wir uns mal ein nettes Plätzchen suchen und da ein bisschen abhängen? Deine Schwester hat jetzt ihre eigenen Freunde“, schlug er vor und Nex zuckte mit den Schultern.
„Warum nicht?“
Die Jungs liefen über den Schulhof, auf der Suche nach einem guten Platz, und Nex musste sich eingestehen, dass sein Sitznachbar recht hatte. Liah hatte sich anscheinend mit zwei Mädchen angefreundet, und jetzt tauchte sie nicht mehr bei ihrem Bruder auf. Wahrscheinlich war es auch besser so, denn dann musste er sich keine Sorgen darum machen, dass seine Schwester niemanden hatte, wenn er mal nicht zur Schule gehen sollte. Wenn sich seine Kopfschmerzen wieder verschlimmern sollten, dann war das sicher bald der Fall.
„Du, Nex?“
„Hm?“
„Wollen wir uns vielleicht mal treffen? Also, irgendwo zu Hause. Bei dir, bei mir, völlig egal. Was meinst du?“ Basti hob die Augenbrauen und sah ihn fragend an. Verdutzt blieb Nex stehen.
„Wie kommst du denn darauf?“
Der andere sah zu Boden.
„Du musst ja nicht, wenn du nicht willst, aber ich dachte mir, dass das keine schlechte Idee wäre. Ich finde dich nämlich echt korrekt und-“ Jetzt musste Nex grinsen.
„Hey, das war doch nicht böse gemeint. Wenn du unbedingt willst, kann ich mal meinen Onkel fragen, wann es für ihn passt.“ Er konnte selbst nicht fassen, was er das sagte. Basti sah überrascht auf.
„Dein Onkel?“
Nex zuckte mit den Schultern.
„Ja, wieso?“
„Naja… Ich dachte, du wohnst hier mit deinen Eltern.“
Irgendwie traf ihn diese Frage. Nex schluckte, dann sah auch er ein wenig nach unten.
„Nein, leider nicht.“
Basti schien zu verstehen.
„Oh. Tut mir leid, ich wollte wirklich nicht…“
„Ist schon okay“, blockte Nex ab und zwang sich wieder zu einem Lächeln.
„Also, soll ich nachfragen?“ Oh Mann, es gibt eine ganze Welt, die meine Hilfe braucht, und ich treffe mich mit jemandem, den ich in ein paar Wochen sowieso zum letzten Mal sehen werde? Nex verstand sich selbst nicht mehr, aber im Grunde genommen war ihm das die letzten Tage schon oft passiert, also war es wohl in Ordnung. Das hoffte er jedenfalls.
Zurück bei der Villa wartete die nächste Überraschung: Auf dem Küchentisch lagen drei Schachteln, aus denen es stark nach Pizza roch, und dazu standen dort noch eine Flasche Cola, eine Apfelschorle und ein Bier. Nex blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und sah seinen Onkel mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Womit haben wir das denn verdient?“, fragte er und Liah spähte an ihm vorbei in die Küche. Handix brummte kurz vor sich hin.
„Hatte keine Lust zu kochen“, erwiderte er bloß und setzte sich. Sein Neffe war vollkommen perplex. Was war denn mit dem los? Hatte sein Onkel tatsächlich noch genug Gefühle in sich, um so ein schlechtes Gewissen zu haben? Sieben Jahre lang wollte er nichts machen, aber jetzt schon? Dieser Mann war wohl doch nicht so leicht zu durchschauen, wie Nex geglaubt hatte. Andererseits hatte er sich seit seinem Einzug schon oft Irrtümer eingestehen müssen, dass das jetzt wohl auch keine Rolle spielte. Es ging darum, nach Para zu kommen und sich um die Zahlen an der Mauer zu kümmern, bevor sie die anderen Rätsel lösten. Hoffentlich wechselten sie das nächste Mal zusammen. Für einen Augenblick fiel ihm ein, dass auch Moona hätte kochen können, doch er entschied sich dafür, seinen Onkel nicht darauf anzusprechen.
Die Pizza schmeckte großartig, und Nex zerbrach sich den Kopf darüber, wie Handix herausgefunden hatte, welche er am liebsten aß, aber vielleicht war es auch nur Zufall. Nach dem Essen verschwanden die Kinder wieder auf dem Dachboden, wo sie sich auf die lederne Couch pflanzten und Löcher in die Luft starrten. Es war Liah, die das Schweigen brach.
„Also, was ist denn jetzt mit der Mauer?“, wollte sie wissen und warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. Nex seufzte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich es dir erkläre, wenn wir da sind. Es ist… leichter zu verstehen, wenn du sie siehst. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann sind die Zahlen irgendwie wichtig, weil sie etwas über den Wechsler, zu dem sie gehören, sagen“, erklärte er wage und hoffte inständig, dass ihn seine Schwester mit ihren Fragen in Ruhe lassen würde, aber leider war das nicht der Fall. Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
„Aha, und was soll das sein?“
„Das sage ich dir, wenn wir da sind.“
„Aber wieso erst dann? Wieso nicht jetzt?“ Nex stöhnte. Er hatte sich fest vorgenommen, von jetzt an immer gut zu Liah zu sein, weil sie nur noch zu zweit übriggeblieben waren, aber das hatte er sich wirklich nicht verkneifen können. Er lehnte sich etwas weiter vor und sah dem Mädchen direkt in die Augen.
„Weil Glina dann auch da ist. Wenn sie dabei ist, dann verstehe ich das einfach besser. Und wenn ich mal was nicht weiß, kann sie es uns beiden gleich erklären. Verstehst du?“ Liah nickte.
„Ja, das tue ich. Ach, wo du schon von Glina redest: Ich habe dir doch mal erzählt, dass ich auch mal ein Glühwürmchen getroffen habe, weißt du noch? Das war das eine Mal, wo ich allein ich Para gewesen bin.“ Nex nickte. Ja, da war tatsächlich so etwas in der Art gewesen. Das hatte er in der Aufregung der letzten Tage völlig vergessen.
„Was ist denn damit?“ Seine Schwester setzte sich gerade hin und legte diesen Ich-bin-echt-toll-und-habewas-geschafft-auf-das-ich-stolz-sein-kann-Blick auf. Nex bemühte sich vergebens darum, nicht breit zu grinsen. Es war unglaublich, wenn Liah versuchte, erwachsen zu wirken. Sie sollte froh sein, dass sie das nicht war. Oder dass sie sich nicht um jemanden kümmern musste, weil die Eltern tot waren…
„Also, das Glühwürmchen ist mir gefolgt, die ganze Zeit, aber als ich mit ihm reden wollte, ist es wieder verschwunden“, erzählte sie und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Meinst du, es ist schüchtern?“, erkundigte sie sich und legte den Kopf ein wenig schief. Ihr Bruder zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, aber möglich wäre es. Wenn Glina wie ein Wasserfall reden kann, dann können andere Glühwürmchen auch ruhig sein. Wir können sie fragen, wenn wir wieder in Para sind.“
„Wen fragen?“
„Na, Glina natürlich. Vielleicht weiß sie auch, wen du getroffen hast.“
Liah nickte entschlossen.
„Ja, das ist eine gute Idee. Und dann gehen wir zur Mauer und du sagst mir endlich, was du weißt.“ Nex rollte die Augen, dann stieß er seine Schwester sanft an.
„Klar, mache ich. Und Fragen bitte erst nach der Führung stellen!“
Das brachte Liah zum Lachen und nach ein paar Sekunden stieg er mit ein. Aus irgendeinem Grund musste er daran denken, wie er früher mit Handix über irgendwelche komischen Dinge gelacht hatte. Und dann fragte er sich, ob sein Onkel seit Tante Mandis Tod überhaupt jemals wieder gelacht hatte und warum es ihn, Nex, plötzlich so interessierte.
Irgendwann am Nachmittag, die Kinder hatten nochmal die Kiste auf dem Tisch durchwühlt, konnten jedoch nichts weiter finden, gingen sie wieder nach unten in ihre Zimmer. Ihre Lehrer konnten nicht wissen, dass sie mit einer anderen Welt beschäftigt waren, und hatten ihnen deshalb nicht die Hausaufgaben erspart. Seufzend setzte Nex sich an seinen Tisch und holte sein Matheheft heraus. Bruchrechnung, großartig. Genervt verzog er den Mund und machte sich an die Aufgaben. Es dauerte fast zwei Stunden, bis er all seinen Hausaufgaben fertig hatte, aber dann konnte er endlich den Stift weglegen. Ob Liah Hilfe brauchte? Er hatte sie ihr zumindest angeboten, denn Moona sollte sich nicht damit herumschlagen müssen, und wie hilfsbereit Handix war, konnte er nicht genau sagen. Da er jetzt nichts mehr zu tun hatte, ging er ins Zimmer seiner Schwester, die, umgeben von Pferden und Puppen, auf dem Boden saß und spielte. Sie sah auf und grinste ihn an.
„Na, bist du endlich fertig? Ich habe mich schon gefragt, warum du so lange brauchst.“ Nex verdrehte die Augen.
„Du hast auch noch nicht so viele Hausaufgaben wie ich, oder?“, erwiderte er schmunzelnd und setzte sich neben sie.
„Ich schätze, ich soll ein bisschen bleiben?“, bemerkte er und Liah nickte, während sie ihm eine ihrer Puppen in die Hand drückte. Genaugenommen war es die einzige männliche Puppe, die sie behalten hatte. Nex fand sie hässlich, aber er sagte nichts, sondern spielte im wahrsten Sinne des Wortes einfach mit.
Gegen sechs Uhr fing es an zu regnen. Moona war gerade im Wohnzimmer und staubte aus lauter Langeweile die Schränke ab. Hier drin war es unfassbar altmodisch. Wieso stellte man auch Porzellangeschirr im Wohnzimmer aus? Das war eine von den vielen Fragen, die sie betreffend Haus und Familie hatte. Warum lebten die Kinder bei ihrem Onkel? Und einem so übel gelaunten dazu? Sie begriff es beim besten Willen nicht, aber gut, es war nicht ihr Problem. Wenn doch nur nicht diese Geheimnistuerei wäre… Sie war schon als Kind immer sehr neugierig gewesen, hatte sich diese Angewohnheit jedoch abtrainiert. Bis jetzt. Nun, was die Millers trieben, ging sie wirklich nichts an. Im Ernst, wieso verschwendete sie einen Gedanken daran? Entschlossen schüttelte Moona den Kopf und wischte weiter. Sie hatte schon einen Job verloren, das sollte ihr nicht noch einmal passieren. Obwohl, Mr. Miller hatte so eine Andeutung gemacht, von wegen ein paar Wochen und dann wäre das hier erledigt… Nein, sie sollte sich da besser keine Gedanken machen. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis Moona die anderen wieder aus ihren Gedanken verbannt hatte.
Abendessen gab es heute um sieben. Moona erschien nicht und Nex fiel auf, dass sie vielleicht nur einmal mit ihnen gegessen hatte. Was trieb sie eigentlich den ganzen Tag lang? Staubte sie nur ab? Nein, manchmal hörte er einen Staubsauger. Und die Küche gehörte auch ihr, wenn sie mit essen fertig waren. Egal, das war jetzt auch nicht so wichtig. Liah und er mussten irgendwie nach Para gelangen, wenn er die Zahlen an der Mauer richtig erklären wollte. Zugegeben, das war nur eine Ausrede; er wollte sehen, ob das, was er geträumt hatte, auf irgendeiner Art und Weise wahrgeworden war. Denn wenn ja, standen sie beide auch an der Mauer. Er musste es sich mit eigenen Augen ansehen. Klar, wenn sie nicht bald wieder wechselten, dann würde er es Liah auch ohne Glina erzählen, aber er wollte lieber zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Nex sah auf und beobachtete seinen Onkel, der sich einen Löffel voll Suppe in den Mund schob, den Blick starr auf den Teller gerichtet. Er sah aus, als wäre er in Gedanken weit weg, und für einen kurzen Augenblick kam Nex die Idee, dass Handix gedanklich nach Para gewechselt war, aber das war natürlich Unsinn. Trotzdem, es war schwer, sich ein Grinsen zu verkneifen.
Liah sah verwundert auf und musterte ihren Bruder von der Seite aus, dann lächelte sie ein wenig und wandte sich wieder ihrem Essen zu. Plötzlich, so plötzlich, dass ihr der Löffel in die Suppe fiel und unsäglich viele Spritzer über den Tisch verteilte, schoss sie in die Höhe und sah ihren Bruder mit großen Augen an. Nex zuckte vor Schreck ein wenig zusammen und drehte sich langsam um.
„Liah? Alles gut bei dir?“, fragte er langsam und mit zusammengezogenen Augenbrauen. Das Mädchen nickte heftig.
„Ja. Ja! Nex, ich habe eine Idee! Wegen Para!“ Bei dem Wort „Para“ bemerkte Nex aus dem Augenwinkel, wie Handix aufsah. Er beschloss, die Geste zu ignorieren.
„Aha? Welche denn?“, erkundigte er sich und hoffte inständig, dass sich sein Onkel nicht in die Unterhaltung einmischen würde. Er konnte nicht sagen, warum, aber irgendwie war es komisch, vor Handix über solche Dinge zu reden, vor allem, weil er sieben Jahre lang nichts mit ihm zu tun hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie traurig Papa gewesen war, als Handix nicht zu Opas Beerdigung erschienen war…
„Also“, begann Liah und riss Nex aus seinen Gedanken, „ich dachte mir, dass wir doch wieder absichtlich wechseln könnten, so wie in der Schule. Verstehst du? Dann müssten wir nicht warten und wären auch ganz in der Nähe der Mauer.“ Handix hob die Brauen. Nex saß wie erstarrt auf seinem Stuhl. Wie kam Liah denn ausgerechnet jetzt auf diese Idee?
„Ähm, klar, aber denkst du, dass wir das nochmal schaffen? Vielleicht ist es das letzte Mal auch nur Glück gewesen. Wenn ich das richtig verstanden habe, brauchen Wechsler ein bisschen Zeit, bis sie bewusst wechseln können, also glaube ich nicht, dass das wieder so gut klappen wird“, gab er zu Bedenken und in diesem Moment wurde ihm klar, wie unglaublich die Sache in der Schule gewesen war.
Was man nicht alles versuchte, wenn man vor Männern aus seinen Albträumen floh! Überhaupt: Wieso träumte er von Leuten, die er erst nachher kennenlernte? Es war schon irgendwie unheimlich, aber Nex verdrängte diesen Gedanken. Dafür gab es sicher auch eine Erklärung, wie zum Beispiel die Tatsache, dass eine Parallelwelt existierte. Wer weiß, vielleicht hing das irgendwie zusammen? Er sah zu Liah und bemerkte ihr enttäuschtes Gesicht.
„Ja…“, sagte sie gedehnt und setzte sich langsam wieder hin, „aber ich dachte mir, dass das vielleicht eine gute Idee ist. Trotzdem, du hast wahrscheinlich recht. Tut mir leid, ich dachte nur…“ Oh weh. Er konnte es nicht ertragen, wenn seine Schwester traurig war. Er zwang sich zu einem Lächeln und tätschelte ihr Knie unterm Tisch.
„Hey, ich weiß doch, dass du es für eine gute Idee hältst. Wir können es nachher gerne versuchen, aber wenn es nicht funktioniert, dann sei bitte nicht enttäuscht. Ich wollte nur, dass du das weißt.“ Das Mädchen lächelte ein wenig.
„Ja. Danke.“
Handix beobachtete die Szene mit ausdrucklosem Gesicht. Nur zu gern hätte Nex gewusst, was sein Onkel wohl gerade dachte, aber alles, was auf das Gespräch folgte, war Stille.
Die Millers aßen schweigend weiter. Nex dachte kurz an Moona und daran, dass Handix ihr irgendeine Ausrede aufgetischt hatte, damit sie keine weiteren Fragen stellte. Normalerweise hätte sie Nex leidgetan, aber er war der festen Überzeugung, niemandem von Para erzählen zu dürfen, und seit er es in Tante Mandis Brief gelesen hatte, wusste er, dass es stimmte.
Was war heute für ein Wochentag? In der letzten Zeit hatte er sich herzlich wenig Gedanken darum gemacht, aber da er jetzt wieder zur Schule ging, musste er wieder anfangen, auf solche Kleinigkeiten zu achten. Ah, klar, Mittwoch, was denn sonst? Nicht zu fassen, dass er sich mit solchen Dingen beschäftigen musste, wenn doch eine ganze Welt auf Liah und ihn wartete und Hilfe brauchte, weil sie Mist gebaut hatten!
„Nex?“
„Ja?“
Liah saß in ihrem Bett, die Decke über die Beine gezogen und den Rücken an ein Kissen gelehnt. Fahles Mondlicht schien durch die großen Fenster an der gegenüberliegenden Seite der Zimmertür. Nex saß bei ihr, weil er nach dem Tod seiner Eltern die Aufgabe übernommen hatte, sie ins Bett zu bringen. Sie sah ihn mit ihren gelbbraunen Augen fragend und irgendwie bettelnd an.
„Liest du mir noch eine Geschichte vor?“
Nex verdrehte die Augen und lächelte dabei.
„Wenn du eine hast, die ich noch nicht vorgelesen habe, dann ja“, antwortete er und musste an die Handvoll Bücher denken, die Liah mitgenommen und vollständig vorgelesen bekommen hatte. Liah legte die Stirn in Falten.
„Denk dir doch einfach eine aus“, schlug sie stattdessen vor und ein freches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, ein sehr ansteckendes Grinsen, wie Nex nun bei sich feststellen musste. Er hatte schon seit einer ganzen Weile keine Geschichten mehr erzählt, genaugenommen hatte er es lieber gehabt, wenn Onkel Handix der Erzähler gewesen war. Schnell schob er den Gedanken beiseite. Nein, er brauchte seinen Onkel nur für die Sache mit der Taschenuhr, sonst nicht.
Nex seufzte theatralisch.
„Also gut, meinetwegen“, sagte er und mit einem gewinnenden Lächeln kuschelte sich seine kleine Schwester tiefer in die Kissen. Er begann und erst nach einigen Minuten stellte er fest, dass er etwas erzählte, das er sich gar nicht selbst ausgedacht hatte. Es stammte von Handix, der an jenem Abend vor sieben oder acht Jahren an Nex´ Bettkante saß und versuchte, den Jungen von dem Gewitter, das draußen tobte, abzulenken.
„Onkel Handix?“
„Ja?“
Nex sah ihn mit großen Augen an.
„Kommt die Geschichte aus deinem Kopf?“
Handix musste lächeln. Damals sah er nicht immer so griesgrämig aus.
„Wie meinst du das?“, wollte er wissen und setzte sich ein bisschen bequemer hin. Nex zuckte mit den Schultern.
„Na, du liest sie nicht vor, also muss sie doch irgendwo herkommen“, antwortete er schließlich und sein Onkel schmunzelte.
„Tja, ja, da hast du wohl recht.“ Mit diesen Worten zerzauste er seinem Neffen die Haare und Nex lachte leise.