Читать книгу SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel - Zhara Herbst - Страница 6

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KAPITEL 1

1

Die Nacht war totenstill, ihr Atem flach und viel zu laut. Es war wieder derselbe Traum gewesen, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, und noch immer war sie wie erstarrt. Beth rang nach Luft und ermahnte sich im selben Moment, gleichmäßig zu atmen, doch ihr Brustkorb hatte sich bereits zusammenzogen – eng, als läge sie unter Beton.

Vor langer Zeit war es real

Sie versuchte, die Erinnerungen an das Damals zu verdrängen. Ein fahler Mond schien auf das Bett.

Beth machte sich klar, dass es ihr möglich war, sich zu bewegen, atmete, aber die Angst verblasste nicht. Also fuhr sie sich durchs Haar, betrachtete die Weite ihres Schlafzimmers und hielt sich mühsam an dem Anblick fest: das große Bett, die von ihr auf dem Flohmarkt liebevoll zusammengetragenen Möbelstücke und die Topfpflanzen, die vor dem Fenster standen. Als sie das Offensichtliche begriff, atmete sie durch und fand endlich zurück ins Hier und Jetzt: Sie war allein. Ihr drohte keinerlei Gefahr.

Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, entledigte sie sich ihres vom Angstschweiß nassen Shirts und rieb sich damit fest über die Haut. Die Narben auf ihrem Rücken – großflächig und daher kaum zu übersehen – brannten auch in dieser Nacht so strafend, dass sie nie vergessen würde, was damals geschehen war.

Beth stand auf und tat so, als hätte nicht der Traum, sondern ihr Wecker sie dazu bewegt. Dann begann sie den zu frühen Morgen – im Grunde war es noch mitten in der Nacht – wie immer mit den üblichen Routinen.

Der Duft des Madras-Currys, den sie sich gestern nach dem Dienst bestellt hatte, hing in der Luft. Beth pinnte die Speisekarte ihres neuen Lieblingsinders zu den anderen an den Schrank, öffnete ein Fenster und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten zu. Bald löste das Aroma des Espressos den des Currys ab.

Dank eines seltsam heißen Spätsommers waren die Temperaturen auch in dieser Nacht nicht unter zwanzig Grad gefallen. Beth nahm den ersten Schluck Kaffee, woraufhin ein Teil der Anspannung verflog und sie ruhiger atmete. Die Narben aber brannten nach wie vor.

Also tat sie, was sie immer tat, wenn sie der Schmerz nach einem dieser Träume überfiel: Beth tauschte ihre Nachtwäsche gegen das Funktionsshirt, eine kurze Shorts und die inzwischen abgewetzten Laufschuhe ein und machte sich getrieben auf den Weg.

Der Dunst von feuchter Erde, sattem Grün und Tau würzte die laue Luft. Natürlich war der Stadtpark menschenleer. Beth genoss die Einsamkeit, die wie so oft ihr einziger doch dafür treuester Begleiter war.

Vor ein paar Wochen erst war sie nach Kiel zurückgekehrt, hatte die kleine Wohnung nahe des Schrevenparks entdeckt und sich sofort in sie verliebt. Von allen Orten, die sie kannte, war der Park – ihr kleiner Garten Eden, mitten in dem Labyrinth der kalten Stadt – ihr Lieblingsplatz. Wie viele Stunden hatte sie in ihrer Jugend hier verbracht? Während sie den Gänsen dabei zusah, wie sie friedlich durch den See schwammen, beruhigte sie der Park letztendlich jedes Mal. Noch heute kannte sie hier jeden Winkel, jeden Busch und jeden Baum.

Nach einer guten halben Stunde bog sie angenehm verausgabt in den abgelegenen Teil der Grünanlage ein. Die Schmerzen waren fort, also verlangsamte sie ihren Schritt, kam auf dem schmalen Steg zum Stehen und genoss die Ruhe dieser ausnehmend schönen Nacht. Der See lag ihr zu Füßen. Trauerweiden tauchten ihre Äste in das Nass, in dem sich die umliegenden Häuser, die Sterne und der Mond spiegelten. Die Vögel grüßten den noch fernen Morgen, bis ein Rascheln im Gestrüpp den Frieden des Moments durchbrach. Die Grillen verstummten und es war gespenstisch still.

Beth wandte sich um und blickte in die relative Dunkelheit, während ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Wolken schoben sich über das Firmament. Sie horchte in die Nacht, ging festen Schrittes auf das Buschwerk zu und blieb dicht davor stehen.

Nichts. Nur Totenstille.

Dann schoss etwas Dunkels aus dem Busch.

Ein Marder?

Genauso schnell, wie er gekommen war, verlor er sich wieder im Schutz der Nacht.

Beth atmete tief durch und trat zurück. Seit wann ließ sie sich denn so leicht erschrecken? Noch dazu von einem Tier, das weit mehr Angst vor ihr als sie vor ihm hatte. Sie musste lachen. – Bis ihr Blick erneut auf jene Stelle fiel, von der aus das Tier aus dem Gebüsch geschossen war. Da lag doch irgendwas!

Beth kniete sich hin. Als sie die Äste auseinanderzog und der metallene Geruch noch warmen Blutes tief in ihre Nase kroch, setzte ihr Herz kurz aus …

2

Ein schriller Klang entriss ihn einem seltsam tiefen, beinahe totengleichen Schlaf. Pieter presste sich, vom Lärm des Telefons kurz irritiert, die Hand auf das Gesicht und atmete tief durch. Ein müder Blick auf das Display bestätigte, was sein Verstand längst ahnte.

Müde seufzend nahm er ab. »Was gibts?«

»Moin! Und nebenbei bemerkt: Willkommen zurück«, begrüßte ihn Antons vertraute Stimme. Sein Kollege schien bereits hellwach. »Eine Leiche. Offensichtlich Mord. Ist also euer Fall. Ich sichere den Fundort und die Spusi ist gleich hier.«

»Okay.« Pieter fuhr sich durch das rabenschwarze Haar. Herrgott, es war noch mitten in der Nacht! »Verrat mir wo. Ich mach mich auf den Weg.«

Kaum hatte Anton die Adresse durchgegeben, schwang sich Pieter aus dem Bett, das viel zu groß für ihn allein war, und tappte träge in das Bad. Dort begrüßte ihn das noch verschlafene Spiegelbild eines trainierten Mannes Ende dreißig. Kritisch musterte er seinen zu wild gewachsenen Drei-Tage-Bart und beschloss, dass die Rasur bis heute Abend warten musste.

Erst gestern war er aus dem Urlaub, einem längeren Besuch bei seiner Schwester Sophie, in sein Heim zurückgekehrt. Die Zeit bei ihr und seinen Neffen war wieder zu kurz gewesen; vielleicht genauso kurz wie diese Nacht.

Pieter lugte in den Kleiderschrank. Alle guten Sachen lagen in der Wäsche und so griff er nach der alten Jeans und einem Freizeit-Shirt. Beides war pechschwarz und für die Arbeit viel zu lässig, aber immerhin waren die Klamotten frisch.

Als er am Fundort eintraf, wartete Anton bereits auf ihn. Pieter fiel die Unrast seines für gewöhnlich ausgeglichenen Kollegen auf, als der ihn knapp grüßte.

»Der Notarzt hat sie schon für tot erklärt«, meinte Anton dann, wobei auch seine Worte seltsam aufgewühlt erschienen. »Was offensichtlich war. Die Leiche ist verstümmelt, wird nicht leicht zu identifizieren sein. Wer das getan hat, war sehr gründlich.«

Pieter nickte unzufrieden. Manchmal war er diesen Wahnsinn leid.

Er atmete tief durch, präparierte sich mit Handschuhen und den Plastiküberzügen für die Schuhe und hüllte sich dann in den weißen Plastikoverall, den es zu tragen galt.

»Sie liegt dort drüben«, sagte Anton, während er den Reißverschluss zuzog. »Nackt. Ist echt kein schöner Anblick.«

»Danke für die Vorwarnung.«

Pieter atmete erneut tief durch, stellte sich auf einen üblen Anblick ein und ging bedächtig auf den Fundort zu, an dem sich die Kollegen bereits sammelten. Als er sie grüßte, sahen sie auf. Die meisten nickten ihm nur flüchtig zu und fuhren dann in konzentrierter Stille mit der Sicherung der Spuren fort. Nur Carmen sah ihn wieder länger an, wobei sie grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Pieter lächelte höflich, bevor er sich zum Leichnam niederkniete und die Zähne aufeinanderpresste – Anton hatte recht …

Die blasse Haut der übel zugerichteten Toten war mit Wunden übersät, feinen geraden Schnitten. Sie wirkten nicht sehr tief, was bedeuten konnte, dass das Opfer vor dem Tod gefoltert worden war. Und das da auf dem Oberarm sah aus wie ein Tattoo – oder war es doch nur Dreck? Als er die Wunde auf dem Brustkorb des geschundenen Leibes sah, jagte ein Schauer über seine Haut.

Er sammelte sich kurz.

Keine Totenflecken, – was aufgrund des Blutverlustes jedoch keine Überraschung war. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Angesichts der Temperaturen lag der Todeszeitpunkt somit sicher keine drei Stunden zurück.

Pieter erhob sich, trat einen Schritt zurück und blickte in das Nichts. Die Sonne ging gerade auf. Er gönnte sich diesen Moment, der nach ein wenig Frieden roch. Dann ging er zur Absperrung zurück, vor der Anton noch immer wartete.

»Irgendwelche Zeugen?«, fragte Pieter.

»Bis jetzt nicht. Bisher haben wir nur diejenigen befragt, die zum Gaffen rausgekommen sind. Waren nicht viele. Keiner hat etwas gesehen oder gehört. Später, wenn die Leute wach sind, gehen wir von Tür zu Tür … Ach ja! Ich habe mit einer Frau gesprochen, die dich interessieren wird.« Pieter horchte auf, woraufhin Anton grinste. »Joggerin. Sie fand die Leiche. Genau genommen ist sie die Neue aus deiner Abteilung.«

Pieter sah seinen Kollegen fragend an.

»Elisabeth Wagner. Kriminalhauptkommissarin. Ihr habt euch offensichtlich noch nicht kennengelernt.«

Natürlich! Das hätte er ja fast vergessen. Die Neue hatte ihre letzten Dienstjahre in Flensburg mit der Suche nach Vermissten zugebracht. Ihre Beurteilungen – offensichtlich leistete sie tadellose Arbeit – hatten sie entsprechend ihrem Wunsch an den neuen Einsatzort, hierher zur Kripo Kiel geführt. Aufgrund des Urlaubes hatte Pieter noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu begrüßen und das heute waren wohl auch nicht gerade ideale Umstände dazu. Aber eine Frau, die mitten in der Nacht durch dunkle Stadtparks joggte und dabei aus Versehen über eine Leiche fiel; das interessierte ihn auf jeden Fall!

3

Anton hatte ihr erlaubt, den Tatort zu verlassen – ausnahmsweise, schließlich war sie heute nicht als Kommissarin hier: Beth war eine Zeugin. Noch dazu eine, die nicht hinreichend vernommen worden war. Man könnte so ein Vorgehen dilettantisch nennen. Dem Kollegen für die Geste dankbar, traf Beth nun, eine knappe Stunde später, frisch geduscht und notdürftig gestärkt erneut an Ort und Stelle ein. Der Leichenfund hallte noch immer in ihr nach. Diese starren, flehend weit aufgerissenen grünen Augen …

Wie so oft, wenn sich ein Rätsel vor ihr auftat, lechzte sie danach, sich diesem hinzugeben. Beth wollte unbedingt in die Ermittlung einbezogen werden und so bald wie möglich zu dem Stab von Mitarbeitern zählen, aus dem die Kommission, die es jetzt zu bilden galt, bestand. Dass sich die Arbeitszeit in diesem Fall auf zwölf bis sechzehn Stunden täglich aufsummieren konnte, war ihr recht, sogar willkommen.

Der Rettungsdienst war abgerückt, der Fundort abgesperrt. Einige Mitarbeiter des Erkennungsdienstes hatten die Leiche überdacht, sodass die Witterung ihr nun wohl nichts mehr anhaben konnte. Es würde Tage dauern, bis die Sicherung der Spuren abgeschlossen war.

Vor einer Stunde hatte Beth erfahren, dass Pieter Anderson der vorerst zuständige Ansprechpartner war. Der Ruf, der ihm vorauseilte, war vielversprechend gut: Pieter sei umgänglich, geduldig und unglaublich nett – meinten zumindest die Kolleginnen.

4

Pieter hatte den gesicherten Bereich des Parks verlassen und sich aus der viel zu warmen Schutzkleidung befreit. Seit einigen Minuten, die ihm jetzt schon viel zu lang erschienen, widmete er sich der neuen Staatsanwältin.

Auch Beeke Larsens Nachtruhe war abrupt beendet worden. Im Gegensatz zu ihm, der hundemüde war und seine letzten sauberen Sachen trug, stand die blonde Frau perfekt frisiert, geschminkt und, wie es schien, hellwach vor ihm. Sie hatte umgehend die Leichenöffnung angeordnet und bedachte ihn gerade mit einem strengen Blick.

»Ich will über alles, was passiert, unterrichtet werden«, forderte sie nun auch noch. »Sofort und ausnahmslos. Verstanden?«

Angestrengt vom barschen Ton der dafür noch zu jungen Frau nickte er die Bitte ab. Beeke Larsen hatte ihren Posten noch nicht lange inne, war jedoch schon jetzt bekannt für ihren Hunger nach Erfolg.

»Darüber hinaus werde ich an ihren Dienstbesprechungen teilnehmen«, meinte sie kühl. »So kann ich mir einen besseren Überblick über die Fortschritte verschaffen.«

»Das steht Ihnen frei.« Doch es war unnötig.

»Ich weiß, dass es mir freisteht.«

Herrgott, was war nur mit der los? Er unterdrückte eine Reaktion, die sicher fehl am Platz gewesen wäre.

»Steht bereits fest, wer die Ermittlungen leitet?«, wollte sie von ihm wissen.

»Das wird Jürgen sein. Jürgen Wenzel, erster Hauptkommissar.« Pieter lächelte versöhnlich, doch erzielte bei der kühlen Blonden keine Gegenreaktion. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie ihn schnellstens kennenlernen.« Er atmete tief durch und sah sich um, wobei er eine fremde Frau erspähte, die auffallend unruhig vor dem abgesperrten Tatort stand. »Alles Weitere klären Sie mit Jürgen selbst. Er ist erfahrener als ich und kann Sie daher sicher besser unterstützen. Entschuldigen Sie, dort drüben wartet eine der Kolleginnen.« Er mochte die verkniffene Staatsanwältin nicht, doch Jürgen würde sicher seine Freude an ihr haben. Der Alte war es gewohnt, mit schwierigen Persönlichkeiten umzugehen, und war dabei für gewöhnlich sehr geschickt.

Pieter zog den Block hervor, auf dem er sich die Eckdaten aus dem Gespräch mit Anton notiert hatte. Dieser hatte sich der Neuen ja bereits angenommen und sie zu dem Leichenfund befragt, bevor er ihr erlaubte, sich zu Hause umzuziehen. Elisabeth Wagner … Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, stand mit dem Rücken zu ihm auf dem vom Morgentau noch nassen Gras und wippte unruhig mit dem Fuß.

»Elisabeth Wagner?«, sprach er sie schließlich an.

Sie wandte sich ihm zu. »Ja. Aber das klingt, als wäre ich hundert Jahre alt«, meinte sie lächelnd. »Bitte einfach Beth.«

Er begriff, dass er sie wie vom Donner gerührt anstarrte und gab sich einen Ruck. Mehr als ein lahmes »Hey« wollte ihm trotzdem nicht über die Lippen kommen. Zu allem Überfluss verschwamm sein Blick. Diese grünen Augen! Ihr braunes langes Haar, die blasse Haut und ihre zierliche Statur … Das ist nicht möglich! Was er hier sah, war nicht real – das konnte es einfach nicht sein. Und doch schien alles an ihr so vertraut …

Ihm wurde schwindelig. Dann schlecht. – Herrgott, was war hier los? »Okay. Dann also Beth«, sagte er abwesend, während er versuchte, dem morbiden Trugbild seiner tief in sich begrabenen Vergangenheit endlich die Hand zu reichen. »Pieter Anderson. Willkommen in Kiel.«

Wo waren plötzlich alle hin? Anton war fort und Jürgen noch nicht da … »Sie … du bist die Neue?«, fragte er in dem verzweifelten Bemühen, an ihr vorbei zu sehen.

»Ja. Ich …«

»Dann schreib die Aussage doch bitte selbst.« Das Zittern und die weichen Knie ließen sich kaum mehr kontrollieren. »Deinen Bericht. Ich habe hier noch zu tun.«

Pieter wandte sich ab und ging, um sich – und damit all die drängenden Gefühle, seine quälenden Erinnerungen – weit abseits des Trubels zu erbrechen.

***

Die Blumenstraße befand sich nahe des Parks, in dem die Leiche der noch unbekannten Frau gefunden worden war. In dem alten Backsteinbau, der weitläufig als Blume bekannt war, befand sich das Kommissariat 1.

Pieter war einer der zehn Mitarbeiter der Abteilung, die sich den Delikten Tötung, Brand sowie Vermissten widmeten. An diesem unseligen Morgen ging er aufgewühlt in dem Büro des leitenden Ermittlers, seinem Mentor Jürgen Wenzel auf und ab. »Was soll das heißen, die haben da was entdeckt?«, fragte er den Alten zunehmend besorgt.

»Sicher ist es harmlos«, meinte der, woraufhin Pieter nur verständnislos den Kopf schüttelte. »Ich habe gleich einen Termin bei meinem Haus- und Hofquacksalber. Dort erfahre ich, was die Biopsie ergeben hat.«

»Die haben dich deshalb auch schon biopsiert?« Er wusste, was das zu bedeuten hatte. »Wie lange bist du deswegen denn schon in Behandlung? Und warum hast du nichts gesagt? Ich wäre doch mitgekommen oder …«

»Eben aus dem Grund: Du machst dir viel zu viele Sorgen. Und genau das schaffe ich auch allein! Hör zu, ich weiß nicht, was die Weißkittel mir heute sagen oder wie es danach für mich weitergeht, womöglich ziehen sie mich aus dem Verkehr.«

»Aber … Jeder wird sich fragen, wo du bist und wann du wiederkommst.« Selbst im Urlaub war Jürgen stets ansprechbar. Der alte Fuchs gehörte längst zum Inventar des Kommissariats. Kaum denkbar, dass sich niemand um ihn sorgte, wenn er einfach so verschwand.

»Du wirst es keinem dieser neugierigen Schnüffler sagen. Kein Wort zu niemandem, hast du gehört?«

»Warum erzählst du mir davon, wenn du nicht willst, dass irgendwer davon erfährt?«

»Du weißt genau, dass du für mich nicht irgendein Kollege bist«, meinte Jürgen sanft, woraufhin Pieter seufzte. »Ich habe dich nach dieser Sache damals an die Hand genommen und dir von dem, was du jetzt weißt, so einiges beigebracht. Und jetzt will ich, dass du diese Ermittlungen leitest. Es wird Zeit, dass du das machst.«

»Jürgen!« Er suchte angestrengt nach einer angemessenen Formuliereng, die er jedoch nicht fand. »Ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Moment ist, um … Da ist diese Kollegin, die …«

»Jetzt hör schon auf, dich anzustellen!«, unterbrach ihn Jürgen, was nicht zu ihm passte. »Mit Elisabeth wirst du keinen Ärger haben. Sie wird dich entlasten, statt dir Arbeit zu bereiten. Und es ist ein Fall wie jeder andere auch. Du hast mir mehrfach dabei zugesehen und wirst das jetzt übernehmen.«

Die Fußstapfen, in die er dazu treten müsste, wären ihm zu groß.

»Junge!«, insistierte Jürgen streng. »Du bist jetzt beinahe vierzig und willst weiterkommen, oder nicht? Das hier ist eine Chance, dich zu beweisen.«

Als würde er so etwas brauchen oder wollen. Pieter atmete tief durch. Er kannte seinen Mentor schon zu lange, um nicht zu wissen, dass etwas im Argen lag.

»Nun ja, Pieter, ich weiß nicht, ob ich wiederkomme«, rückte der endlich mit der Sprache raus. »Ich habe seit über einem Jahr Symptome und mich damit nicht zum Arzt getraut.«

»Und du sagst, ich soll mir keine Sorgen machen?« Pieter war fassungslos. Dass Jürgen Ärzte hasste, war ihm klar, doch dass der Alte eine Krankheit so verschleppen würde …

»Jetzt reg dich ab. Mein Posten wird womöglich frei und ich will, dass du ihn bekommst. Meine Empfehlung ist dir sicher.«

»Das ist doch hoffentlich ein schlechter Scherz!«

Jürgen schüttelte mild lächelnd den Kopf. »Du leitest die Ermittlung und ich kümmere mich um meine Prostata. Was am Ende dabei rauskommt, werden wir ja sehen. Na komm, jetzt sag mir, dass du meinen Posten für die nächsten Wochen übernimmst.«

Er zögerte, nickte ihm zuliebe aber doch. Mit etwas Glück wäre Jürgen gar nicht lange weg.

»Sehr schön. Und jetzt raus mit dir!«

Pieter starrte seinen Mentor sprachlos an.

»Na los«, brummte der und machte eine Geste, so als wäre er ein störendes Insekt.

Also stapfte Pieter angeschlagen aus dem Raum.

»Bevor ich gehe, schau ich noch mal bei dir vorbei«, gab ihm Jürgen hörbar schuldbewusst mit auf den Weg, was es jedoch kein Stückchen besser machte.

Pieter hasste diesen Tag schon jetzt.

5

Nach dem allmorgendlichen und wie immer viel zu starken Kaffee war Beth unvernünftig früh am Arbeitsplatz erschienen. So hatte sie schon eine Weile hinter ihrem Schreibtisch zugebracht, als Pieter das Büro betrat.

»Morgen«, grüßte er sie knapp, wobei er wieder selbstvergessen wirkte und sich wieder nicht dazu herabließ, sie auch anzusehen.

Entwaffnend gut aussehend … Verdammt, wo war denn der Gedanke plötzlich hergekommen? »Guten Morgen!«, entgegnete sie rasch.

Ihre gestrige, erste Begegnung war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen, obwohl sie es recht angestrengt versuchte. Pieters stechendblauen Augen hatten sie so intensiv gemustert, dass es ihr den Atem geraubt hatte, und das war ihr in der Tat noch nie passiert. Doch so sehr sie Pieters Ausstrahlung auch faszinierte, irgendetwas stimmte nicht mit diesem Kerl.

Sie zögerte. »Ist bei dir alles gut?«

Pieter war leichenblass. Beinahe so fahl, wie die Wand hinter ihm, mit der er scheinbar konkurrierte. »Ganz und gar nicht, nein.« Er setzte sich.

»Kann ich was tun?«

Er sagte nichts.

Irgendwann betrat ihr Vorgesetzter, Jürgen Wenzel das Büro. Von seinem Kopf hing drahtig graues Haar. Eine dicke Brille ruhte auf einer für sein Gesicht zu großen Nase. Der Alte lächelte, doch heute blieben seine sonst so lebhaft grauen Augen starr. »Du bist Frühaufsteherin, was?«, wandte er sich ohne Umschweife an sie.

Beth nickte irritiert. Normalerweise wirkte seine gute Laune nicht so aufgesetzt.

Der alte Kommissar genoss aufgrund seiner Beteiligung an allerlei erfolgreichen Ermittlungen ein hohes Ansehen im Kommissariat. Auch diesmal hatte man ihm zum Leiter der Ermittlungskommission ernannt, woraufhin Wenzel zwanzig Mitarbeiter aus verschiedenen Fachabteilungen ausgewählt hatte, die nun mit vereinten Kräften an dem Fall arbeiten würden. Auch sie und Pieter waren dabei.

»Hast du dich gut eingefunden?«, wollte Wenzel von ihr wissen und klang dabei einen Hauch zu interessiert.

»Ja. Du hast es mir sehr leicht gemacht.« Im Grunde hätte sie die Einarbeitung nicht gebraucht.

Pieter schien besorgt und schielte alles andere als unauffällig zu Wenzel hinüber. Was war nur zwischen den zwei Männern vorgefallen?

»Solange ich weg bin, halte dich getrost an ihn«, sagte Wenzel. »Pieter wird dich unterstützen, wo er kann.«

Ach ja? Der Widerwille in dessen Augen blieb ihr nicht verborgen. Genaugenommen schien Pieter nicht erpicht darauf, mehr Zeit als nötig mit ihr zu verbringen.

»Informierst du mich, sobald es Neuigkeiten gibt?«, wandte Wenzel sich an ihn.

»Ja. Meldest du dich auch bei mir, sobald du etwas weißt?«

Die Männer sahen einander eine Spur zu lange an, wobei die Miene ihres neuen Kollegen der eines geschlagenen Hundes glich.

Wenzel nickte und ging Richtung Tür. »Kümmere dich um sie!«, forderte er noch einmal und drehte sich erneut zu Pieter um. »Und nimm sie nachher mit zu Franz. Sie hat ihn noch nicht kennengelernt.«

»Es wird nicht nötig sein, dass du dich um mich kümmerst«, ergriff Beth das Wort, nachdem die Tür laut knarrend ins Schloss gefallen war. »Ich komme hier gut alleine zurecht.«

Pieter würdigte sie keines Blickes, signalisierte aber durch ein knappes Nicken, dass er sie verstand. »Trotzdem, wenn Sie Fragen haben, kommen Sie damit zu mir.«

Wie bitte? »Wir sind beim Sie?«

»Ja«, bestätigte Pieter und starrte stoisch auf den Tisch. »So ist mir das jetzt gerade lieber.«

Beth war sprachlos – und das kam nicht häufig vor. Mit diesem arroganten Scheißkerl teile sie sich also das Büro. Das war doch nicht sein Ernst! Der Kerl musste doch wissen, dass das ungezwungene Du in ihren Kreisen üblich war – selbst unter unbekannten Mitarbeitern. Umgänglich und nettHa! »Bitte«, meinte Beth so kontrolliert und kühl es ging, aber durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick. »Dann also noch einmal von vorn: Sie müssen sich nicht um mich kümmern. Wenn ich Fragen habe, wende ich mich liebend gern an alle Mitarbeiter – außer an Sie.«

»Nein … Hören Sie, so war das nicht gemeint.«

»Ah ja? Es klang aber verdammt danach.«

Nichts. Nur angespanntes Schweigen.

Irgendwann stand Pieter auf und blieb, stocksteif und mit gesenktem Blick, vor ihrem Schreibtisch stehen. »Tut mir leid, wenn das jetzt falsch ankam. Sie können mich fragen, was Sie wollen. Jederzeit.« Er atmete tief durch. »Bitte kommen Sie um sechzehn Uhr ins Rechtsmedizinische Institut. Sie wissen, wo?«

Beth nickte irritiert. Was Pieter tat und sagte, passte nicht zusammen. Während sie noch darüber nachdachte warum, marschierte er bereits hinaus.

»Und gehen Sie rein, statt vor der Tür zu warten«, rief Pieter, ohne stehen zu bleiben oder sich noch einmal zu ihr umzusehen.

Beth schüttelte sprachlos den Kopf. Was zum Henker war mit dem Kerl los?

6

»Was ist denn heute los mit dir?«, wollte Franz von ihm wissen.

Wie Pieter ohne Mühe registrierte, war sein Ziehvater besorgt. Im Grunde war das Attribut besorgt das Erste, was ihm zu dem Mediziner eingefallen wäre, hätte irgendwer danach gefragt.

»Du hast am Telefon bereits so merkwürdig geklungen.« Franz neigte neugierig den Kopf. »Hattest du Streit? Etwa mit Sophie? Oder … ist am Ende etwas mit den Kindern?«

»Nein!« Das hatte ungewollt entnervt geklungen. Kein Wunder, denn er war seit Stunden überreizt. Erst dieses elende Gespräch mit Jürgen und dann die Sache mit der Neuen … Herrgott, das war komplett entgleist! Pieter atmete tief durch. »Sophie und den Kindern geht es gut. Die Arbeit macht ihr gerade sehr zu schaffen und …«

Er unterbrach sich, denn sie hatten nicht viel Zeit. Pieter war nicht hergekommen, um mit Franz zu plaudern. So wie er selbst, würden auch die Kollegen bald eintreffen, um der Leichenschau des Opfers beizuwohnen.

»Franz, von Sophie und dem Urlaub kann ich dir auch später noch erzählen. Es gibt da etwas anderes, über das ich mir dir reden muss: Elisabeth Wagner. Eine neue Kollegin. Sie wurde aus Flensburg hierher versetzt. Soweit ich weiß, auf eigenen Wunsch.«

»Nun gut. Ich bin gespannt.«

»Okay. Das ist … Hör mal Franz …« Sein Puls stieg merklich an. »Ich weiß nicht, wie das möglich ist, doch diese Frau … Sie … Sie sieht so aus wie Linda.«

Der Name hallte unschön an den kahlen Wänden wider. Wie lange war es her, dass er ihn ausgesprochen hatte? Pieter wurde übel. Lange genug, damit selbst Franz, ein viel zu redseliger Mann, nun tatsächlich die Luft anhielt und schwieg.

»Gut.« Franz ließ sich Zeit. »Sie sieht ihr ähnlich.«

Na wunderbar! Franz sah ihn an, als wäre er verrückt.

»Bist du deshalb derart durch den Wind?«

»Sie sieht ihr nicht nur ähnlich, Franz! Sie ist …«

Es klopfte und seine Kollegen traten in den hell gefliesten Kellerraum: Die schroffe Staatsanwältin war höchstselbst erschienen, statt den Termin an irgendeinen armen Wicht zu delegieren, wie es ihr Vorgänger getan hatte. Neben ihr ging Lutz, der Fotograf. Das Blitzlicht seiner Kamera war das wohl einzig Auffällige an diesem Mann. Carmen, Pieters hocherfahrene, aber leider eigentümliche Kollegin aus der kriminaltechnischen Abteilung, platzierte sich sofort dicht neben ihm. Ihre absehbare Bitte, dass er sie noch auf ein Bier begleiten möge, würde er auch heute höflich ablehnen – so wie beim letzten Mal und jeder anderen Gelegenheit davor …

»Lass dir nachher einfach nichts anmerken, okay?«, flüsterte er flehend an Franz gewandt.

Der schien besorgt, doch nickte, sodass Pieter zur Routine überging und dem Verlauf der Obduktion beunruhigt folgte.

7

Der Tod, der in den Kellerräumen des Instituts allgegenwärtig war, roch nach etwas Fremdem und Desinfektion. Beth atmete so früh und tief wie möglich ein, um sich an die Luft hier unten zu gewöhnen. Entgegen ihrer Erwartung fand sie einen gähnend leeren Sektionssaal vor, wobei sie Pieter in Begleitung eines Weißkittels und ohne jeden Ton empfing. – Er sah sie immer noch nicht an.

»Willkommen in meinen Hallen!«, setzte der schlanke und etwas zu klein geratene Mediziner an. »Ich bin der Leiter dieses Instituts, Professor Doktor Erdich –, oder Franz, ganz wie Sie wollen. Kommen Sie. Wir müssen hier entlang.«

Der Professor führte sie durch einen langen Flur, wobei Pieter dicht hinter ihnen ging. Die Luft war zum Zerreißen angespannt, was sicher nicht nur an den Leichen hier unten lag.

»Vergleicht man es mit Flensburg, ist Kiel wirklich keine Augenweide«, versuchte Erdich sich an etwas Small Talk, was Beths Stimmung allerdings nicht hob.

Ihr war nicht entgangen, wie dieser Weißkittel sie musterte und es auf diese ganz spezielle Art noch immer tat. Ärzte waren ihr ohnehin suspekt!

Inzwischen standen sie in einem überraschend komfortablen Büro. Erdich bedachte Pieter – nicht so unauffällig, wie er offensichtlich meinte – mit irgendeiner drängenden Frage in seinem Blick. Verdammt, was hatte Pieter ihm erzählt?

»Wie lange waren Sie in Flensburg?«, wollte der Professor wissen. Diesmal klang er ernsthaft interessiert.

»Ein paar Jahre. Ist die Obduktion schon abgeschlossen?«

»Ja«, war Pieters erstes Wort, seit sie hier eingetroffen war.

Beth schluckte. Dann erfasste sie ein mulmiges Gefühl. Im Geist ging sie die letzte Unterhaltung noch mal durch. »Habe ich Sie vorhin missverstanden? Komme ich zu spät?«

»Nein, sie waren überpünktlich.«

»Aber …« Sie war schon wieder sprachlos.

Beth kam sich nutzlos vor. Dann wallte Ärger in ihr auf. Da sie sich aber vorgenommen hatte, Pieters Sticheleien zu ignorieren, abzuwarten und sich ausschließlich der Arbeit zuzuwenden, riss sie sich zusammen.

Der Professor nahm hinter dem Schreibtisch Platz und deutete auf einen Stuhl. »Wie ich hörte, waren Sie es, die die Leiche fand?«

Sie nickte beiläufig und blieb, genau wie Pieter, stehen.

»Dann haben Sie ja selbst gesehen, wie übel man das Opfer zugerichtet hat«, fuhr Erdich fort, als spüre er die Spannung nicht. »Wir fanden viele, aber nicht sehr tiefe Wunden. Es handelt sich um fünfzehn sauber ausgeführte Schnittverletzungen, wobei jede einzelne wohl schmerzhaft, doch nicht tödlich war.« Er gestikulierte wild, während er sprach, und holte Luft. »Das Opfer starb an einem hämorrhagischen Schock. Man hat sie verbluten lassen. Langsam und qualvoll. Für die Schnitte wurde ein Skalpell der Figur zehn benutzt.«

Beth nickte und nahm notgedrungen Platz. Die Narben auf ihrem Rücken brannten und so würde es vielleicht gleich besser sein.

»Aber die Leiche weist auch eine tiefe Stichverletzung auf«, fuhr der Professor ohne Punkt und Komma fort, wobei er ihr ein Wasser einschenkte und ihr das Glas lächelnd entgegenschob. »Die Klinge traf präzise ins Herz. Womöglich war es ein schmales Küchenmesser, eins mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge.«

Beth runzelte die Stirn. Hatte er nicht eben noch gesagt, das Opfer sei verblutet?

»So wie auch die Verstümmelungen im Gesicht wurde der Stich post mortem zugefügt«, erklärte Erdich.

»Das heißt, der Täter verfügt über medizinische Kenntnisse«, stellte sie kühl fest.

Pieter hatte sich inzwischen auch gesetzt – nicht weit genug entfernt, dass sie ihn nicht im Augenwinkel sah – und nickte, während der Professor weitersprach.

»Zu dieser Überlegung hat sich Pieter auch hinreißen lassen.« Erdich blickte diesen lange an. Das Schauspiel nervte Beth. »Die Verletzungen wurden ihr strategisch zugeführt«, fuhr er endlich fort. »Was noch? Ah … vor ihrem Tod ist sie gefesselt und geknebelt worden. Sie wurde vergewaltigt und starb zwischen dreiundzwanzig Uhr und drei Uhr nachts. Und das ganz sicher nicht am Fundort. Die letzte Mahlzeit lag nicht allzu lang zurück. Es gab Spaghetti Bolognese.« Damit beendete der Mediziner den Bericht und richtete den Blick erneut auf Pieter, der für ihn weit mehr als ein Kollege zu sein schien. »Junge, was ist los? So schweigsam kenne ich dich nicht.«

Womöglich sollte sie jetzt einfach gehen …

»Sie müssen ihn entschuldigen«, richtete Erdich das Wort wieder an Beth, bedachte aber weiterhin mit strenger Miene ihn. »Ich kenne Pieter von klein auf und wenn er sich nicht gerade wie ein Klotz aufführt, ist er ein wirklich angenehmer Zeitgenosse.«

Hätte sie sich noch unwohler fühlen können?

»Du gehst zu weit«, war Pieters drohend kalte Antwort.

Beth zuckte ungewollt zusammen.

Der Mediziner überging den Einwand und tat – was sie vollständig irritierte –, als wäre nichts geschehen.

***

Beth wich Hendricks Schlägen aus. Der zeigte keine Gnade, was ihr allerdings nicht ungelegen kam. Sie legte ihre Wut auf Pieters ungehobeltes Verhalten in den nächsten Kick, der ihren Gegner ungebremst am Oberschenkel traf.

Jeder Versuch, zu dem Idioten durchzudringen, scheitert sowieso an seiner grenzenlosen Arroganz!, dachte sie aufgebracht. Was denkt sich dieser Mistkerl nur dabei?

Beth setzte nach, vernachlässigte aber ihre Deckung, was sich rächte: Hendricks gnadenloses Knie traf ihre Seite. – Verdammt, das tat echt weh!

Es war nicht klug, sich während eines Kampfes in Emotionen zu verlieren. Beth tat es dennoch und schlug ungehalten auf ihren Sparringspartner ein. Der wich ihren Schlägen aus, verschaffte sich durch einen gezielten Frontkick Raum und ging danach zum Angriff über. Als Hendrick zum nächsten Tritt ansetzte, drehte er sich um die eigene Achse und verfehlte ihren Kopf nur knapp.

Beth war nicht konzentriert und völlig außer Atem. Da sie sich nicht verletzen wollte, gab sie auf.

»Ärger bei der Arbeit?«, fragte Hendrick, als er ihr spielerisch gegen die Schulter schlug.

Beth nickte abgekämpft. Er kannte sie zu gut, um nicht genau zu wissen, wie der Hase lief. Sie hatte diesen Kerl schon viel zu lange nicht gesehen.

»War heute nicht dein bester Kampf«, bemerkte er lächelnd. »Hast dich nur an mir abgearbeitet, statt dich auf die Technik zu besinnen.« Hendrick entledigte sich seiner Handschuhe und sah Beth frech grinsend an. »Dabei weißt du doch, wie gerne ich dir dabei auch außerhalb des Rings behilflich bin.«

»Die Zeiten sind vorbei.«

»Oh ja, das habe ich bemerkt. Aber warum, hast du mir nie gesagt. Stattdessen bist du abgehauen und gehst mir seitdem aus dem Weg.«

Das brachte es wohl auf den Punkt. »Hendrick, es tut mir leid. Ich … Das damals war …«

»Hör zu, du bist ’ne klasse Frau. Und wie dir sicher nicht entgangen ist, habe ich noch immer sehr viel für dich übrig. Ich halte dir nicht vor, dass du mich hast stehenlassen.« Er zwinkerte ihr zu. »Also hör auf, mir aus dem Weg zu gehen.«

Als Hendrick ging, sah sie ihm traurig hinterher. Warum setze ich so was eigentlich immer wieder in den Sand?

Beth entledigte sich ihrer Boxhandschuhe, nahm frustriert den Schienbeinschutz und schließlich die Bandagen ab. Beziehungen waren nicht ihre Stärke, enge Bindungen raubten ihr die Luft. Ihre letzte Partnerschaft war aus demselben Grund nach wieder mal nur ein paar Monaten gescheitert. Die quälend hohe Anspannung, die sich selbst während ihrer kurzen Zeit mit Hendrick aufgebaut hatte, ließ sie aus jeglichen Beziehungen fliehen. Doch damit war jetzt Schluss! Statt sich und diesen armen Kerlen vorzumachen, dass tatsächlich etwas Festes aus der Sache würde, hatte sie sich nach der letzten Pleite vorgenommen, es künftig gleich bei einem Abenteuer zu belassen. So wusste jeder ganz genau, woran er war und wurde nicht verletzt.

Unter der Dusche wandte Beth sich den Problemen bei der Arbeit zu: Pieter hatte einen guten Stand im Team. Sie dagegen konnte er nicht leiden. Nur das Warum erschloss sich ihr noch nicht, was sie zunehmend in den Wahnsinn trieb. Hatte sie ihm etwa einen Grund geliefert, ohne es selbst zu bemerken? Beth ging die wenigen Begegnungen mit Pieter noch mal durch, hinterfragte jedes ihrer Worte, jede der Bewegungen und Gesten, kam jedoch zu keinem Schluss.

So ein verdammter Scheiß!

Sie stieg fahrig aus der Dusche. Die ganze Woche hatte sie sich Pieters merkwürdigen Launen ausgesetzt und sich fast krummgelegt, um es dem Herrn recht zu machen. – Doch auch damit war jetzt Schluss! Beth hatte weder Lust noch Energie dazu, sich über den Idioten aufzuregen. Sollte Pieter sie ruhig weiter ignorieren! Sie müsste ja nur mit ihm arbeiten, doch ihm nicht auch sympathisch sein.

8

»Ich hätte damit früher zu dir kommen sollen«, gestand Pieter zerknirscht. Da das Essen längst im Ofen garte, saß er nunmehr untätig, doch umso aufgewühlter auf einem Barhocker im Penthouse seines besten Freundes. »Aber ich habe gedacht, es würde sich von selbst erledigen. Stattdessen kann ich mich inzwischen kaum mehr konzentrieren, wenn diese Frau in meiner Nähe ist. Es langt schon, von ihr zu reden, und mir wird gleich wieder schlecht.«

Toms Behausung war modern und praktisch eingerichtet und bot neben der Terrasse einen imposanten Blick hinaus. Pieter starrte unzufrieden auf die Kieler Förde und hoffte verzweifelt auf Toms Reaktion, die jedoch weiter auf sich warten ließ. »Es tut mir leid. Ich weiß, ich bin nicht dein Patient.« – Tom war Psychiater und ein guter Therapeut. – »Doch das geht jetzt schon seit einer Woche so und …«

»Jetzt quatsch doch keinen Scheiß!«, bemerkte Tom und goss ihnen beiden Rotwein nach. »Du weißt, dass du mit allem zu mir kommen kannst. Doch gehen wir bitte kurz noch mal zurück: Du sagst, dass diese Neue Linda ähnlich sieht?«

»Herrgott, sie sieht ihr nicht nur ähnlich! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass sie es ist. Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, Tom.«

Der nickte lediglich und sah hinaus. »Seit wann sprichst du eigentlich wieder über sie?«, fragte er schließlich.

»Seitdem es nötig ist. Ist das für meine Frage relevant?«

»Und wie läuft es bei der Arbeit?« Toms Ton war beiläufig. »Abgesehen, von dieser Neuen?«

»Grade ist es ziemlich viel.« Pieter wusste, dass sein Freund Jürgen nicht mochte. »Jürgen ist krank«, entschied er dennoch zu erzählen. »Krebs. Es sieht nicht gut aus, glaube ich. Sie werden nächste Woche operieren. Deshalb soll ich jetzt die Ermittlungsleitung übernehmen. Noch ist es allerdings nicht offiziell.«

»Das erste Mal, dass du das machst?«

»Das erste Mal im Rahmen einer Mordermittlung. Und Jürgen hat mir dabei bisher immer beigestanden.« Pieter hielt unzufrieden inne. Tom war das Missfallen deutlich anzusehen, was nur bedeuten konnte, dass er es absichtlich nicht vor ihm verbarg. Sein Pokerface war legendär und Toms Gemütszustand ein Rätsel für die Menschen, die ihn liebten. »Ich weiß, du magst ihn nicht. Was fragst du auch, wenn du es nicht hören willst?«

»Meine Güte, sind wir heute überspannt. Natürlich will ich’s hören. Ist es dir lieber, wenn ich etwas Mitleid für den Mistkerl heuchle?«

»Das Ganze ist jetzt Jahre her. Du nimmst das zu persönlich.«

»Teufel, Mann, das sagt genau der Richtige.«

Sie sahen einander schweigend an.

Tom hatte zugenommen. Auch das Silbergrau hatte sich erst während des letzten Jahres in sein lichtes Haar verirrt. Der neue Leitungsjob tat ihm nicht gut, dennoch war er Toms Gelassenheit nicht abträglich. Auf Pieter wirkte seine in sich ruhende Präsenz selbst heute tröstlich.

Tom atmete tief durch. »Du gehst dieser Kollegin also aus dem Weg, vermeidest es, mit ihr zu sprechen und sie anzusehen. Sag mal, wie kannst du so nur arbeiten?«

»Natürlich gar nicht!«

»Schon gut.« Tom grinste schief. »Wärst du mein Patient, dann müsste ich dir jetzt erst langatmig erklären, warum es eine Schnapsidee ist, den Kontakt zu ihr so meisterhaft zu meiden. Da du mein Freund bist, komme ich aber gleich zum Punkt: Hör auf damit, deiner Kollegin aus dem Weg zu gehen, und befasse dich stattdessen endlich mal mit dem Problem, um das es hier tatsächlich geht.«

»Glaubst du denn, ich wüsste nicht, dass das kein guter Einfall war? Es ist mir ohnehin ein Rätsel, wie es ihr gelingt, das immer noch zu ignorieren. Sie denkt bestimmt, ich bin ein Riesenarsch.«

Tom stimmte unbefangen zu.

Pieter seufzte. »Der Punkt ist der: Mir fällt nichts Besseres ein. Tom, ich ertrage es nicht, sie anzusehen. Hab’s ausprobiert. Sobald ich es tue, sehe ich Linda. Und das ist … als würde es mich innerlich zerreißen.«

»Geh dem Thema Linda nicht noch länger aus dem Weg«, fuhr Tom mit diesem angenehm besänftigenden Brummen in der Stimme fort. »Woher willst du wissen, dass du es nicht erträgst, sie anzusehen? Mit ihr zu reden, sie womöglich besser kennenzulernen und dabei rauszufinden, dass sie eine eigene Persönlichkeit besitzt?«

Er sah Tom skeptisch an. Währenddessen trieb ein Luftzug frischen Wind durch die geöffnete Terrassentür.

»Wie heißt die Gute überhaupt?«

»Elisabeth Wagner. Sie bevorzugt Beth.«

»Also Beth. Sicher ist sie Linda nicht so ähnlich, wie du denkst.« Tom ließ sich Zeit. »Du weißt nicht, dass es dich zerreißt. Du glaubst es nur zu wissen.«

Es dauerte einen Moment, bis Pieter das verstand. »Ich hatte angenommen, ich sei darüber längst hinweg.«

Auf Toms schmalem Lippen lag der Ansatz eines Schmunzelns. »Piet, ich will dir nicht zu nahe treten«, meinte er und seine Miene wurde wieder ernst. »Ich weiß, was du damals durchgemacht hast. Besser als jeder andere. Trotzdem muss ich dir jetzt sagen, dass so etwas zu verarbeiten nun wirklich anders aussieht.«

Pieter starrte aus dem Fenster. Heute fiel es ihm besonders schwer, Toms gnadenlose Offenheit zu honorieren. Trotzdem schätzte er ihn eben dafür sehr.

»Ich verwette meinen viel zu breit gewordenen Arsch darauf, dass Lindas Bilder, ihre Staffelei und ihre Pinsel immer noch an ihrem alten Platz bei dir im Gästezimmer stehen.«

Pieter wollte, doch konnte es nicht leugnen, denn Tom würde jede Lüge mühelos durchschauen.

»Wie lange ist es her, dass du Interesse an einer Frau gezeigt hast? Teufel, Piet, wie lange ist es her, dass du mit irgendeiner Frau im Bett gewesen bist?«

»Du weißt, ich hab’s versucht!«

»Ja, ich weiß. Anna, oder nicht?«

Er nickte unwillig.

Anna war wundervoll gewesen. Sie hatten sich vor knapp fünf Jahren in einer Bar getroffen und waren zwanglos ins Gespräch gekommen. Noch heute frage Pieter sich, ob Tom das Treffen eingefädelt hatte. Zuzutrauen war es dem Halunken allemal. Pieter hatte Anna gleich gemocht und sich mit ihr verabredet. Immer wieder. Wochenlang. Trotz Annas Engelsgeduld und ihrem Verständnis für seinen Verlust – zu diesem Zeitpunkt hatte Lindas Todestag sich schon zum siebten Mal gejährt – hatten sich die Treffen, ihre Berührungen und Küsse letztlich doch nicht richtig angefühlt. Pieter hatte seine Schuldgefühle Linda gegenüber nicht ertragen und dem Trauerspiel daher nach ein paar Monaten ein viel zu ungnädiges Ende gesetzt …

»Ach, Piet!«, seufzte Tom und griff nach seinem Wein. »Nur weil das mit Anna damals nicht so funktioniert hat … Es schien dir trotzdem all die Jahre gut zu gehen. Dein selbst gewählte Los als Dauerjunggeselle … Scheinbar hat es für dich funktioniert. Du hast Menschen, denen du etwas bedeutest, hast dich zu einem der besten Köche, die ich kenne, gemausert und gehst regelmäßig deinen Hobbys nach. Du hast einen dich ausfüllenden Job und sorgst dich nach wie vor um deinen Körper – um den ich dich, ganz unter uns gesagt, beneide.« Er sah bedeutungsvoll an sich hinab, was Pieter schmunzeln ließ. »Daher hatte ich auch nicht den Eindruck, dass es dir noch schlecht mit all dem geht.« Tom ließ sich Zeit und wurde dann wieder sehr ernst. »Nach dem, was du mir jetzt erzählst, mache ich mir aber Sorgen um dich, Piet.«

9

Dank eines reinigenden Gewitters hatte sich die ungewohnte Hitze in der letzten Nacht gelegt. Nun prasselte Regen schwer vom grauen Kieler Himmel und perlte in dicken Tropfen an Beths Fensterscheibe ab.

Sie zwang sich zu einem frühen Frühstück und sah nachdenklich hinaus. Die letzten Tage waren schnell vergangen … Alles drehte sich um die Befragung potenzieller Zeugen und die Auswertung von Spuren, die im Laufe der Ermittlungen von Bedeutung wären. Nur wer das Opfer war, war weiter rätselhaft.

Beth hatte das Büro zu oft zu spät verlassen, was jedoch nicht an ihrem Ehrgeiz lag. Im Grunde wusste sie nichts mit dem bisschen Freizeit anzufangen, das ihr nach der Arbeit blieb. Auch heute würde sie, zu Hause angekommen, die Handtasche auf einem Stuhl im Flur abstellen, etwas essen – am besten einen Salat, womöglich aber doch wieder die fette Pizza vom Lieferservice nebenan – und danach erschöpft ins Bett fallen. – Ein kaltes Bett, das wie ihr gähnend leerer Kühlschrank und die beinahe ungenutzte Küche von der Einsamkeit und Leere zeugte, die sie schon seit Jahren und inzwischen viel zu oft umgab. Beth sehnte sich nach einem offenen Ohr; im besten Fall dem Ohr eines Vertrauten, den es in ihrem Leben derzeit allerdings nicht gab. Sicher müsste sie mehr unter Menschen gehen …

Sie griff mäßig motiviert nach ihrem Telefon, in dem noch immer Hendricks Nummer stand, rief diese auf und starrte zwiegespalten auf die altbekannte Ziffernfolge. Besser nicht! Sie tat dem armen Kerl nur wieder weh. Und ausgerechnet Hendrick hatte das nicht noch einmal verdient.

Also ging sie die übrigen Kontakte im Adressbuch durch: Lieferdienste, ein paar Nummern von Kollegen und unnützen Ärzten – und natürlich die von Eva, ihrer vielleicht einzigen und besten Freundin.

Ob Eva sie wohl auch noch so betiteln würde? Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten viel erlebt und einander restlos alles anvertraut. Dann hatte Eva Kiel verlassen und zu allem Überfluss geheiratet … Die Zeiten ihrer engen Freundschaft waren längst vorbei und auch ihr letztes Treffen war schon über ein Jahr her.

Beth seufzte, sah nervös auf ihre Uhr – die Arbeit rief – und rang sich schließlich schuldbewusst zu einem Anruf durch.

Als Beth den abgedunkelten Besprechungsraum weit vor der Zeit betrat, war Pieter schon vor Ort. Bis eben hatte er in der weit offenen stehenden Tür gelehnt, sie registriert und sich vermutlich deshalb ein paar Schritte weiter rechts platziert. Dabei war er in ein Gespräch mit Carmen, ihrer gefallsüchtigen Mitarbeiterin aus dem K6, vertieft.

Beth grüßte die zwei unliebsamen Kollegen knapp, woraufhin Pieter ihren Gruß genauso knapp erwiderte und Carmen das Hallo kaltblütig ignorierte. In letzter Zeit tat sie das oft. Beth schluckte es herunter. Was scherten sie die Launen der Kollegen? Sie würde Eva wiedersehen! Am nächsten Wochenende käme sie nach Kiel.

Sie ging auf den Besprechungstisch zu, nahm auf einem der zwanzig Stühle Platz und goss sich unruhig ein Glas Wasser ein, wobei sie gelangweilt anfing Pieter zu betrachten: Er lächelte, schien in Gedanken aber ganz weit weg und war verspannt. Alles an dem Kerl wirkte so aufgesetzt. Merkte Carmen das denn nicht? Wahrscheinlich hörte er ihr nicht mal zu, dabei hatte sie eindeutig etwas für ihn übrig, himmelte ihn förmlich an. Doch Pieter ging nicht darauf ein. Der muss doch merken, dass die auf ihn fliegt.

Pieter wandte sich von seinem Groupie ab und sah Beth direkt ins Gesicht. Sein Lächeln nahm sie gegen ihren Willen ein, weshalb sie sich verärgert von seinem Anblick löste und sich – in der Hoffnung, dabei ungerührt zu wirken – des Whiteboards annahm.

Dort hingen die Bilder einer Toten, die noch niemand zu vermissen schien. Der Täter hatte diese arme Unbekannte gnadenlos entstellt. Und ihre Augen … Diese weit aufgerissenen grünen Augen ließen Beth keine Ruhe. Sie fröstelte. Um einer Person ein Messer tief zwischen die Rippen zu stoßen und das Herz dabei auf Anhieb zu punktieren, war mehr als nur berechnendes Kalkül nötig: Der Täter hatte Ahnung, und ganz sicher Kraft …

»Na, sieh an …« – Beth schrak aus ihren Gedanken. – »… da ist ja meine neue Lieblingskollegin!« Ingo war ein bulliger und durchaus fähiger Beamter, mit dem sie in den letzten Wochen oft zusammengearbeitet hatte. Dass er sich ihr dabei aufdrängte, war lästig. Als er sich setzte, streifte er wie zufällig Beths Schulter und rückte wie immer viel zu nah an sie heran. »Wenn du willst, zeige ich dir heute nach dem Dienst die Stadt«, bot er ihr augenzwinkernd an. »Bin hier geboren – quasi ’ne echte Kieler Sprotte – und Kiel ist gar nicht so schrecklich, wie man auf den ersten Blick oft meint.«

»Danke, ich kenne Kiel bereits.«

Pieter schlich mit gesenktem Blick auf sie und Ingo zu. Er grüßte knapp und zog sich einen Stuhl zurück. – Von den rund zwanzig freien Plätzen im Raum wählte der Kerl ausgerechnet diesen aus? Beth war sprachlos – ein Mal mehr. Der hat doch einen an der Waffel! Pieter nahm zu ihrer Rechten Platz, woraufhin sie die Luft anhielt und mühevoll versuchte, sich zu regulieren – was jedoch nicht so gut gelang: Zwischen dem aufdringlichen Ingo und ihrem überspannten Schreibtischnachbarn eingekeilt, fühlte sie sich unwohler denn je.

10

Der Schwindel hatte Pieter überfallen, doch diesmal nicht überrascht. Bereits auf das Gespräch mit Carmen hatte er sich nur mit Mühe konzentrieren können und diesen Umstand stoisch akzeptiert. Wenngleich sein Vorsatz wankte, wollte er Toms Worten Folge leisten: Er musste sich mit dieser neuen Kollegin konfrontieren! Deshalb hatte er sich einen Ruck gegeben und sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen neben sie gesetzt. Hier saß er nun; stocksteif, aber immerhin.

Pieter griff unruhig nach der Kaffeekanne. »Wollen Sie vielleicht auch?«, fragte er Beth, wobei er angestrengt versuchte, sie so freundlich wie nur möglich anzusehen.

Sie nahm einen leidlich tiefen Atemzug und schüttelte den Kopf.

Dann endlich betrat Jürgen den Besprechungsraum und nahm am Tischende ihnen gegenüber Platz. Ob dem Alten klar war, dass er heute womöglich zum letzten Mal in die Gesichter der Kollegen blickte?

»Also dann!«, ergriff Jürgen das Wort, »schön, euch zu sehen. Wir machen es wie immer. Bevor wir starten, hätte ich aber sehr gerne noch einen Keks.«

Ein Mitarbeiter schob ihm einen Teller Hafer-Dinkel-Kekse zu.

Jürgen bediente sich großzügig. »Hat deine Verlobte die für uns gebacken?«

Pieter wurde schwer ums Herz. Der Alte wirkte glaubhaft unbekümmert. Wie zum Teufel stellte er das an?

»Sag ihr lieben Dank und halt sie dir um Gottes Willen warm! Und jetzt zum offiziellen Teil: Ich habe zwei Ankündigungen zu machen, aber das hat bis nachher Zeit. Carmen, meine Liebe, fängst du an?«

Carmen nickte. »Unsere Arbeit ist seit gestern abgeschlossen. Die erste Auswertung der Spuren ergab, dass neben dem Opfer ein paar Hunde, eine Frau sowie drei Männer am Fundort waren. Das Blut stammt eindeutig vom Opfer, die Fasern von unterschiedlichen Kleidungsstücken. Genauere Analysen laufen noch. Wir haben Fußabdrücke entdeckt, zum Großteil unvollständig. Sie stammen von verschiedenen Personen: einer schlanken Frau, etwa eins siebzig groß, und einem übergewichtigen Mann, Größe etwa eins fünfundachtzig.«

Pieter seufzte, da das Material von jedem x-beliebigen Besucher des Parks stammen konnte.

»Jetzt seid ihr am Zug«, fuhr Carmen fort und zwinkerte ihm zu.

Er versuchte, es zu ignorieren. Im Augenwinkel sah er, wie Beth eine Augenbraue hob. Sie presste etwas Luft hervor; nicht laut, doch laut genug, dass er es hörte. War das eine Reaktion auf Carmens Flirt? Im Stillen gab er ihr in allen Punkten recht: Carmens Annäherungsversuche waren nicht nur unpassend, sondern skurril. Er sah Beth an, wobei ihm wieder übel wurde. Auch das war lästig, doch erst mal nicht zu ändern.

Am Fundort waren insbesondere die verwischten Spuren aufgefallen, was sicher auch ein Werk des Täters war. Schließlich war ein Spurenabgleich nicht erfolgversprechend, wenn es am Tatort keine Spuren des Täters gab. Auch am Leichnam hatten die Kollegen keine relevanten Spuren sichern können. Der Gesuchte hatte Handschuhe, vielleicht sogar einen Schutzanzug benutzt und auch die Fingernägel seines Opfers akkurat gesäubert. Doch immerhin: Dank ein paar Schleifspuren und umgeknickter Pflanzen hatten sie zumindest festgestellt, von wo aus er das Opfer ins Gestrüpp gezogen hatte. Die Arme musste zu der Zeit bereits bewusstlos oder tot gewesen sein.

Jürgen war ungewöhnlich still, was Pieter komisch vorgekommen wäre, hätte er den Grund dafür nicht längst gekannt. »Der Täter handelt planvoll«, sprang er also ein. »Die Verletzungen hat er ihr strategisch zugefügt. Auch die Spuren hat er gezielt verwischt. Er wird nichts dem Zufall überlassen, was die Arbeit für uns wohl nicht leichter macht.«

»Wer ist die Tote?«, fragte ihn die Staatsanwältin barsch. »Haben Sie wenigstens bei dieser Frage bereits Fortschritte gemacht?«

Das Biest nahm regelmäßig an den Dienstbesprechungen teil, entschied über Ermittlungsschritte und die dafür vorgesehenen Untersuchungen. Jedes ihrer Worte verhieß Ärger.

»Wir alle tun unser Möglichstes«, antwortete Jürgen ruhig – ganz der erfahrene Ermittler, der er war – und wandte sich nun selber wieder an die Runde. »Gibt es zur Identifikation der Toten bereits Neuigkeiten?«

»Unter den Vermissten hat sich niemand finden lassen, der zu der Beschreibung dieser Toten passt.« Olaf, der Pressesprecher, wandte sich sachlich und klar direkt an die Staatsanwältin. »Wie Ihnen sicher nicht entgangen ist, geht die Beschreibung der Ermordeten seit Tagen durch die Medien.«

Eine Tätowierung auf dem rechten Oberarm der Toten – das filigrane Abbild eines Adlers – zählte neben den drei Narben auf ihrem Unterbauch zu den vielversprechendsten Erkennungsmerkmalen des Opfers.

»Es gibt Rückläufe, denen nachgegangen wird. Dabei arbeiten wir gründlich und gehen nach einem bewährten Schema vor«, fuhr Olaf fort.

Für jeden Hinweis eines Bürgers, so wenig relevant er auch erschien, legten sie Ermittlungsspuren an und gingen dem nach.

»Und so etwas braucht Zeit«, schloss Olaf.

»Vielen Dank«, erklärte Jürgen mit deutlicher Verzögerung. Der Teller mit den Keksen war inzwischen leer. »Kommen wir nun zu den Ankündigungen, die ich machen muss. Erstens: Ab morgen wird uns eine Kommissaranwärterin unterstützen: Saskia Schmidt. Sie absolviert bei uns ihr letztes Praktikum. Bitte nehmt sie unter eure Fittiche.« Der Alte atmete schwer aus, sodass Pieter ahnte, was jetzt kam. »Der zweite und für heute letzte Punkt«, fuhr Jürgen fort, als wäre es nichts. »Ich werde in der nächsten Zeit nicht so oft hier sein können, wie ich es gerne wäre. Daher bin ich gezwungen, die Ermittlungsleitung abzugeben.«

Stille.

Pieter blickte aus dem Fenster und vermied es Jürgen oder, auch nicht besser, eines der nun sicher überfahrenen Gesichter der Kollegen anzusehen. Er kämpfte mit dem Abschiedsschmerz, als Jürgen dazu ansetzte, seine wohl vorerst letzte Rede vor der Mannschaft zu beenden.

»Pieter wird ab morgen die Ermittlungsleitung übernehmen. Bitte unterstützt ihn, wo ihr könnt.«

Abermals kein Wort. Von niemandem. Dafür spürte Pieter all die Blicke, die nun abwechselnd auf ihm und seinem Vorgesetzten lagen. Er würde Jürgen nicht ersetzen können. Das wusste jeder hier im Raum so gut wie er …

»Nun gut«, meinte der Alte und stand auf. »Wir alle haben viel zu tun. Machen wir uns wieder an die Arbeit.«

Das wars also. Jürgen verschwand.

Die Runde löste sich nur langsam auf. Ein paar Kollegen tuschelten. Andere, darunter Ingo, klopften Pieter, als sie gingen, auf die Schulter; beiläufig und stumm.

Beth saß noch immer neben ihm und blickte schweigend auf die Tür, durch die Jürgen verschwunden war. »Das ist doch wohl ein schlechter Scherz«, entfuhr es ihr gerade so laut, dass er die Worte noch verstand.

Pieter sah sie traurig lächelnd an, woraufhin Beth errötete. Offensichtlich hatte sie nur laut gedacht.

»Es tut mir leid!«, stammelte sie. »Ich meine … also …«

»Schon gut. Das waren auch meine Worte, als ich es erfuhr.«

Die Übelkeit zwang ihn, sich von ihr abzuwenden, doch diesmal blieb er da. Am Ende war es Beth, die kommentarlos aufsprang und den Raum im Eiltempo verließ; dabei genauso angespannt wirkte, wie er es schon seit Tagen war.

***

Tage nach dem viel zu leisen Abschied seines Mentors saß Pieter abermals bis weit nach Feierabend im Büro. Auf dem Schreibtisch häuften sich die Aktenberge schneller, als er sie abarbeiten konnte. Die Ermittlungen kamen nicht voran und nicht zum ersten Mal seit Jürgens Rücktritt fragte Pieter sich, ob er dem Druck denn überhaupt gewachsen war. Herrgott, er hätte ihm den dämlichen Gefallen niemals tun sollen! Noch dazu ausgerechnet jetzt.

Pieter tippte die letzten Worte des Berichtes in den PC, schloss seine Arbeit unzufrieden ab und richtete den Blick noch einmal unruhig in den Raum. Ein Becher kalten Kaffees ruhte auf Beths akkurat sortiertem Tisch, die graue Strickjacke, die sie so häufig trug, hing immer noch abwartend über ihrem Stuhl. Also war sie auch noch nicht gegangen.

Beth leistete hervorragende Arbeit, machte dabei aber viel zu viele Überstunden. – Und sie ging ihm kategorisch aus dem Weg. Während ein Teil von ihm damit zufrieden war, ohrfeigte ihn der anderer für sein Unvermögen, auf sie zuzugehen.

Pieter seufzte. Was er in Beth sah, war nicht real, und doch sah sie genau wie Linda aus. Vielleicht aus gutem Grund? Linda hatte ihre Eltern nicht gekannt. Ein kinderloses Ehepaar, zwei herzensgute Menschen, hatte sie als Säugling adoptiert, sie großgezogen und vergöttert. Der Umstand dieser Adoption und Beths frappierende Ähnlichkeit zu ihr … War Elisabeth womöglich Lindas Zwillingsschwester?

Nein, das war absurd!

Pieter atmete tief durch. Er war erschöpft und ausgelaugt von diesem langen und ergebnislosen Tag, stand auf und packte ein. Dass die Vergangenheit ihn in der Form der neuen Kollegin einholte – Herrgott, warum denn ausgerechnet jetzt? –, erschien ihm bestenfalls wie eine Farce. Pieter schob die quälende Erinnerung an Linda fort und tat, als gäbe es die Probleme nicht. Weder Lindas Ebenbild noch Jürgens Krebs oder den Druck dieser Ermittlung. Er wischte all das fort und konzentrierte sich stattdessen auf die Pokerrunde, die sich heute Abend bei ihm traf.

»Warum tue ich das hier eigentlich?«, murrte Tom und reichte ihm den schweren Pokerkoffer, noch bevor er durch die Haustür trat. »Nach vierzehn Stunden komme ich endlich aus der Klinik und verbringe meinen Feierabend lieber mit euch Bullen, statt Claire zum Abendessen auszuführen.«

Dass Tom sich immer noch mit der Französin traf, war interessant.

»Weil du, mein Freund, mir einen Gefallen tust«, ging Pieter auf dessen gespielt gequältes Murren ein. »Denn wenn du dabei bist, reden die drei anderen nicht von unserer Arbeit, was mir gerade sehr entgegenkommt. Und davon abgesehen hast du sonst keinen, der beim Pokern jedes Mal freiwillig gegen dich verliert. Wie hast du das neulich noch genannt? Selbstwertstabilisierende Maßnahme?«

»Richtig, ja, da war so was«, grinste Tom schief und trottete an seiner Seite durch den Flur. »Hast du den Süßkram wieder irgendwo vor mir versteckt? Rück’ wenigstens die Schokolade raus! Ich brauche den Zucker, noch bevor deine athletischen Kollegen auftauchen und mir Komplexe machen.«

Pieter suchte amüsiert nach einer Tafel Bitterschokolade und reichte sie seinem pummeligen Freund, der sich genüsslich daran gütlich tat.

Eine halbe Stunde später waren die Kollegen da und blickten stumm in ihre Karten. Neben den Jetons befanden sich diverse Flaschen Bier, Toms Whisky-Tumbler und natürlich auch die Erdnussflips sowie die Reste von Toms Schokolade auf dem Tisch. Das erste Mal seit Tagen fühlte Pieter sich mal wieder richtig wohl.

»Gratulation zum neuen Posten«, meinte Anton nach der ersten Runde. »Doch warum erfahre ich erst jetzt davon?« Er setzte und stieg in die neue Runde ein. »Zu freuen scheint es dich ja nicht.«

Da war sie wieder, die vermaledeite Unruhe … »Ich bin und war nie scharf auf diesen Posten.« Pieters Blatt war denkbar schlecht: Zwei Luschen, mit denen kaum was anzufangen war. »Und auch nicht auf die damit verbundene Mehrarbeit. Bin raus!« Hoffentlich war dieses Thema jetzt vom Tisch.

Tom stellte den Whisky ab und ging scheinbar gelangweilt mit. Ingo hatte den Small Blind und ging ebenfalls mit, woraufhin Tom – er war der Dealer dieses Spiels – drei Karten offen auf dem Tisch ablegte: Karo Neun, Kreuz As und Herz König.

Olaf schob, indem er klopfte. Daraufhin erhöhte Anton, wobei Pieter zu erkennen meinte, dass er bluffte. Auch Tom schien das zu glauben, zumindest ging er ohne Regung mit.

»Bin raus«, erklärte Ingo und griff nach seinem Bier.

Auch Olaf warf die Karten auf den Tisch.

»Dann bleiben also wieder nur wir zwei!«, kommentierte Anton, während Tom in aller Ruhe eine vierte Karte zog und den Pik König zu den anderen legte.

Pieter beobachtete seinen besten Freund, da niemand hier so gut bluffte wie er. Anstatt auf Anton einzugehen, lehnte sich Tom in den Stuhl und musterte seinen Kontrahenten interessiert. Der zögerte, erhöhte aber doch.

»Ich sehe, dass du bluffst«, erklärte Tom beinahe bedrohlich beiläufig. »Es wird teuer, wenn du weiterspielst.« Dann erhöhte er in aller Ruhe.

Anton ging mit.

Tom zog die letzte, die River-Karte und legte die Pik Sieben auf den Tisch. Anton klopfte, was Pieter und die anderen schmunzeln ließ, bevor Tom noch einmal erhöhte. Wie Pieter wusste, provozierte sein Freund gern.

Anton ging nur mit und wollte sehen.

Tom hatte nicht geblufft, sein Full House schlug das Neuner-Paar. Der Pot ging abermals an ihn.

»Was hältst du von der Neuen?«, wollte Anton wissen, als es eine Weile still gewesen war.

Pieter war an dieser Frage wenig interessiert. »Nach allem, was ich sehe, leistet sie sehr gute Arbeit«, versuchte er das Thema abzuwiegeln.

»Das habe ich nicht gemeint. Sie ist niedlich, oder nicht? Auch wenn sie immer so verkniffen guckt. Nach allem, was man hört, ist die Frau Einzelgängerin.«

Peter spürte, wie sich etwas tief in ihm verkrampfte.

»Ach was!«, mischte sich Ingo ein. »Die brauch’ ganz einfach einen, der es ihr mal wieder gut besorgt. Dann ist sie sicher auch gleich besser drauf. Pieter, wie sieht’s aus?« Ingo klopfte ihm vielsagend auf die Schulter. »Du bist es doch, der sich jetzt um die Mitarbeiter kümmern muss.«

Statt Ingo sofort vom Stuhl zu zerren, bediente Pieter sich erst einmal an den Erdnussflips. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

»Weil er im Gegensatz zu euch zwei Leuchten für gewöhnlich nicht dort scheißt, wo er auch isst«, meldete sich Tom gerade noch rechtzeitig zu Wort.

Herrgott, wo kam die Wut auf einmal her? Pieter hielt den Kopf gesenkt und ballte die Fäuste unter dem Tisch.

»Is’ mir recht«, fuhr Ingo fort. »Dann kann ich es ja selbst probieren. Ihr werdet an mich denken, wenn die Kleine eines Tages lächelnd das Büro betritt.«

»Alter«, mischte sich Olaf kopfschüttelnd ein, kurz bevor Pieter dem drängenden Impuls Ingo zu verprügeln nachgeben konnte. »Hörst du dir beim Reden eigentlich zu? Statt so dumm rumzuquatschen, gib lieber die Karten aus.«

Ingo gehorchte, während Anton mit dem Thema offensichtlich noch nicht fertig war: »Ich habe gehört, dass sie in Flensburg mächtig Eindruck hinterlassen hat.«

Offenbar war es naiv gewesen, darauf zu hoffen, beim Pokern mit Kollegen Abstand von der Arbeit zu gewinnen. Pieter fuhr sich angestrengt übers Gesicht, ihm war schon wieder schlecht. Und diese Unruhe, die in seinem Innern wütete … Womöglich sollte er sich eine Auszeit gönnen?

»Niemand weiß was über sie«, fuhr Anton fort. »Selbst ihr Partner aus der alten Einsatzstelle hat kaum was Privates aus ihr rausbekommen.«

Dass Anton so viel tratschte, passte nicht zu ihm. Sicher war es gleich vorbei. Pieter verwarf den Plan zu Flüchten und starrte, um sich abzulenken, in die Karten. – Wieder ein beschissenes Blatt!

»Wer weiß, vielleicht hat sie Familie hier? Oder einen Lover, dem sie hinterherge…«

»Wollen wir weiterspielen?«, fragte Pieter und klang dabei so bedrohlich, dass er beinahe vor sich selbst erschrak. Immerhin verfehlte dieser ungewohnte Tonfall seine Wirkung nicht: Anton nickte und war endlich still.

Als die Kollegen gingen, war es kurz vor Mitternacht. Nachdem klar war, dass die Arbeit oder Beth nicht die besten Gesprächsthemen waren, hatte sich die Atmosphäre schnell entspannt. Pieters Wut war längst verflogen, nur diese Unruhe war noch da.

»Mit was für Gestalten arbeitest du eigentlich zusammen?«, fragte Tom. »Ich mag diesen verkappten Playboy nicht. Und der Typ neben ihm …«

»Dass Ingo dir nach diesem Auftritt nicht sympathischer geworden ist, kann ich verstehen. Doch Anton? Er ist eigen, ja, manchmal vielleicht zu kämpferisch, aber im Grunde nett.«

»Nett? Ich finde ihn suspekt. Beide! Irgendwas an den zwei Hansen ist nicht koscher.«

»Bist du etwa eifersüchtig, Tom?«

»Worauf? Etwa auf eure Fitness-Treffs? Mein Ego ist nun wirklich groß genug, um zu verkraften, dass du mich durch diese Affen ersetzt hast.«

Herrje, Tom war tatsächlich eifersüchtig. Pieter schmunzelte in sich hinein. »Du warst es, der keine Zeit mehr dafür hatte.«

Tom rümpfte vielsagend die Nase und half ihm, den Esstisch von den Zeugnissen des Abends zu befreien.

»Anstatt dich zu beschweren«, lenkte Pieter ein, »verrate mir lieber, wie du jedes Mal bemerkst, dass einer von uns blufft? Das wird langsam unheimlich.«

»Gab’s gratis mit zum Facharzttitel«, grinste Tom und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich höre und sehe einfach genau hin. Deshalb machst du, mein Freund, mir auch nichts vor: Du hättest diesem Affen vorhin liebend gerne eine reingehauen, nicht wahr? Du warst so kurz davor. Ist es inzwischen wieder gut?«

»Wenn wir im Dienst sind, ist er nicht so ’n Arsch.«

»Jetzt lenkst du ab. Ich habe gefragt, wie es dir geht. Du hattest sie vor Augen, als er über die Neue sprach?«

Da es nicht erfolgversprechend schien, zu lügen, nickte Pieter knapp.

»Sieh zu, dass du das in den Griff bekommst«, erwiderte Tom ernst. »Sonst wird das früher oder später zum Problem. Und unter uns: Er ist ein Riesenarsch – und das ganz sicher auch im Dienst.«

11

»Guten Morgen«, grüßte Pieter, als er das Büro müde, doch mit einem klaren Anliegen betrat. Den Schwindel, der sich seiner bemächtigte, wann immer er Beth sah, hieß er inzwischen sogar routiniert willkommen.

Beth erwiderte den Gruß nur knapp und sah nicht auf, was ihn nicht weiter überraschte. Im Grunde war er dankbar dafür, dass sie es noch immer mit ihm aushielt, ohne sich an anderer Stelle über sein Verhalten zu beschweren.

Pieter vergegenwärtigte sich Toms Rat, nahm Platz und musterte unsicher Beths Profil: Sie trug ihr Haar offen, wohingegen Linda ihre lange braune Mähne stets zu einem wilden Etwas hochgebunden hatte. Der fließend-weiche Stoff der Bluse schmeichelte Beths Dekolleté; offensichtlich hatte sie einen Hang zu schlichten Seidenblusen und modernen Jeans.

Linda hätte Jeans nie angefasst

Pieter erinnerte sich wehmütig an ihre Vorliebe für Spitzenkleider und romantisch-wallende Röcke.

»Warum arbeiten Sie nicht vom Büro des leitenden Ermittlers aus?«, fragte Beth und blickte auf, was seine Übelkeit verstärkte. »Ich habe das neulich ernst gemeint. Sie müssen für mich nicht den Babysitter spielen.«

»Es ist nicht mein Büro«, erwiderte Pieter, um einen entspannten Ton bemüht. »Ich vertrete Jürgen nur so lange, bis er wiederkommt.«

»Sie wissen, was mit Wenzel ist. Er hat es Ihnen gesagt.«

Er schwieg – ertappt – und zwang sich weiterhin, sie anzusehen.

»Und es ist fraglich, ob er wiederkommt, nicht wahr?«

Warum klang das, als kannte sie die Antwort längst? Pieter nippte verlegen an dem Tee der, wie er schmerzlich feststellte, zu heiß zum Trinken war.

»Fühlen Sie sich deshalb schlecht damit? Weil Sie ihn nicht ersetzen wollen, bevor es offiziell geworden ist?«

Er hätte sich beinahe verschluckt. »Woher …« Beth hatte recht, in jedem Punkt. »Ich meine, wie kommen Sie darauf?«

»Das war nun wirklich nicht sehr schwer«, bemerkte sie und wandte sich dann lächelnd ab. Die Frau erinnerte ihn zunehmend an Tom.

»Es ist sein Büro«, versuchte er sich zu erklären, »nicht meins. Außerdem fühle ich mich hier bedeutend wohler und habe kein Bedürfnis nach mehr Ruhe.« Eine glatte Lüge, doch was hätte er ihr sagen sollen? Dass ihm jedes Mal kotzübel wurde, wenn er sie ansah?

Beth blickte nicht noch einmal auf, zog aber kritisch eine Augenbraue in die Höhe.

»Hören Sie, wir hatten einen schlechten Start. Aber ich helfe Ihnen wirklich gerne, wo ich kann.«

Sie tat, als wäre er Luft.

Pieter versuchte, die zunehmende Anspannung zu überspielen, nahm einen Schluck Tee – er war noch immer viel zu heiß – und sah seine Kollegin, wie es Tom empfohlen hatte, weiter an.

»Wollen Sie mir irgendetwas sagen, oder warum starren Sie die ganze Zeit so angestrengt hier rüber?« Beth hatte abermals nicht aufgesehen, was auch nicht nötig war: Ihr scharfer Tonfall reichte völlig, um zu verdeutlichen, wie aufgebracht sie war.

»Ja, ähm …« Sie würde sich mit Sicherheit beschweren. »Wissen Sie, da ist ein Hinweis reingekommen, der vielversprechend klingt. Das hier ist die Adresse einer Bar.« Er reichte ihr den Zettel. »Das Opfer soll hier ab und an zu Gast gewesen sein. Könnten Sie sich bitte darum kümmern?« Eigentlich hatte Pieter sich der Sache selber annehmen wollen, aber ihm war auf die Schnelle gerade nichts besseres eingefallen.

Beth nahm den Zettel, sah ungehalten auf und schob ihn dann zurück. »Was bitte soll das sein? Keilschrift? Ich kann kein Wort entziffern.«

In der Tat war seine Handschrift nicht sehr leserlich. Pieter hielt verlegen inne, griff nach einem Kugelschreiber und notierte die Adresse dann erneut. »Tut mir leid.« Er lächelte entschuldigend. »Hier, Kaistraße siebenundvierzig, der Blaue Engel, eine Bar am Hafen. Der Anrufer hat gesagt, dass er sie dort beim Tangokurs gesehen haben will.«

Beth wandte sich dem Bildschirm zu. »Ich kümmere mich darum.«

»Hören Sie …« Er zögerte. Für diese Sache würde sie ihn hassen – wenn sie es nicht ohnehin längst tat. »Bitte verstehen Sie das nicht miss, aber ich möchte Ihnen gern unsere Praktikantin anvertrauen.«

Wie erwartet, starrte ihn Beth finster an.

»Ich habe ihr das Kommissariat bereits gezeigt«, erklärte er hastig, »und sie ein wenig eingearbeitet. Saskia ist unkompliziert und lernt sehr schnell.«

»Was ist mit Ingo? Ich arbeite mit ihm.«

Genau das war ja das Problem. »Für Ingo wird sich jemand anders finden.« Im besten Fall ein Mann.

»Hat er sich über mich beschwert?«

»Nein.« Das hätte Pieter überrascht. »Hatten Sie womöglich irgendeine Art Problem mit ihm? Wenn dem so war, würde ich es wirklich gerne wissen wollen.«

Beth musterte ihn stumm.

»Schon gut, Sie wollen nicht mit mir darüber reden. Das ist okay. Doch es gibt andere Anlaufstellen, an die ich Sie …«

»Das ist doch ernsthaft unnötig«, unterbrach sie ihn, sodass er innehielt. Mehr sagte Beth trotzdem nicht.

»Wie dem auch sei«, brummte er – sie hasste ihn ja ohnehin – und kehrte ihr gespielt genervt den Rücken zu. »Ich brauche einen Dummen, der sich um diese Praktikantin kümmert. Sie sind neu und dafür da, mir Arbeit abzunehmen. Und Praktikanten sind nun einmal Arbeit, um die ich mich nicht auch noch kümmern will. Sie werden ab sofort nicht mehr mit Ingo arbeiten.«

»Aha«, bemerkte Beth. »Dann kümmere ich mich jetzt also um unsere Praktikantin. Wo ist die Gute denn?«

Sie hatte überraschend kampflos aufgegeben. Pieter war verwirrt. »Soweit ich weiß, bei Olaf in der Pressestelle.« Er ging so schnell wie möglich Richtung Tür. »Ich hole sie.«

»Pieter?«

Er hielt nervös die Luft an und wandte sich, die Klinke bereits in der Hand, noch einmal um.

»Ich wäre auch allein mit Ingo klargekommen. Das wissen Sie doch hoffentlich?«

»Wie schon gesagt, ich brauche einen Dummen, der …«

»Schon klar.« Ein Lächeln huschte über ihren Mund »Trotzdem Danke. Auch wenn es nicht nötig war.«

Pieter konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, nickte Beth erleichtert zu und ging. Auf dem Flur hielt er verwundert inne: Der Schwindel und die Übelkeit waren fort, statt ihn wie anfangs angenommen zu übermannen.

***

Vor ein paar Minuten hatte Julia Gerber sein Büro betreten. Pieter nahm die Personalien auf und reichte der eingeschüchtert wirkenden Studentin ein Glas Wasser. Vielleicht war es das erste Mal, dass sie vor einem Polizisten saß. Er gab der Zeugin Zeit, sich an die Lage zu gewöhnen, und fragte erst, als sie sich wohler zu fühlen schien, nach dem konkreten Grund ihres Erscheinens.

»Ich habe Maria schon seit Tagen nicht gesehen«, erklärte sie ihm aufgewühlt. »Sie reagiert weder auf meine Anrufe noch ist sie zu Hause. Aber vielleicht ist sie ja nur spontan verreist und hat ihr Telefon zu Hause vergessen? Es sind Semesterferien und …« Der Blick der Zeugin haftete auf seinem Tisch, der überladen war. »Sicher ist es albern, dass ich jetzt hier sitze. Ich verschwende Ihre Zeit.«

Die Furcht im Blick der jungen Frau ging Pieter näher, als er es sich leisten wollte. Julia Gerber hatte Angst. Ein Teil von ihr befürchtete, dass sie Maria nicht mehr wiedersah, weshalb sie sich an jeden Strohhalm klammern würde, den es gab. Pieter kannte diesen Strohhalm viel zu gut … »Sicher ist es Ihnen nicht leichtgefallen, herzukommen. Dennoch sitzen Sie jetzt hier. Warum?«

»Vor ein paar Jahren wurde sie operiert.« Der Blick der Frau flog unruhig durch den Raum. »Der Blinddarm. Daher vielleicht die Narben, von denen im Fernsehen die Rede war?«

Sicher war das noch nicht alles. Pieter wartete geduldig ab.

»Und diese Tätowierung«, fuhr sie fort, wobei die ohnehin schon dünne Stimme der Studentin brach. »Ein Adler als Symbol der Auferstehung. Für Maria bedeutete er Mut und Kraft. Sie hat sich das Motiv erst kürzlich stechen lassen. Es ist ein Unikat.« Julia Gerber zog ein Foto aus der Jeans und reichte es ihm.

Pieter sah, dass ihre Hände zitterten, konzentriere sich auf die Befragung und betrachtete das Bild. Die Frau darauf hielt ihren rechten Oberarm samt frisch gestochenem Tattoo stolz in die Kamera. Er brauchte keinen zweiten Blick: Es war derselbe filigrane Adler. »Ein Unikat? Ganz sicher?« Der Strohhalm, an dem sich die Zeugin festhielt, ging verloren. Er konnte es in ihren Augen sehen.

»Sie hat es selbst entworfen«, hauchte Julia. »Ist sie … ist Maria etwa?«

Pieter nickte. »Sehr wahrscheinlich ist sie tot. Es tut mir leid.« Wie er es hasste, so etwas zu tun. Diese eine Antwort, die das Leben eines Menschen völlig auf den Kopf stellte.

Als die Fassade der Frau fiel, reichte er ihr eines der Taschentücher, die er zu dem Zweck in einer Schublade des Schreibtisches aufbewahrte, und ließ der armen Frau ein wenig Zeit. Sie würde sich auch Jahre später noch an diesen Augenblick entsinnen. Eine Erinnerung, auf die er immerhin ein wenig Einfluss hatte.

»Können Sie mir den vollen Namen ihrer Bekannten nennen?«, führte er die Befragung schließlich fort. »Und die Adresse?«

Sie nickte, aber ihre Worte waren durch das Schluchzen kaum mehr zu verstehen.

Pieter atmete tief durch, schob die Betroffenheit davon und reichte der Studentin noch ein Taschentuch.

»Maria Schäfer«, schnaubte sie schließlich. »Wir studieren zusammen. Sie wohnt seit einem Jahr in … in diesem Wohnheim in der Wik. Das Doktor-Oetker-Haus. Ich …« Nun brach es endgültig über die junge Frau herein.

Pieter hatte den Impuls, sie in den Arm zu nehmen, tat es aber nicht, da es zwar menschlich doch nicht passend wäre. Aber er wollte sie in ihrem Zustand nicht alleine, geschweige denn so nach Hause gehen lassen. Dass Beth gerade den Raum betrat, kam ihm daher gut zupass.

Wie gewohnt erfasste sie die Lage schnell. Dennoch schien sie daran zu zweifeln, ob sie hier erwünscht war oder nicht. Das hatte er sich selber zuzuschreiben. Er bat sie mittels einer Geste zu sich und griff nach Stift und Block. Rufen Sie den Krisendienst, notierte er darauf, um eine saubere Schrift bemüht. Die Nummer kannte Pieter auswendig und schrieb sie gleich dazu.

Beth las und suchte seinen Blick. Offensichtlich hatte sie bis drei gezählt. Er nahm den Block erneut an sich und notierte ihr darauf den mutmaßlichen Namen der Ermordeten. »Okay?«, fragte er dann.

Sie nickte und verschwand.

Die Zeugin saß noch immer aufgelöst vor ihm. Ob sie Beths Erscheinen überhaupt bemerkt hatte? Womöglich nicht.

Als Julia zu zittern begann, strich er über ihre kalte Hand, stand auf und warf ihr, mangels einer Decke, seinen Mantel über. Das Leid der armen Frau ging Pieter viel zu nahe, dennoch würde er jetzt bei ihr bleiben und so lange warten, bis sie in der Obhut einer Fachkraft war.

12

Inzwischen gab es keinen Zweifel mehr daran, dass die Ermordete Maria Schäfer hieß.

Der Erkennungsdienst war sofort ausgerückt, hatte die Wohnung der Studentin abgesperrt und untersuchte sie seither auf Spuren. Beth hatte, entsprechend Pieters Anweisungen, damit begonnen, Maria Schäfers Umfeld zu erhellen. Dabei hatte sie Saskia an die Hand genommen und es bisher noch nicht bereut. Inzwischen stand sie in Begleitung ihrer Praktikantin in der Wohnung einer sichtlich mitgenommenen Frau.

Natascha Gehrke hatte die Ermordete nach eigenen Angaben flüchtig gekannt, dennoch lag ein Schleier auf ihrem Gesicht, fast so als wäre sie in Trance. Beth stutze. Diese Zeugin wirkte tief betrübt. Offenkundig war die Ausgangslage eine andere, als erwartet. Dennoch führte Saskia die Befragung sehr geschickt. Aber Natascha ging nicht auf die Fragen ein. Warum war diese Frau so durch den Wind? Irgendetwas stimmte nicht …

Es kostete Beth Mühe dabei zuzusehen, wie Saskias Einsatz konsequent ins Leere lief. Da sie gern las, verirrte sich ihr Blick zu einem Regal, das voller Bücher stand. Carolin Schairer … Sie kannte die Autorin, wusste auf die Schnelle aber nicht woher. Wieder verhallte Saskias Frage unbeantwortet im Raum. Verdammt, das hatte sie sich anders vorgestellt! Beth war vieles, doch mit Sicherheit nicht sehr geduldig. Sie war hin- und hergerissen, die Befragung abzubrechen, gab dem Ganzen aber eine letzte Chance und nickte Saskia zu, sodass diese verstummte und beiseitetrat. Dann hockte Beth sich vor die Zeugin, verharrte in der Position und schwieg.

Zehn Sekunden.

Zwanzig.

Dreißig.

»Frau Gehrke?«, sagte Beth mit festem Ton. »Natascha? Können Sie mich hören?« Sie ergriff die kalte Hand, der wie erstarrten jungen Frau und endlich sah sie auf. Ein Tränenschleier hing in ihrem Blick. Offensichtlich stand sie unter Schock. »Ich bin Elisabeth Wagner.«

Die Befragte konzentrierte sich nun wieder auf das Hier und Jetzt, statt auf die Innenwelt, die Schutz vor schlechten Neuigkeiten bot. »Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?«

»Wenn Sie das wollen, tun wir das.« Sie rieb die kalte Hand der Frau bewusst zu fest. »Ein Wort genügt und wir sind weg.«

Natascha zögerte, blieb stumm.

»Gut. Wir werden also bleiben, bis Sie mir was anderes sagen. Abgemacht?« Verdammt, die regte sich schon wieder nicht. »Hey, Natascha! Geht das für Sie klar?«

Sie schien entrückt, doch nickte zögerlich.

»Ich kann Ihre Bekannte nicht zurückholen. Doch wir versuchen, den zu finden, der …« Etwas in dem Blick der jungen Frau machte sie stutzig. Beth dachte über das von ihr Gesagte nach. »Sie sagten mir am Telefon, dass Sie Maria flüchtig kannten?« Da war er wieder, dieser Blick. »Natascha, wie gut kannten Sie Maria wirklich?«

Die Befragte wandte sich postwendend ab, woraufhin Beth verstand. Evas Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Heute Abend würde sie sie endlich wiedersehen …

Sie schob die Vorfreude davon, doch wusste wieder, was sie mit den Büchern im Regal verband. »Es sind oft scheinbar unbedeutende Details, die uns zum Täter führen«, folgte Beth der Ahnung. »Dinge, von denen Menschen sehr oft annehmen, dass sie keinen etwas angehen oder uns nicht interessieren.«

Nataschas Blick war leer. Wenngleich ihr Schweigen diesmal ein ganz anderes war, blieb die Befragte weiter stumm. Beth ahnte, dass sie grübelte, und gab der Sache Zeit.

»Maria hatte keinen Freund!«, erklärte sich Natascha schließlich aufgebracht. »Es gab keinen Mann in ihrem Leben.«

Saskia schien überfordert mit dem Ausbruch an Gefühlen, der für Beth jedoch nicht überraschend kam; sie strich Natascha ruhig über die Hand.

»Wer tut so was? Warum ausgerechnet sie?« Nun fanden Tränen den Weg auf das Gesicht der jungen Frau.

Da war diese Frage, die Beth schon seit einer Weile auf den Nägeln brannte: »Maria war keine Bekannte oder irgendeine Freundin von ihnen, habe ich recht?«

Natascha fasste sich und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber starrte dann wieder nur schweigend zur Wand.

Beth biss sich auf die Lippe. Die dumme Ungeduld stand ihr zu oft im Weg. »Ist ja auch egal«, begann sie möglichst beiläufig. »Sie lesen gern, nicht wahr?«

Natascha nickte. Saskia schien irritiert.

»Die Romane in Ihrem Regal. Ich meine, die von Carolin Schairer.« Die Befragte runzelte die Stirn. »Ich hatte eine Freundin, die die Bücher gerne las.« Eva hatte ihr vor Jahren eins davon geliehen. »Wissen Sie, der Inhalt hat mir gut gefallen.«

Natascha schwieg. Sicher wusste sie genau, worum es ging.

»Kommen Sie, Natascha. Sie war Ihre Partnerin, nicht wahr?«

Wieder nichts.

Beth riss sich zusammen und ging, um das aggressive Schweigen auszusitzen, im Geist die Dinge durch, die sie noch für das Abendessen brauchte.

»Niemand durfte davon wissen«, flüsterte Natascha endlich, »vor allem nicht Marias Eltern. Es war ihr Wunsch. Erzählen Sie ihnen nicht davon.«

***

Beth war zu früh und das beliebte Restaurant wie immer überfüllt.

Zum Erstaunen der Kollegen hatte sie das Kommissariat heute pünktlich verlassen, war sofort nach Hause geeilt, hatte sich umgezogen und sich auf den Weg nach Holtenau, einem nicht weit entfernten Stadtteil an der Kieler Förde aufgemacht. Statt Jeans und Bluse trug Beth nun die hochhackigen Sandaletten und das schlichte Lieblingskleid, dessen tanngrüner Stoff im lauen Wind tanzte.

Sie sah sich um. Das war ein guter Ort um sich bei einem ausgedehnten Abendessen in den Erinnerungen vergangener Tage zu verlieren. Die Tore des Nord-Ostsee-Kanals waren nicht weit entfernt. Diverse Segelboote und ein schwer beladener Frachter trieben auf dem Meer, das sich in die Kieler Förde verirrt hatte.

Beth ergatterte den letzten Sonnenplatz auf der Terrasse des Lokals, setzte sich und blickte ungeduldig auf die Uhr. Nicht mehr lange und sie würde Eva endlich wiedersehen. Die ganze Woche hatte sie sich schon darauf gefreut und die vergangenen verrückten Tage wohl nur deshalb ohne schlechte Laune überstanden. Wie es Eva mit der neuen Arbeitsstelle ging? Und wie lief es wohl mit ihrer Frau? Die beiden hatten umziehen wollen …

Das Läuten ihres Telefons schreckte Beth auf.

13

Linda? Pieter blieb überrumpelt stehen. – Natürlich war sie es nicht! Er hatte die Terrasse gerade erst betreten, doch Beth sofort registriert. Ihre Gestalt in dem tief ausgeschnittenen Kleid hatte seinen Blick auf sie gezogen, doch auch die anderen Gäste, nicht nur Männer, sahen Beth verstohlen an. Offenbar bemerkte sie es nicht; sie telefonierte, blickte auf das Meer und schien sich ihrer Wirkung dabei nicht bewusst. Womöglich wartete sie auf ein Date … Der Gedanke versetzt ihm einen Schlag tief in die Magengrube.

Herrgott, reiß dich zusammen!

Beth war nicht Linda. Vielleicht war sie ihre Schwester, doch das war sicher nur ein Hirngespinst. »Soll Elisabeth doch treffen, wen sie will!«, murmelte Pieter und wollte weitergehen, bemerkte allerdings, wie Beths Zufriedenheit einer verschlossenen Körperhaltung wich. Als sie das Telefon beiseitelegte, wirkte sie weit mehr als nur enttäuscht. Er hätte schwören können, dass sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel strich.

Pieter atmete kopfschüttelnd aus. Er hatte es nie ertragen, Linda weinen zu sehen. Womöglich wurde der Impuls, Beth anzusprechen, deshalb auch so unerträglich intensiv. Er atmete tief durch und hörte auf, darüber nachzudenken, ob es gut oder vernünftig wäre. »Ist es okay, wenn ich mich setze?«, fragte er.

Beth wischte über ihr Gesicht und starrte ihn stumm an. »Ist das Ihr Ernst?«

Er nickte unsicher.

»Verdammt, Sie geben mir seit Wochen das Gefühl, mit mir zu arbeiten wäre eine Zumutung, und jetzt wollen Sie sich allen Ernstes zu mir setzen?«

»Es tut mir leid.« Offensichtlich war es unpassend. – Natürlich war es das! »Es ist keine Zumutung, mit Ihnen zu arbeiten. Im Gegenteil, es …«

»Verschwinden Sie. Ich habe Feierabend und hätte jetzt gerne meine Ruhe!«

»Sie sind sauer.« Warum nicht aussprechen, was offensichtlich war? »Und Sie haben allen Grund dazu. Doch bitte lassen Sie es mich erklären.«

Beth sah so finster drein, als wolle sie ihn vierteilen.

Es schepperte, woraufhin Pieter sich der Quelle dieses Lärms zuwandte: Eine Kellnerin mit feuerrotem Haar hatte ihr Tablett fallen lassen.

Beth bot ihm überraschend den Stuhl gegenüber an. Sie sah noch immer finster drein, aber immerhin. »Also dann, erklären Sie es mir!«

»Es ist …« Herrgott, was sollte er ihr denn erzählen? Er setzte sich erst einmal hin. »Sie sehen einer Bekannten ähnlich, was mich manchmal irritiert.«

Beth griff nach ihrer Tasche und stand auf. »Sie sind ein miserabler Lügner, Pieter, und ich lasse mich von Ihnen nicht verarschen.«

»Warte!« Er sprang auf, wobei ein Impuls ihn dazu trieb, nach ihrem Arm zu greifen. »Es tut mir leid. Das ist …«

»Ich rate Ihnen, mich augenblicklich loszulassen.« Das kam gefährlich leise.

Pieter gehorchte. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht …« Sie sah ihr viel zu ähnlich. »Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, Beth. Und ja, das ist weit mehr als nur ein wenig irritierend.«

Beth beäugte ihn abschätzend und nahm wieder Platz. Er hatte keinen blassen Dunst warum sie blieb, setzte sich aber erleichtert wieder hin.

»Also gut«, meinte sie schließlich mit vor der Brust verschränkten Armen. »Dann also noch mal von vorn. Offensichtlich habe ich eine Doppelgängerin, die Sie nicht ausstehen können.«

Pieter atmete tief durch und hoffte, dass der Druck auf seiner Brust endlich verschwand. »Wir waren verlobt und wollten heiraten.« Wie er es hasste, diese Sache zu benennen. »Aber … sie starb.«

Beth schwieg. »Das tut mir leid«, meinte sie dann und runzelte die Stirn. Der Ausdruck ihrer Augen wurde milder. »Und es klingt tatsächlich irritierend. Wollen Sie darüber reden?«

»Ganz ehrlich?«

Sie nickte.

»Nicht besonders gern.« Das Thema laugte Pieter aus. Er starrte auf den Tisch, doch konnte spüren, wie sie ihn musterte.

Nach einer Weile atmete Beth hörbar aus. »Deshalb dieses dämliche Gesieze? Um dir klar zu machen, dass ich es nicht bin?«

»Ja.« Das hatte nicht den besten Einfall seines Lebens dargestellt.

Die Kellnerin schlich auf sie zu.

»Na komm, ich lade dich ein. Das macht mein dämliches Verhalten zwar nicht wieder gut, doch es wäre immerhin ein Anfang.«

Im Grunde war es absurd. Er saß mit dieser fremden Frau am Tisch, die Linda zum Verwechseln ähnlichsah, und, Herrgott, er wünschte sich so sehr, dass sie es wäre! Doch Pieter hatte etwas wiedergutzumachen. Außerdem bot dieses Treffen eine günstige Gelegenheit, herauszufinden, ob Elisabeth tatsächlich Lindas Schwester war.

14

Beth war viel zu erschöpft, um Pieter sein Verhalten nachzutragen. Außerdem war das Gespräch, dass er ihr aufdrängte, eine willkommene Ablenkung von dem verdammten Schmerz, der gerade angefangen hatte, sie zu quälen. – Eva würde nicht mehr kommen. Sie hatte die Verabredung vergessen und den Termin in ihrem Kalender gerade erst entdeckt. Der Weg aus Hamburg wäre zu weit, um ihn noch sinnvoll anzutreten. Oder die Verabredung nicht wichtig genug, dachte Beth. Eva hatte vorgeschlagen, sich ein andermal mit ihr zu treffen. Beth konnte ihr nicht böse sein, doch die Enttäuschung saß trotz allem tief.

Sie stocherte unsicher in der Vorspeise. »Wohnst du hier in Holtenau?«, fragte sie aus Verlegenheit, nicht aus Interesse. Beth war nicht wohl dabei, sich unter diesen Umständen – in einem Restaurant, ausgerechnet mit ihm – gezwungenermaßen ungezwungen auszutauschen.

»Nein.« Augenscheinlich fühlte er sich auch nicht wohl. »Ich bin nur hergekommen, um mir dir Füße zu vertreten und etwas zu Essen. Der Ort hat etwas Ruhiges, finde ich.«

In der Tat, das hatte er. Trotzdem war sie verspannt. Beth lehnte sich zurück, atmete durch und betrachtete das Treiben auf der in der Glut des Abendrots versinkenden Terrasse.

»Vorhin sah es so aus, als hätte dich dein Freund versetzt.«

Verdammt war das sein Ernst? Sie musterte ihn irritiert, was Pieter nicht zu kümmern schien.

»Dein Name ist recht ungewöhnlichen«, stellte sie dann fest, um irgendwas zu sagen.

»Ja. Den Vornamen verdanke ich meinem Großvater. Er stammte aus den Niederlanden. Und mein Nachname ist nicht so ungewöhnlich, wenn man weiß, dass ich in England aufgewachsen bin.«

»Du bist Brite? Im Ernst?«

»Nein.« Sein vorsichtiges Lächeln nahm sie ein. – Schon wieder. »Aber mein Vater war es. Ich habe ihn kaum gekannt. Er und meine Mutter haben dort gelebt, bevor er starb und sie zurück nach Deutschland ging. London. Ich wurde dort geboren.«

»Verdammte Axt!« Sie liebte diese Stadt.

Offensichtlich amüsierte Pieter ihre Reaktion.

Beth nahm sich sofort zusammen.

»Entschuldige. Es ist nur … Du wirkst immer so abgeklärt und kontrolliert. Ich habe dich noch nie überrascht gesehen, was seltsam ist, nach allem, was … na ja …« Pieter verstummte.

Abgeklärt und kontrolliert also. Sie schwieg.

»Hör mal, es gibt da etwas, das du wissen musst: Meine Mutter, sie war Ärztin. Sie und Franz haben sich auf einem dieser sterbenslangweiligen Kongresse kennengelernt und …«

»Moment! Franz Erdich? Der Professor aus der Rechtsmedizin?«

»Ja. Für mich und Sophie, meine Schwester, ist er wie ein Vater. Es tut mir leid. Ich hätte dir das früher sagen sollen. Es ist kein Geheimnis. Die Kollegen nutzen es seit Jahren als Vorwand, um mir ihre Autopsietermine aufzudrängen.«

»Ist nicht jedermanns Sache, was?«

»Stimmt.« Pieter wich ihrem Blick aus. »Weißt du, diese Sache neulich … Ich war mir nur nicht sicher, ob du bei der Obduktion dabei sein willst.«

»Dann wäre es klug gewesen, mich danach zu fragen, oder nicht? Und ja, ich wäre gern dabei gewesen, denn ich habe kein Problem mit Leichen.« Sie sah, dass es ihm leidtat – und das nicht zu knapp. Pieters Mimik sprach mal wieder Bände.

»Entschuldige! Die letzten Wochen waren anstrengend. Das alles war … verwirrend. Ich war überfordert und habe mich deshalb wie ein Arsch benommen.«

»Ja, das hast du in der Tat.«

»Es tut mir leid.« Pieter nestelte an der Serviette.

»Kein Ding«, schloss sie das Thema ab. »Aber sei in Zukunft ehrlich. Und vor allem: Sprich mit mir, wenn irgendwas nicht stimmt. Du hättest damit schon viel früher zu mir kommen sollen.«

»Werde ich mir merken.« Pieter starrte auf das Muttermal an ihrem Arm, weshalb sie ihre Arme wieder vor der Brust verschränkte.

Er richtete den Blick auf das inzwischen gold-schimmernde Meer, wobei er angestrengt zu grübeln schien. »Wann hast du Geburtstag, Beth?«

Wie bitte? Sie schwieg.

»Entschuldige!« Er sah sie wieder an. »Du bist ein Albtraum für jeden Verdächtigen, ist dir das klar?«

Durchaus. Beth lächelte, statt darauf einzugehen. Der Kerl war interessant, doch immer noch suspekt.

»Wie machst du das?«

»Keine Ahnung.« Sie wusste es tatsächlich nicht und zuckte daher betont unschuldig mit den Schultern. »Aber ganz unter uns: Du bist ein offenes Buch. Womöglich solltest du an einer Art Fassade arbeiten.«

»Ich fürchte, das ist hoffnungslos.«

Sie lachte, denn womöglich hatte Pieter damit recht.

Er zögerte. »Hast du Geschwister?«

Verdammt, was hatte ihn all das zu interessieren? Beth schüttelte den Kopf, wobei sie angestrengt versuchte, die in ihr aufkommende Leere wieder dorthin zu verbannen, wo sie hergekommen war.

»Entschuldige. Das falsche Thema?«

»Nein.« Nun schien der Kerl auch noch um sie besorgt. Sie nahm es hin, statt sich auch darüber zu wundern. »Nur nichts, worüber ich jetzt mit dir reden will.«

Offensichtlich hatte Pieter ein paar Macken. Er war distanzgemindert, drängte sich ihr aber immerhin nicht auf. Sein Verhalten war suspekt. Trotzdem war der Kerl ein guter Unterhalter. Beth fühlte sich in seiner Gegenwart fast irritierend wohl, sodass die Zeit schneller verflogen war, als sie es fasste.

Nachdem die Sonne hinter dem Horizont versunken war, zahlte Pieter und begleitete sie noch ein Stück entlang des Kais.

Ihr Blick blieb an dem Holtenauer Leuchtturm hängen. Vielleicht war es der schönste, den es hier im Norden gab. Beth betrachtete das Abbild zweier Meerjungfrauen, das die imposante Tür des Bauwerks schmückte, während der laue Abendwind mit ihrem Kleid spielte.

Sie spürte Pieters Blick und sah verlegen auf. Natürlich lud das Kleid zum Starren ein. Unter dem dünnen Stoff zeichnete sich ihre Silhouette deutlich ab. – Und Pieter war ein Mann. Dass er darauf ansprang, durfte sie ihm wohl nicht übel nehmen. Doch dieser Blick … Die Art, wie er sie ansah, ging ihr ungewollt durch Mark und Bein. Beth fühlte sich auf einmal unbehaglich mit der Kleiderwahl, was Pieter zu bemerken schien. Zumindest wandte er sich sofort von ihr ab.

»Glaubst du, dass sie ihren Mörder kannte?«, fragte sie, als Pieter auf dem Parkplatz stehen blieb.

Bei rund neunzig Prozent aller Morde handelte es sich um Beziehungstaten. Für gewöhnlich kannten sich das Opfer und der Täter, oft sogar schon jahrelang.

»Schwer zu sagen.« Er lehnte sich an einen schwarzen BMW, der offensichtlich seiner war. »Die Sache mit der Vergewaltigung, diese langsame Art zu töten und der Stich ins Herz – das alles hat etwas Persönliches, vielleicht sogar etwas Symbolisches.«

Daran hatte Beth auch gedacht. Es machte einen Unterschied, ob ein Opfer bei der Tat berührt, vielleicht sogar gequält oder aus der Distanz erschossen wurde. In dem aktuellen Fall wirkte das Vorgehen des Täters fast intim. Rachsucht oder Eifersucht wären plausible Motive. Dennoch zweifelte sie an der Theorie.

»Du bist dir also auch unsicher«, stellte Pieter fest.

»Ja. Ich glaube nicht, dass er es auf sie abgesehen hatte. Nicht auf sie persönlich, meine ich. Womöglich war das Opfer eine zufällige Fremde, auf die er etwas projizierte. Immerhin ging er präzise vor, hinterließ am Tatort keine Spuren …«

»Kein Verbrechen im Affekt«, meinte Pieter und wirkte besorgt. »Die Schnitte im Gesicht. Er hat gezielt zerstört, woran man jeden Menschen auf den ersten Blick erkennt. Du weißt, was das bedeuten kann.«

Beth nickte abwesend. »Wenn wir es tatsächlich mit einem Triebtäter zu tun haben«, sprach sie dann aus, was sie bereits seit Tagen unruhig machte, »wird dieser Mord vermutlich nicht sein erster und ganz sicher nicht sein letzter sein.«

SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel

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