Читать книгу SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel - Zhara Herbst - Страница 7

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KAPITEL 2

15

Beth schlenderte die Promenade entlang, die sich längs der Kieler Förde zog, und nutzte den lauen Septemberabend, um sich zu entspannen. Zumindest war das der erklärte Plan, denn Pieter hatte sie mit strengem Blick nach Haus geschickt.

Nach wie vor befassten sie sich mit Recherchen, die das Leben und das Umfeld der Ermordeten erhellten. Sie hatten Fortschritte gemacht, für Beths Geschmack jedoch noch nicht genug. Sie hätte ihre Zeit lieber mit der Befragung eines weiteren Zeugen zugebracht, statt das Büro pünktlich zu verlassen. Doch sie hatte Pieters Weisungen nun mal zu folgen.

Die Aussprache hatte ihnen gutgetan. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart zunehmend wohler und schätzte Pieter für seine Geduld und diese unermüdliche Gelassenheit … womöglich, weil es ihr so häufig daran mangelte. Er verhalf ihrem getriebenen Temperament zu Ruhe und mehr Rücksichtnahme auf sich selbst.

Beth blickte gedankenverloren auf die Portalkräne der Werft, die aus dem Panorama der Stadt Kiel nicht wegzudenken waren. Wir waren verlobt und wollten heiraten. Aber sie starbDu bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, Beth. Pieters Worte schlichen sich seit diesem Abendessen viel zu oft in ihren Geist. Wie war seine Frau verstorben? Vermutlich durch einen Unfall. Und wie lange war es her? So sehr, wie ihn die Sache mitnahm, war es wohl noch frisch. Vielleicht ein Jahr? Eher weniger.

Am Forschungszentrum angekommen, gesellte sie sich zu den Seehunden, die scheinbar gelangweilt durch das Becken zogen.

Was an ihr erinnerte Pieter so sehr an sie? Die Art, wie er sie manchmal ansah … Sicher dachte er dabei an seine tote Frau. Womöglich bildete er sich die Ähnlichkeiten aber auch nur ein, schließlich erkannten Trauernde in jeder x-beliebigen Person etwas von ihren Lieben wieder.

Beth beschlich der Eindruck, dass ihr – und das schon, seit einer Weile – jemand folgte. Auch wenn ihr der Gedanke lächerlich vorkam, wandte sie sich prüfend um. – Nichts. Wer sollte da auch sein?

Sie hatte den schicken Restaurants den Rücken zugekehrt und war am Landtag angekommen. Da es von hier aus noch ein halbstündiger Fußmarsch bis nach Hause war, trat sie den Heimweg an, bog ab, doch hielt hinter der Kurve inne, um sich noch mal umzusehen. Zu ihrer linken saß ein junges Paar auf einer Bank. Es war in einen leidenschaftlich langen Kuss vertieft und nahm von ihr keine Notiz. Beth beneidete die zwei. Sie liebte es, geküsst zu werden, und das letzte Mal war viel zu lange her. Ein paar Spaziergänger zogen an ihr vorbei. Abseits des Trubels ging ein ungepflegter Mann, der in dem Müll der vielen Passanten wühlte.

Ihre Blicke trafen sich.

Jetzt stell dich nicht so an!, dachte sie von sich selber überrascht. Sicher suchte er dort nur nach Pfandflaschen. – Und ihr tat dieser neue Psychothriller, den sie gerade las, nicht gut. Oder war es das Zuviel an Arbeit? Machte sie der Stress paranoid? Beth schüttelte schmunzelnd den Kopf und zog weiter Richtung Innenstadt. Weder auf das Buch noch auf die Arbeit würde sie verzichten können.

Eine halbe Stunde später war sie fast zu Hause angekommen. Auch wenn sie keine Menschenseele sah, spürte sie immer noch die Gegenwart einer Person. Was für ein albernes Gefühl! Sie verzichtete darauf, sich noch mal umzusehen, und erspähte wenig später die Gestalt eines Bekannten. Wenngleich ihre Begegnungen immer wortlos abgelaufen waren, war Beth dem obdachlosen Mann, den sie hier häufig traf, inzwischen so vertraut, dass er sie grüßte, statt sich abzuwenden. Sie überließ dem scheuen Kerl ein wenig Geld und er bedankte sich mit einem Lächeln, das sein faltiges Gesicht beträchtlich aufhellte und ihn gleich ein wenig jünger wirken ließ.

Warum lebt er auf der Straße?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, doch hielt sich nicht sehr lange damit auf. Da war schon wieder dieses mulmige Gefühl. Beth sah sich um. Es war auch diesmal nichts Verdächtiges zu sehen.

***

Beth war in den vergangenen Nächten nicht zur Ruhe gekommen. Die Albträume waren lästig und nun brachte sie auch noch die Ahnung, in den eigenen vier Wänden nicht allein zu sein, um ihren wohlverdienten Schlaf. Es war absurd! Beth war ratlos, übermüdet und frustriert. Im besten Fall war es nur eine Phase, die bald wieder ging.

Kaum hatte sie das Kommissariat betreten und am Schreibtisch Platz genommen, betrat auch Pieter das Büro. Er trug zwei große Pappbecher und schloss die Tür mit einem Tritt. »Ich dachte mir, du hättest vielleicht auch gern einen«, meinte er verhalten lächelnd und stellte einen der Becher vor ihr ab. »Doppelter Espresso mit viel Milch und ohne Zucker, richtig?«

»Danke. Das ist …« Ihr Kopfschmerz reduzierte sich, als sie am Kaffee roch. Beth war derart verblüfft, dass sie ihn weder fragte, wie sie zu der Ehre kam, noch woher zum Henker Pieter wusste, wie sie ihren Kaffee trank. »Perfekt!«, murmelte sie nur.

Er befreite seinen Schreibtisch notdürftig von einem Aktenberg, um seinen Becher darauf abstellen zu können. Wie konnte der Kerl bei dem Chaos noch klar denken? Ihr gelang es zunehmend schlechter.

»Was hast du zu Maria rausgefunden?«, fragte Pieter und setzte sich hin.

»Maria Schäfer war seit vier Semestern für das Medizinstudium eingeschrieben. Sie kam zum Studieren in die Stadt. Die Wohnung wurde von den Eltern finanziert. Davor hat sie bei ihnen in Baden-Württemberg gelebt, irgend so ein kleines Nest bei Tübingen.« Sie konnte ihren Blick nicht so recht von dem Chaos auf seinem Schreibtisch lösen und begann darum die Unterlagen auf ihrem eigenen zu sortieren. »Nach dem Abitur hat sie sich ausschließlich an wohnortfernen Orten um einen Studienplatz beworben. Vermutlich hatten sie und ihre Eltern keinen guten Draht.«

»Das ist etwas weit hergeholt, findest du nicht?«

Sie schüttelte nur kurz den Kopf. »Ihre Kommilitonen und Dozenten stimmten darin überein, dass ihr das Lernen zugeflogen ist«, fuhr sie schulterzuckend fort. »Maria hat die Prüfungen mit Bestnoten bestanden.«

»Gab es Neider? Ärger oder zwischenmenschliche Probleme?«

»Nein, Maria hatte einen guten Stand. In der Freizeit engagierte sie sich ehrenamtlich für ein Projekt für Sexualaufklärung an Schulen. Das hieß …« Sie suchte nach den Unterlagen.

»Mit Sicherheit verliebt«, kam ihr Pieter zuvor.

Sie sah ihn verwundert an. »Genau das. Außerdem hat Maria Nachhilfe erteilt. Kostenfrei.« Wie konnte eine Medizinstudentin derart gute Leistung bringen und trotzdem so viel Zeit für diese Dinge haben? Beth waren nur zwei Möglichkeiten eingefallen: Maria hatte entweder betrogen oder war beneidenswert begabt gewesen.

»Gab es jemanden, der ihr das übel nahm?«, fragte Pieter nachdenklich. »Vielleicht ein anderer Dienstleister, der auf die Einnahmen angewiesen war?«

»Ja. Doch schien mir keiner dieser zwei Studenten dazu fähig oder wütend genug, Maria deshalb zu ermorden. Darüber hinaus haben sie Alibis.« Beth nahm den ersten Schluck Kaffee – er war unglaublich gut –, hörte mit dem Aufräumen auf und lehnte sich zurück. Ihr Kopfschmerz klang allmählich ab. »Sag mal, wo hast du diesen Kaffee her?«

»Aus dem Bakeliet«, erklärte Pieter, wobei es schien, als würde ihn die Frage freuen. »Ein Café ganz in der Nähe. Das Frühstück dort kann ich dir ebenfalls empfehlen.«

Sie notierte sich den Namen des Lokals, dem sie spätestens morgen einen Besuch abstatten würde. »Allem Anschein nach kannte Maria eine Menge Leute«, fuhr sie fort, »viele Freunde hatte sie hingegen nicht. Zum einen ist da Julia Gerber, die du ja schon kennst.« Pieter hatte sich auffallend rührend um die Frau gekümmert. Beinahe so vorbildlich, dass sie sich immer noch fragte warum. »Außerdem Anette Lehmann, Medizinstudentin, und Natascha Gehrke, sie studiert auf Lehramt.«

Pieter griff nach einem Kugelschreiber, den er zwischen seinen Fingern tanzen ließ. Offenbar war er nervös.

»Natascha Gehrke ist die interessantere Person. Sie und Maria trafen sich vor knapp zwei Jahren bei einem dieser Treffen für …« Sie blätterte erneut. »… Mit Sicherheit verliebt.«

»Genau.«

Sie sah Pieter fragend an, was der sehr wohl bemerkte, doch nicht kommentierte. »Seit einem Jahr waren sie ein Paar«, bemerkte Beth schließlich, »was auf Marias Wunsch hin aber niemand weiß. Julia hat es, wenn du mich fragst, allerdings geahnt. Natascha hat die Heimlichtuerei gehasst. Sie steht zu ihrer Homosexualität, engagiert sich dahingehend öffentlich und wollte die Beziehung auch nach außen leben. Das Thema Outing führte bei den beiden oft zu Streit.«

»Warum die Heimlichtuerei?« Er gab den Kugelschreiber frei.

»Der Hauptgrund waren Marias Eltern: Pietisten, die das Thema Homosexualität verteufeln. Maria war, was ihre Neigung anging, sehr verunsichert. Das Thema Outing machte ihr enormen Druck. Laut Nataschas Aussage hatte sie Angst davor, dass sich ihre Eltern oder Freunde von ihr abwenden würden.«

Pieter wirkte nachdenklich. Wie er wohl zu dem Thema stand? Vor Jahren, Beth war noch in der Ausbildung gewesen, hatte ein Kollege sie mit Eva Hand in Hand spazieren gehen sehen. Das hatte offensichtlich seine Fantasie beflügelt; hinter ihrem Rücken hatte er sich darüber das Maul zerrissen. So waren Menschen nun einmal. Etwas Privates preiszugeben, lohnte für gewöhnlich nicht.

Beth nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Maria und Natascha haben ein paar Tage vor dem Mord gestritten. Dabei soll es heiß hergegangen sein.«

»Und worum ging es?«

»Kann ich noch nicht sagen. Die Zeugin wusste dazu auch nicht mehr. Und Natascha Gehrke ist noch immer nicht vernehmungsfähig. Ich habe mich morgen trotzdem noch mal bei ihr angemeldet, womöglich finde ich es dann heraus.«

»Okay, aber geh bitte behutsam vor.« Pieter suchte etwas in den Bergen von Papier. Als er es fand, erkannte Beth darin den Dienstplan, der scheinbar noch nicht ganz fertig war. »Wie kommst du mit Saskia klar?«, fragte er sie und stand auf.

»Gut, schätze ich.« Hatte sich jemand beschwert? »Sie hat ein Händchen für die Arbeit mit den Zeugen. Sofern sie will, nehme ich sie weiter mit.«

»Nach allem, was ich hörte, ist sie sehr zufrieden. Du machst das wirklich gut.«

Beth nickte angespannt. Lob war nicht so ihr Ding.

Pieter war schon fast zur Tür hinaus, als er innehielt und sich noch einmal zu ihr umwandte. »Sag mal, Beth …« Er lehnte mit verschränkten Armen in der Tür, runzelte die Stirn und wirkte dabei nachdenklich, womöglich einen Hauch besorgt, was sie nun doch ein wenig irritierte. »Wie viele Überstunden hast du eigentlich schon angehäuft?«

Ihr Blick wanderte schuldbewusst zur Wand. Auch wenn sie die Zahlen nicht parat hatte: Es waren längst zu viele.

»Okay. Das heißt, dann wohl, es sind genug.«

»So viele sind es auch noch nicht. Ich schreib sie in Zukunft nicht mehr auf.«

»Ich habe mich wohl verhört. Natürlich schreibst du sie auf. Und mach nach der Besprechung heute Schluss. Vor allem: Schlaf dich aus!«

Beth schwieg. Hatte sie womöglich etwas falsch gemacht? Warum zog er sie ab?

»Man sieht dir an, dass du kaum schläfst. Beth, ganz im Ernst, du machst hier wirklich gute Arbeit, doch wenn du vor Erschöpfung irgendwann zusammenbrichst, hilft uns das nicht.«

Er sorgte sich um sie? Das war ja lächerlich!

»Wer weiß, wie lange wir in diesem Fall ermitteln werden. Sei vernünftig und nimm dich zurück. Das habe ich dir übrigens auch letzte Woche schon gesagt.«

»Ja, aber …«

»Ich will nicht auf dich verzichten müssen, klar?«, ermahnte er sie noch einmal, sodass sie zähneknirschend nachgab und nach der Besprechung ging.

Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere, was Beth wohl nicht hätte überraschen sollen. Der letzten Tiefkühlpizza hatte sie sich schon vor Tagen angenommen, sodass ein Einkauf heute unumgänglich war.

Tintenblaue Wolken rasten über einen grauen Himmel. Wie für Kiel typisch, war es wechselhaft und frisch. Warum war der Sommer hier im Norden eigentlich so kurz? Beth fröstelte. Sie knöpfte auch die obere Reihe ihres dünnen Sommermantels zu und zurrte den Schal enger.

Der Wochenmarkt empfing sie mit der Melodie eines akkordeonspielenden Musikanten. Sie überließ dem drallen Mann ein wenig Geld und mischte sich in das Treiben auf dem Platz.

Die Stände waren trotz des Wetters gut besucht. Statt den Rufen der Verkäufer nachzukommen, ging Beth auf den Stand des von ihr hochgeschätzten Nudelproduzenten zu. Der mürrisch anmutende Italiener stand wie immer schweigsam hinter seinen Waren, die er für sich selbst sprechen ließ. Beth kaufte die mit Feigencreme gefüllten Ravioli, deren Zubereitung weder Zeit noch zu viel Aufwand kosten würde, und verabschiedete sich von dem Mann.

Sie war hundemüde, doch es trieb sie nicht nach Hause. Dort wartete am Ende nur das seltsame Gefühl auf sie, dass jemand vor dem Fenster stand und sie nicht aus den Augen ließ. Der neue Psychothriller tat ihr offensichtlich doch nicht gut. Sie musste sich ein anderes Buch vornehmen.

Vor dem Käsehändler gab es eine lange Schlange. Beth reihte sich ungeduldig ein. Ihr Blick flog ziellos durch die Menge und blieb wie von selbst an der Erscheinung eines attraktiven Mannes hängen, der vielleicht ein wenig, doch nicht sehr viel älter als sie selber war. Er war leicht gebräunt, hatte hohe Wangenknochen und ein frech hervorstehendes Kinn. Sein stolzes Äußeres erinnerte sie an das eines Matadors. Er erwiderte den Blick so charismatisch lächelnd, dass Beth ertappt zu Boden sah. Sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss, doch sah erneut auf.

Der Fremde grinste breit.

Auch wenn dieser Adonis ihr gefiel, hatte sie kein Interesse an dem Flirt und wandte sich endgültig von ihm ab. Beth knurrte der Magen und der Einkauf tat sich nicht von selbst.

16

Pieter blickte auf Beths aufgeräumten Tisch; sie war endlich gegangen. Hoffentlich schlief sie sich etwas aus. Dass er sich derart um sie sorgte, war ganz sicher nicht normal. Vermutlich war es eine Phase, die – genau wie diese Sache mit dem Schwindel und der Übelkeit – von selber wieder ging.

Er horchte auf. Das selbstbewusste Klopfen an der Tür verriet ihm, wer es war, bevor der ungebetene Gast leibhaftig vor ihm stand. Frau Doktor Beeke Larsen trat auch heute ohne Zögern ein; selbstbewusst und unverschämt wie eh und je. Noch hielt er es wie Jürgen: Pieter gab der unerfahrenen Staatsanwältin Zeit, sich in das neue Umfeld einzufinden. Was die gebieterischen Attitüden der Frau anging, übte er sich in Geduld, wobei sich diese Tag für Tag erschöpfte.

»Herr Oberkommissar.« Die kühle Blonde schloss die Tür. »Wie kommen Sie voran?«

»Morgen befragen wir die Eltern der Ermordeten. Und eine Kollegin wird sich noch mal mit Natascha Gehrke treffen.« Die Antwort kam ein wenig Small Talk gleich, da Beeke Larsen das längst wusste.

»Gut!« Ihre Mimik war wie immer starr. »Ich werde ebenfalls vor Ort sein und mir das ansehen. Wer befragt die Partnerin der Toten?«

Pieter atmete tief ein und zählte innerlich bis drei – in letzter Zeit tat er das viel zu oft. »Frau Larsen, ich weiß Ihre Unterstützung sehr zu schätzen«, sagte er so diplomatisch es nur ging, »doch sicher haben Sie sehr viel zu tun. Es ist nicht nötig, dass Sie sich diese Befragungen ans Bein binden.«

»Frau Doktor Larsen. Und das war keine Bitte!«

Pieter war sprachlos. Auch das geschah in letzter Zeit zu oft. »Hören Sie, die Zeugin war zuletzt kaum ansprechbar. Es wäre nicht hilfreich, wenn Sie ebenfalls anwesend sind.«

»Ach ja? Und was genau führt Sie zu diesem Schluss?«

Vor allem wollte er der Trauernden ein Aufeinandertreffen mit einem so unsensiblen Klotz wie ihr ersparen. Herrgott, ihm fiel sofort ein ganzer Sack voll Gründe ein, die er jedoch besser für sich behielt. »Immerhin repräsentieren Sie die Staatsgewalt«, begann er zu erklären. »Das genügt, um eine Zeugin einzuschüchtern.«

Der Schuss war offenbar nach hinten losgegangen. Die bissige Blondine sah noch finsterer drein und blickte ihn zu allem Überfluss streng mahnend an. »Wer übernimmt ihre Befragung?« Sie hatte jedes Wort betont, als wäre er debil.

Da er die Drohung durchaus registrierte, hielt er ihrem Blick gelassen stand. »Elisabeth Wagner«, antwortete Pieter ruhig. »Sie und Saskia werden zu der Zeugin fahren. Und zwar allein.«

»Ach ja?« Die blauen Augen der Blondine funkelten ihn warnend an. »Warum wird die Zeugin eigentlich nicht hier befragt? So wie es üblich ist.«

Was bitte war daran nicht zu verstehen? Pieters Geduld war endgültig erschöpft. »Diese Frau hat gerade ihre Partnerin verloren. Ich will es ihr so leicht wie möglich machen.«

»Nun gut. Und wer befragt die Eltern der Ermordeten?«

»Ich.«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr, unter einer dicken Schicht Make-up verborgenes Gesicht. »Dann werde ich morgen eben Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Herrgott! Warum bestehen Sie darauf?«

»Ich bin es, die den Fall verhandeln muss.«

»Das ist mir klar, doch das ist kein Grund, sich in dem Ausmaß einzumischen. Trauen Sie mir nicht zu, dass ich diese Ermittlung leite?«

»Herr Anderson.« Ihr süffisantes Lächeln ging ihm auf den Geist. »Ich mische mich ein, weil ich diese Ermittlungen leite und nicht Sie.«

Er hatte große Lust, das Biest achtkantig rauszuwerfen, formal gesehen hatte sie aber leider recht: Die Staatsanwaltschaft war wie immer Herrin des Verfahrens.

»Morgen, sechzehn Uhr«, presste er mit Widerwillen hervor. »Sie werden sich zurückhalten. Sollten Sie in die Befragung eingreifen, ganz egal wie, werfe ich Sie raus.«

17

Beth wartete das Signal zum Überqueren der Fahrbahn ab. Sie befand sich auf dem Heimweg. Ihr Kopf schmerzte. Womöglich hatte Pieter recht: Sie brauchte Schlaf.

»Hallo, schöne Frau!«, drang eine selbstbewusste Stimme an ihr Ohr.

Sie fuhr herum. Das war der attraktive Kerl vom Markt.

»Ich bin Lukas.« Er streckte ihr die Hand entgegen.

Beth war hungrig und erschöpft. Sie brauchte kein gezwungenes Gespräch, nur eine warme Mahlzeit und ihr Bett. Trotzdem überwand sie sich und reichte dem Adonis ihre Hand.

Die Ampel sprang auf Grün.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht überrumpeln.«

Mehrere Passanten drängten sich an ihnen vorbei. Beth machte Platz, während sich Lukas nicht vom Fleck bewegte. Offenbar war dieser Kerl ein selbstbewusstes Exemplar ohne Manieren.

»Es klingt vielleicht verrückt, aber du bist mir sympathisch. Und bevor ich es bereue, dich am Ende nicht gefragt zu haben, dachte ich, ich lade dich zu einem Kaffee, oder was auch immer du gerne trinken möchtest, ein.«

Beth hasste rücksichtslose Typen. »Das ist sehr nett, aber kein guter Plan«, erklärte sie bestimmt und wollte gehen. Dummerweise sprang die Ampel gerade um.

Lukas schien amüsiert. »Sieht so aus, als müsstest du noch etwas bleiben.«

»Offensichtlich.«

»Du musst Richtung Wilhelmplatz?«

Der Kopfschmerz setzte ihr immer mehr zu, sodass sie nickte, ohne es zu wollen.

»Lass mich dich begleiten. Wenn ich mich auf dem Weg dorthin nicht wie ein Vollidiot benehme, kannst du dich vielleicht dazu durchringen, auf einen Kaffee mitzukommen.« Er deutete auf ausgerechnet den Bäcker, bei dem Beth für gewöhnlich ihre Brötchen und Croissants erstand.

Sie seufzte. Da es mehr Zeit zu kosten schien, den Kerl an Ort und Stelle abzuwimmeln, gab sie der Bitte einfach nach.

»Das ist ja wie beim Speeddating«, kommentierte Lukas, während sie die Fahrbahn überquerten. »Ich bin Anwalt, was machst du?«

Anwalt also … Dass sie nicht vorhatte, etwas Privates preiszugeben, konnte dieser aufgeblasene Kerl ja noch nicht ahnen. Womöglich würde er es erst bemerken, wenn sie ihn längst losgeworden war. »Machst du das öfter?«, fragte sie. Im Grunde interessierte es sie nicht. »Ich meine Speeddating.«

»Es ist ein legitimes Mittel, Frauen kennenzulernen. Ich verbringe die meiste Zeit des Tages mit Klienten. Das ist eine andere Welt, die mich bei der Suche nach Bekanntschaften nicht weiterbringt.«

»Dabei kommst du doch gerade aus dem Urlaub.« Es schien, als habe sie ihn damit bereits jetzt aus dem Konzept gebracht. »Angesichts des Wetters hier bist du viel zu braun«, ergänzte sie, da Lukas sie verblüfft anstarrte.

»Ich könnte ja auch ins Solarium gehen.«

»Ja. Das tust du aber nicht. Normalerweise trägst du eine Uhr. Du hast sie heute abgenommen.«

»Die ist gerade in der Reparatur … Was machst du noch gleich beruflich?«

»Vor allem Überstunden. Wo im Urlaub warst du denn?«

Lukas schüttelte grinsend den Kopf. »Spanien. Málaga. Doch du liegst falsch: Es war kein Urlaub. Ich berate Firmen. Internationales Unternehmensrecht. Kommst du jede Woche auf den Markt?«

»Hin und wieder.«

»So eine unerhört charmante Abfuhr habe ich noch nie bekommen.« Lukas stellte sich ihr in den Weg. »Jetzt weckst du ernsthaft mein Interesse.«

»Zu dumm! Denn da drüben werde ich dich verlassen.« Obwohl das Spiel ihr zu gefallen begann, ging sie an ihm vorbei.

»Noch habe ich zwei Minuten, um dich umzustimmen.« Natürlich folgte Lukas ihr. Der Kerl tat ihr allmählich leid. »Also, ich komme jede Woche her«, erklärte er unbeirrt. »Der Stand, an dem ich dich vorhin gesehen habe, verkauft einen meiner Lieblingskäse, den …« Er hielt inne. »Was muss ich tun, damit du mit mir Kaffee trinkst?«

Sie lachen herzhaft auf. »Es gibt rein gar nichts, was du tun kannst. Schlag dir die Sache aus dem Kopf!« Aber der Jagdinstinkt des Anwalts war bereits geweckt – höchste Zeit um zu verschwinden. »Und da wären wir auch schon. Trotzdem du dich nicht wie ein Vollidiot benommen hast, werde ich von hier an allein weitergehen. Vielen Dank für die Begleitung.« Sie lächelte und ließ ihn stehen.

»Das gibts doch nicht … He!« Lukas lief ihr hinterher. Offenbar war er es nicht gewohnt, ein Nein zu akzeptieren. »He, warte mal!« Er holte sie schnell ein, notierte irgendwas – vermutlich war es seine Nummer – und drückte ihr den Zettel in die Hand. »Ich will dich wiedersehen, hast du gehört? Ruf mich an.« Nun drehte er sich um und ging.

Sie sah ihm schmunzelnd hinterher. Der Kerl war schlagfertig und wohl genauso hartnäckig und von sich eingenommen wie attraktiv … Verdammt, er hatte seine fünf Minuten wirklich gut genutzt! Allein aus diesem Grund verstaute sie den Zettel in dem Portemonnaie, statt Lukas Nummer in den nächsten Mülleimer zu überführen.

***

»Gehen wir es an, damit das Arschloch endlich hinter Gitter wandern kann!« Natascha präsentierte eine Wut, die Beth der zierlichen Studentin gar nicht zugetraut hatte.

Saskias Mimik war entgleist.

»Wenn ich Maria schon nicht wiederkriege«, erklärte sich die Zeugin, »dann soll wenigstens ihr Mörder in der Hölle schmoren! Ich werde helfen, wo ich kann.« Natascha wirkte noch erschöpfter als vor einer Woche, doch zugleich bewundernswert gefasst.

»Also dann«, begann Beth voller Tatendrang.

Sie und Saskia folgten der Studentin durch den kleinen Flur in das nicht sehr viel größere Wohnzimmer. Beths Magen knurrte, was sie ungewollt daran erinnerte, dass sie das Mittagessen wieder ganz vergessen hatte. Nun war es dafür wohl zu spät. »Im Rahmen der Ermittlungen«, begann sie das Gespräch, »haben sich Fragen aufgetan, die …«

»Wir hatten Streit«, nahm Natascha ihr den nächsten Satz vorweg, woraufhin Saskias Mimik abermals entglitt.

Beth nahm sich vor ihr beizubringen, wie man so etwas kontrolliert.

»Es ging um einen Mann.« In Nataschas Augen spiegelte sich Angst. »Maria traf sich oft mit ihm, hat in den letzten Wochen massig Zeit mit ihm verbracht. Ja, ich war eifersüchtig. Und ja, der Streit war keine Kleinigkeit. Doch, und das müssen Sie mir glauben, ich habe Maria deshalb nicht umgebracht!«

»Das hat auch niemand hier gesagt« Beth sah die junge Frau wohlwollend an. Der hageren Studentin fehlte schlicht die Kraft, einen brutalen Mord, wie den an ihrer Freundin, zu begehen. Zudem war sie in der Mordnacht von gleich mehreren Personen in einer Bar gesehen worden. Ein Taxifahrer hatte ausgesagt, dass er die unerfreulich stark betrunkene Frau an jenem Abend spät aus der Kneipe abgeholt habe. Vor ihrer Haustür angekommen, habe er Natascha aus dem Wagen helfen müssen und der torkelnden Studentin bis zur Haustür seinen Arm geliehen. Nicht ohne Sorge habe er ihr dabei zugesehen, wie sie das Treppenhaus hinaufgestolpert war. Dann sei er wieder seiner Arbeit nachgegangen.

»Warum die Eifersucht?«, hakte Saskia folgerichtig nach. »Wie Sie uns zuletzt selbst sagten, hatte ihre Partnerin an Männern kein Interesse.«

»Ich studiere auf Lehramt.« Natascha blickte auf den Boden. Ihr Zorn schien verpufft. »Biologie und Mathe. Doch dieser Typ … Wissen Sie, Maria lebte für die Medizin. Jeden Tag hat sie davon geschwärmt, wie bereichernd die Gespräche mit ihm seien. Er wusste mehr über Marias Leidenschaft als ich.«

Beth war hellwach.

»Ich dagegen konnte häufig weder mitreden noch ihren Gedankengängen folgen. Noch dazu hat sich Maria nie zu mir bekannt. Alle hielten mich für eine x-beliebige Bekannte, während dieser tolle Hecht …«

Es fiel Beth zunehmend schwer, Natascha nicht ins Wort zu fallen.

»Womöglich sahen einige in ihm sogar ihren Lover. Auch wenn es komisch klingt: Ich hatte Angst, Maria an den Fachidioten zu verlieren. Jetzt kommt mir das so albern vor. Hätte ich nur mehr Verständnis für sie aufgebracht.«

»Wie heißt der Mann?«, platzte es nun doch aus Beth heraus. Saskia schien irritiert und hatte damit recht. Ihre Ungeduld war fehl am Platz. »Es tut mir leid. Hören Sie, was immer Sie Maria an den Kopf geworfen haben, Sie haben sie geliebt. Dieser Streit war nur ein Augenblick von vielen anderen, in denen sie beide glücklich waren. Maria wusste ganz bestimmt, wie wichtig sie Ihnen war. Und niemand ist perfekt. Genau das macht uns Menschen aus.«

Natascha nickte zögerlich. »Ich weiß nicht, wie er heißt. Zumindest nicht den vollen Namen. Doch ich kann Ihnen sagen, was ich sonst über ihn weiß.«

18

Vor wenigen Minuten hatte Pieter Marias Eltern nebst der heute überraschend folgsamen Frau Staatsanwältin als letzte Handlung der Befragung aus seinem Büro geführt. Anstatt nach Hause zu gehen, saß er aber immer noch im Kommissariat und starrte konsterniert an die kalkweiße Wand. Sie haben es gewusst, dachte er fassungslos und schüttelte den Kopf. Sie haben es gewusst und hielten es tatsächlich nicht für nötig, ihre Tochter darauf anzusprechen, obwohl sie genau wussten, wie verunsichert Maria war. Das Ehepaar habe sehr oft darüber diskutiert, was sie wohl täten, wenn Maria sich vor aller Welt zu ihrer Homosexualität bekannte, hatten sie ausgesagt. Dabei hatten ihre Überlegungen geklungen wie ein Notfallprotokoll – eines für den Ernstfall eines Angriffes auf ihr Leben. Nein, natürlich hätten sie sich niemals von Maria abgewandt. Sie hätten sich auch nach Kräften angestrengt ihre abnorme Perversion zu übersehen und sich dazu durchgerungen, Maria wie einen normalen Menschen zu behandeln. Homosexualität sei keine Krankheit, aber das Symptom eines noch ungelösten inneren Konflikts und somit auch veränderbar. Man habe daher früh Kontakt zu einem Beratungsinstitut aufgenommen, das dem verwirrten Kind auch Unterstützung angeboten habe … Pieter hatte fassungslos nach dem Warum gefragt. Immerhin erschienen Marias Eltern weder hinterwäldlerisch noch dumm. Doch deren Antwort hatte ihm genauso nicht gefallen wie der Rest: Sie hätten den Schaden für den Ruf ihrer Familie möglichst minimieren wollen. Jetzt da Maria tot sei – Gott möge sie trotz allem zu sich nehmen –, müsse ja niemand erfahren, wie abnorm das Kind gewesen sei.

»Unglaublich!« Pieter schüttelte den Kopf und lehnte sich weit in den Stuhl, um das Gespräch erst einmal zu verdauen.

Das Klingeln seines Telefons lenkte ihn ab.

»Wir haben eine Spur!«, kam Beth wie üblich ohne Umschweife zur Sache. »Maria traf sich häufiger mit einem Mann. Gutaussehend und gebildet. Brillenträger. Schätzungsweise Ende dreißig. Sehr wahrscheinlich Mediziner. Sie trafen sich zum Essen oder gingen spazieren. Laut Natascha Gehrke ist er polnisch stämmig und heißt Antoni. Den Nachnamen kennen wir noch nicht.«

***

Pieter betrat das Kommissariat nach seinem heute mal erfreulich ausgeklungenen Dienst erneut. Im Grunde hatte er längst Feierabend und verdankte es nur seiner Schusseligkeit, dass er noch einmal hergekommen war. Anstatt für sich zu kochen, suchte er nun hungrig nach dem Schlüssel, der in einem Schubfach seines Schreibtischs lag und dort auf einen Moment wie diesen wartete. – Im Büro brannte noch Licht.

»Sag mir bitte, was ich mit dir machen soll«, begrüßte er Beth wenig überrascht, als er den Raum betrat. Sie saß noch immer am PC. »Wolltest du nicht schon vor Stunden gehen?«

»Ja, aber da waren noch … also …« Sie lief rot an. »Es tut mir leid. Ich bin gleich weg.«

Er schüttelte halb resigniert, halb amüsiert den Kopf. Beth zögerte den Feierabend oftmals unnötig hinaus. Offensichtlich fühlte sie sich hier bedeutend wohler als zu Hause. Er wusste nicht warum, es hätte ihm auch egal sein können, wenn sie … na ja, wenn sie nicht sie gewesen wäre.

Vor ein paar Tagen hatte Pieter endlich einen Einblick in Beths Personalakte erhascht – und einen Moment gebraucht, um die Erkenntnis zu verdauen: Sie und Linda waren am selben Tag geboren. Beth musste Lindas Zwillingsschwester sein und wusste augenscheinlich nichts davon. Pieter war nicht stolz darauf, dass er es dabei beließ, doch er dachte ungern an Lindas Tod zurück, geschweige denn, dass er freiwillig über diese Sache sprach – was er wohl müsste, wenn er Beth von ihr erzählte … Sicher hatte es bis nächste Woche Zeit.

»Was ist das?«, fragte sie, als er den Schlüssel aus dem Schubfach zog.

»Ein Zweitschlüssel. Ich sperre mich regelmäßig aus. Und das hier ist auf Dauer günstiger, als jedes Mal den Schlüsseldienst zu holen.«

Beth lächelte verschmitzt. Derweil hallte im Flur der wohlvertraute Klang von Absatzschuhen.

Pieter seufzte, noch bevor der Quälgeist das Büro betrat.

»Habe ich mich also nicht verhört!«, stellte Carmen fröhlich fest, »du bist noch hier.«

»Ja.« Er sah bewusst nicht sofort auf. »Aber …«

»Wir sind mit der Spurensicherung in dieser Wohnung durch.« Carmen lehnte sich an seinen Tisch und spielte mit den Locken ihres Haars. »Die Leute von der Presse haben diesmal echt genervt und …«

»Hör mal, Carmen, ich bin gerade auf dem Sprung. Wenn es also etwas ist, das auch bis morgen warten kann, dann …«

»Sicher! Eigentlich wollte ich dir ja auch nur einen schönen Feierabend wünschen.« Wie immer strahlte sie ihn trotz der Abfuhr an.

Pieter seufzte, diesmal hörbar, auf. Beth gruppierte ein paar Akten auf ihrem bereits gründlich aufgeräumten Tisch. Das tat sie nur, wenn sie mit der Entwicklung einer Sache unzufrieden war. – Immerhin, das wusste er bereits von ihr. Offenbar versuchte sie zu ignorieren, dass Carmen sie mal wieder schnitt.

»Und?«, fragte die ihn. »Was fängst du mit deinem freien Abend an?«

»Ich?« Carmens Hoffnung war nur schwer zu überhören. Er blickte stoisch auf den Tisch. »Ich treffe mich gleich mit einem Freund. Bin schon spät dran.« Dummerweise blieb sie, wo sie war. »Weißt du, Beth hatte eben auch noch eine Frage, die ich klären muss, bevor ich gehe. Können wir morgen reden? Dann habe ich Zeit und den Kopf wieder frei.« Während er sprach, schielte er angespannt zu Beth hinüber, die zum Glück nicht einmal mit der Wimper zuckte.

»Klar!« Nun wirkte Carmen nicht mehr ganz so fröhlich. »Hab einen schönen Feierabend. Und viel Spaß mit deinem Freund.«

Sie tat ihm leid.

Er wartete, bis Carmens Schritte auf dem Gang verhallt waren, während Beth stumm grinsend zu ihm rüber sah. »Danke, dass du deinen Mund gehalten hast.«

»Kein Ding. Du weißt, dass diese arme Frau in dich verknallt ist, oder nicht?«

»Frag lieber, wer es nicht weiß.«

Beth lachte. »Warum sagst du ihr nicht einfach, dass du kein Interesse hast? Sie macht sich ernsthaft Hoffnungen.«

»Anfangs habe ich mir die Mühe noch gemacht.« Tatsächlich hatte er nichts unversucht gelassen, es ihr schonend beizubringen. Pieter kannte Carmen, seit er angefangen hatte, hier zu arbeiten, und hatte sie trotz ihrer Eigenarten gern. Nur eben nicht auf diese Art. »Sie weiß, dass ich nicht mit ihr ausgehen werde, doch versucht es immer wieder – und fängt sich dabei eben eine Abfuhr ein. Das Spielchen geht jetzt schon seit Jahren so, ist quasi unser Ding.«

Beth zuckte mit den Schultern und das Thema schien vom Tisch.

»Ich verschwinde jetzt «, erklärte er. »Denn ich habe Feierabend. Kommst du mit?«

Sie griff nach ihrer Handtasche, wobei ihr mürrischer Gesichtsausdruck verriet, dass sie es nur mit Widerwillen tat.

Pieter wartete, bis Beth auch durch die Tür geschlichen war, und schloss dann hinter ihnen ab.

»Warum bist du nicht zu Hause, Beth? Dass du täglich länger bleibst, ist doch nicht nur Ehrgeiz.«

Nichts. Nicht mal die kleinste Reaktion.

»Magst du mir vielleicht erzählen, worum es geht?«

Ein Kopfschütteln, mehr nicht.

Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. »Wenn du zu Hause Ärger hast, vielleicht mit deinem Freund …«

Beth musterte ihn skeptisch, schüttelte den Kopf und visierte zielstrebig den Ausgang an. Sie war die wohl verschlossenste Person, die Pieter je getroffen hatte.

»Musst du in diese Richtung?«, fragte er, als sie im Freien waren.

Beth nickte, aber sah nicht auf. Sie schien verkrampft. Offensichtlich fühlte sie sich alles andere als wohl.

»Okay.« Da war dieser Impuls … Er ging neben ihr her, obwohl er in die andere Richtung musste. »Hast du was dagegen, wenn ich dich begleite? Wie es aussieht, haben wir denselben Weg.«

Beth zögerte. Wahrscheinlich, weil sie wusste, dass er log. »Hast du eben nicht gesagt, du hättest noch was vor? Du bist spät dran und solltest dich beeilen.«

»Ach komm! Jetzt tu nicht auch noch so, als hättest du mir diesen Unsinn eben abgekauft. Ausgerechnet du.«

Immerhin, das Schmunzeln konnte sie sich nicht verkneifen.

Er folgte dem Impuls: »Aber vielleicht habe ich tatsächlich noch was vor. Das heißt, sofern du damit einverstanden bist.«

Beth sah stirnrunzelnd auf.

»Ganz in der Nähe gibt es ein Lokal mit ein paar Billardtischen. Zu Hause wartet nichts auf mich und, na ja, bei dir sieht es ja offensichtlich ähnlich aus. Also …«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.« Im Grunde wusste er nicht, was er von dem Vorschlag hielt. Pieter traf sich aus Prinzip nicht mit Kolleginnen, um Missverständnissen der Sorte Carmen aus dem Weg zu gehen. Aber Beth hatte ein Problem. – Und sie war Lindas Schwester! Und so verschlossen wie sie war … »Na ja. Vielleicht erzählst du’s morgen nicht gleich Carmen.«

Sie zögerte. »Ich fang nichts mit Kollegen an.«

»Da haben wir ja was gemeinsam«, lachte er, da der Gedanke zu absurd erschien. »Na komm, ist gleich dort drüben um die Ecke.«

19

»Die Rote in die rechte Tasche.« Beth zielte und versetzte ihrer Kugel einen Drall, sodass sie den von ihr gewünschten Bogen nahm. Das hier war wie Fahrradfahren. Sie hatte nichts verlernt.

Sie mied ihre vier Wände, weil sie das Gefühl, dort nicht allein zu sein, zunehmend schwer ertrug. Vermutlich spielte ihre Wahrnehmung ihr diesen Streich, um zu verdeutlichen, dass sie die Leere ihres Lebens füllen müsste. Nur deshalb war sie Pieters Vorschlag nachgekommen, so unvernünftig es auch war. Sie patzte, sodass Pieter übernahm.

»Wie ich sehe, spielst du nicht zum ersten Mal.« Er versenkte beinahe mühelos zwei Bälle gleichzeitig in der von ihm zuvor benannten Tasche – sein plötzliches Geschick erstaunte Beth –, dann sah er schmunzelnd auf. Offensichtlich hatte er beschlossen, sie nicht noch länger zu schonen, was dieses Spiel für sie nur interessanter machte.

Das zweckmäßig, dabei jedoch nicht uncharmant gestaltete Lokal, in das er sie geschleppt hatte, erinnerte sie an den Jugendtreff, in dem sie das Billardspielen gelernt hatte. Beth hatte die Jungs aus ihrer Nachbarschaft am Ende reihenweise abgezogen und sich auf die Art ein wenig Geld dazuverdient. Das letzte Spiel war viel zu lange her und sie womöglich etwas eingerostet.

Pieter lochte eine Kugel nach der anderen ein.

»Wie geht es Wenzel?«, fragte sie, sodass er innehielt und aufblickte. »Er ist ernsthaft krank, nicht wahr?« Pieter bearbeitete den Queue mit Kreide, wobei er ihr einen Hauch zu ausdauernd erschien. – Verdammt, sie hatte recht! »Das tut mir leid. Bitte grüß ihn lieb von mir, wenn du ihn siehst.«

Er betrachtete sie angestrengt, scheinbar wägte er ab. »Er will nicht, dass es irgendwer erfährt«, erklärte er schließlich, trat an den Tisch zurück und patzte, sodass ihr der nächste Zug oblag.

Es betrübte Beth zu hören, wie es um Wenzel stand. Sie hatte ihn schnell ins Herz geschlossen, was bisher nur selten vorgekommen war. Wenzel stellte sich zu jeder Zeit schützend vor jeden Einzelnen – ganz wie ein Vater vor sein Kind. Er hatte sich den guten Stand im Team redlich verdient. Sie zögerte. »Wird er es überleben?«

»Das hoffe ich … Warum hast du die Pflanze neulich wieder aus dem Müll gefischt? Die war komplett hinüber.«

»Du meinst die knochentrockene Orchidee aus dem Büro?« Sie lochte ein.

»Ja. Die hatte nicht mal mehr ein Blatt.«

»Womöglich habe ich etwas für verwaiste Dinge übrig.« Sie sah herausfordernd zu Pieter auf.

Der neigte den Kopf und hob, sicher in Anbetracht ihres gewagten Vorhabens, die Brauen.

Die letzte Kugel lag tatsächlich denkbar schlecht. Beth konzentrierte sich und lochte ein. »Du hast sie zu früh aufgegeben. Die Arme braucht nur etwas Pflege, dann ist sie sicher bald wieder wie neu.«

Zwei ausgeglichene und überwiegend schweigsame Partien Billard sowie eine Pizza später nahm Beth zufrieden auf dem schwarzen Ledersessel Platz. Dieser ominöse Antoni war offenbar der Letzte, der Maria lebend sah, ging es ihr durch den Kopf, als Pieter für einen Moment verschwand. Wer zum Teufel ist der Kerl? Sie hatte sich eingehend nach Maria umgehört. Ein Kellner hatte ihr heute erzählt, er habe die Verstorbene häufig in der Begleitung eines älteren Mannes in seinem Lokal nahe der Universität gesehen. Auch in der Mordnacht seien sie zusammen dort gewesen. Offenbar war der Gesuchte blond. »Wir müssen uns in den Kliniken nach ihm umhören«, murmelte sie bei sich. »Sicher arbeitet er irgendwo als Arzt.«

»Du hast Feierabend, Beth.« – Wann zum Teufel war Pieter zurückgekommen? – »Und an die Kliniken haben wir längst gedacht. Wir haben ihn schon gefunden. Er ist Oberarzt, hat gerade Dienst und operiert.«

»Und das erzählst du mir erst jetzt?«, platzte es aufgeregt aus ihr heraus.

»Ja.« Pieter lächelte. »Du hattest zu dem Zeitpunkt bereits Feierabend.«

Sie wollte protestieren.

»Und davon abgesehen«, er setzte sich, »plaudere ich an einem Ort wie diesem für gewöhnlich nicht über den Stand einer noch laufenden Ermittlung.«

Pieter hatte recht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und sich unzufrieden in den Stuhl zurückzulehnen.

»Beth, was fängst du mit deiner Freizeit an?«, wollte er nun auch noch von ihr wissen. »Also die Zeit, in der du nicht beim Joggen irgendwelchen Leichen auflauerst oder bis weit nach Ende deiner Schicht im Kommissariat festhängst.«

»Warum ist das …« Sie erinnerte sich an den Vorsatz, ab sofort mehr auf die Menschen zuzugehen. »Das Baltik Thais. Da gehe ich hin. Gerade schaffe ich es aber nicht allzu oft.«

»Du boxt? … Aber … ausgerechnet Kampfsport?«

»Thaiboxen, ja.« Warum irritierte ihn das so? »Ich mach das schon mein halbes Leben lang.« Sie war verunsichert, versuchte es zu überspielen, ahnte aber, dass er es bemerkte. In dem Fall half nur eins: Beth drehte den Spieß um. »Darf ich dich was fragen? Was Privates meine ich.«

»So funktionieren Unterhaltungen für gewöhnlich, oder nicht?«

»Wie ist sie gestorben? Deine Verlobte, meine ich.«

Die Frage verfehlte ihre Wirkung nicht: Pieter versteinerte und wandte den Blick auf den blutroten Teppich.

»Tut mir leid! Ich wollte nicht …«

»Nein … Schon okay. Ich rede einfach nicht sehr oft darüber, dass …« Er atmete tief durch. »Linda ist ermordet worden. Und der Täter läuft noch frei herum.«

Beth schluckte. »Das tut mir leid.« Verdammt, sie hätte ihn das niemals fragen sollen!

»Muss es nicht. Ist lange her.« Pieter sah auf. Offenbar versuchte er zu lächeln, was ihm beinahe auch gelang. »Fast dreizehn Jahre, um genau zu sein. Jeder andere hätte das längst abgehakt.«

»Du meinst, die Zeit heilt alle Wunden?«

Er nickte stumm.

»Das ist doch Blödsinn!« Der arme Kerl. So etwas konnte man nicht ungeschehen oder vergessen machen. »Pieter, man wird die Geister der Vergangenheit nicht los.« Im Grunde sprach sie für sich selbst und wandte sich daher unsicher ab. »Doch du kannst lernen, damit zu leben. Wenn du akzeptierst, was irgendwann gewesen ist, wirst du dich mit den Biestern arrangieren. Das raubt nicht so viel Energie wie der Versuch, sie zu verjagen und«, sie sah unsicher auf, »irgendwann kann man sich wieder auf das Heute konzentrieren.«

Das hatte Pieter überfahren. Er bedachte sie mit diesem Blick. – Seine intensiven himmelblauen Augen musterten sie, als wolle er sie gleich … Beth spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. »Wenn du mich ansiehst«, fragte sie in viel zu dünnem Ton, »ich meine so wie jetzt, dann siehst du sie, nicht wahr?«

»Ja.« Pieter versuchte sich erneut an einem Lächeln, was nicht verbarg, dass er todtraurig war. »Doch es passiert inzwischen nicht mehr allzu oft.«

Sie schwieg, versuchte nicht rot anzulaufen und verwünschte sich dafür, dass Pieter diese Wirkung auf sie hatte.

»Na komm.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Es ist spät und morgen gehts wieder früh los.«

20

Der Wecker schellte und Beth sprang verwundert, doch zufrieden aus dem Bett. Hatte sie tatsächlich durchgeschlafen? Das wäre seit Wochen das erste Mal.

Nach dem Billardspielen war sie gestern müde in ihr Bett gefallen und hatte nicht einmal darüber nachgedacht, ob jemand in der Wohnung war. Scheinbar hatte ihr das Treffen gutgetan – was wohl ein Grund dafür war, das zu wiederholen. Aber vielleicht nicht noch mal mit Pieter, ihrem viel zu attraktiven Vorgesetzten, der sie mit seiner toten Ex verwechselte – das konnte nur nach hinten losgehen und Beth hatte keine Lust auf Scherereien.

Als sie aus dem Badezimmer trat, quietschte wie jeden Morgen das Parkett. Beth lächelte – sie liebte alte Dielen – und suchte nach dem Set der Passionata-Kollektion, deren Kauf sie gegen jegliche Vernunft nicht widerstanden hatte. Im Grund hatte sie nicht viele Laster. Neben dem Zuviel an Koffein und ihrer Arbeitssucht war es nur der Hang zum Tragen teurer Spitzenunterwäsche.

Sie zog sich an, ging in die Küche und betätigte den Kaffeeautomaten, der den Raum ratternd in einen zarten Vorhang nussigschokoladiger Aromen tauchte, ein Duft, an dem sie sich in zwanzig Jahren noch nicht sattgerochen haben würde. Dabei wanderte ihr Blick hinaus. Nun wohnte sie schon ein paar Wochen lang im Erdgeschoss und hatte sich noch immer nicht um einen Sichtschutz für die Fenster bemüht. Selbst wenn eine Gardinenstange und ein Vorhang greifbar wären, hätte sie beides noch nicht angebracht. Einen Nagel gerade in die Wand zu schlagen, lag ihr einfach nicht im Blut.

Sie griff nach dem Espresso, trank das schwarze Gold in einem Zug und bereitete das Frühstück zu.

Da war schon wieder dieses ungute Gefühl … Beth erschrak und fuhr zusammen, wobei der Teller scheppernd auf die Fliesen fiel. Verdammt hatte sie da nicht gerade etwas gesehen? Na, vielleicht ein Vogel, der tief vor dem Haus vorbeigeflogen war.

Sie ließ die Scherben, wo sie waren, löschte das Licht und trat verängstigter, als sie es von sich kannte und als ihr lieb gewesen wäre, an die Fensterbank. Autos rollten durch die Nacht, darunter auch ein Streifenwagen. – Immerhin waren die Kollegen nicht weit weg! Ein draller Mann legte seinen Bearded Collie an die Leine, ansonsten war nichts Ungewöhnliches zu sehen.

Du Schisser! Was sollte da schon sein, außer den Hirngespinsten ihrer Angst?

Beth atmete tief durch, versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen und las resigniert die Scherben auf. Sie war doch schon dabei, ihre womöglich etwas ungünstige Lebensführung zu verändern. Warum fühlte sie sich also immer noch verfolgt? Beth hatte Angst. War ihr Gefühl womöglich doch nicht falsch? Was wäre, wenn … War da tatsächlich jemand, der ihr nachstellte? Jemand, der nachts stundenlang durch ihre Fenster sah?

Der Zweifel nagte sich durch ihren Geist.

Verdammt, der Sichtschutz für die Fenster musste her! Und das so schnell es ging.

***

Beth tigerte quer durch das Kommissariat; ging den langen Flur entlang, sah von der eigenen nervösen Unruhe genervt auf und registrierte einen blonden Schönling mittleren Alters, der auf jemanden zu warten schien. Der hochgewachsene Mann saß kerzengerade auf dem Stuhl und wippte mit dem Fuß. Offenbar war er genauso angespannt wie sie. – Moment! War das …? Sie beschleunigte den Schritt und hetzte ins Büro.

»Ist er das?«, fragte sie Pieter aufgeregt, nachdem die Tür ins Schloss zurückgefallen war.

Er nickte, lehnte sich zurück und sah dann schmunzelnd zu ihr auf. »Antoni Kubiak. Er ist Kardiologe am Uniklinikum und inzwischen auf dem besten Weg zur Professur. Anhand des Dienstplanes konnte Kalle bereits nachvollziehen, dass Kubiak weder in der Mordnacht noch in den drei Tagen vorher bei der Arbeit war. Bisher kooperiert er anstandslos.«

»Das sagt gar nichts!« Hatte er sich etwa von dem Mediziner einlullen lassen? »Du weißt, er wäre nicht der Erste, der das Spiel mit uns genießt. Dass er sich hilfsbereit und freundlich gibt, bedeutet nicht, dass er nicht schuldig ist.« Pieter schien amüsiert. Sie ignorierte es. »Befragst du ihn jetzt gleich?«

Er nickte, griff nach einer dünnen Akte und kam damit auf sie zu. Für ihren Geschmack ließ er sich dabei zu viel Zeit.

»Kalle hat ihn ausfindig gemacht«, erklärte er endlich. »Er kennt ihn schon, weshalb ich ihn darum gebeten habe, Kubiak mit mir zusammen zu befragen.«

»Aha.« Beth setzte sich, sie war enttäuscht. »Also … das klingt vernünftig.«

»Hm-hm.«

Eindeutig, irgendetwas amüsierte ihn.

»Andererseits ist Kalle gar nicht so versessen darauf, diesen Zeugen zu vernehmen. Seine Frau ist krank. Er wollte früher gehen.«

Sie sah erwartungsvoll zu Pieter auf.

Der ließ die Unterlagen auf den Schreibtisch sinken und schob sie ihr schmunzelnd zu. »Da drin steht alles, was wir zu derzeit über Kubiak wissen.« Er zog sich einen Stuhl an ihren Tisch. »Dummerweise darf ich diesen Zeugen nicht allein vernehmen. Irgendwer muss also mit mir Überstunden machen. Es macht dir hoffentlich nichts aus?«

Das tat es sicher nicht!

Pieter grinste und setzte sich neben sie. »Nach dem aktuellen Stand ist er der Letzte, der das Opfer lebend sah. Er ist Arzt, hatte die Mittel und womöglich auch Gelegenheit zum Mord. Das Alibi ist eins der Dinge, die wir klären müssen.«

Sie stimmte Pieter zu.

»Auch was das mögliche Motiv angeht, sind wir nach der Befragung sicher schlauer«, meinte er. »Mir sind dazu bereits einige Hypothesen durch den Kopf gegangen.«

»Gekränkte Eitelkeit«, stellte sie fest. »Der Mann traf sich mit einer sehr viel jüngeren Frau. Regelmäßig. Da fragt man sich doch gleich warum.«

»Weil er darauf hoffte, sie ins Bett zu kriegen.«

»Doch er hat einen Korb bekommen. So sehr Maria ihn bewundert haben mag, sie stand ganz einfach nicht auf ihn. Kubiak ist ein hoch dotierter Mediziner, also selbstverliebt und egozentrisch. Er war von seinem Ego derart überzeugt, dass er die Abfuhr nicht ertrug.«

Pieter runzelte die Stirn, weshalb sie innehielt. »Deine Haltung Ärzten gegenüber ist ja nicht die allerbeste.«

Da hatte er wohl recht. »Das war nur eine Hypothese«, wich sie der impliziten Frage aus, »schließlich führt nicht jede Kränkung gleich zum Mord. Demnach suchen wir jemanden mit einer auffälligen Persönlichkeit.«

»Die Ärzte per se haben?«

»Die allermeisten schon.« Sie konnte förmlich hören, dass er sich eine Nachfrage verkniff. Dafür grinste Pieter tief in sich hinein. Sie ignorierte es und deutete vorsichtig auf den Bakeliet-Kaffee, den er bereits seit heute Vormittag verschmähte. »Sag mal, trinkst du den noch aus?«

»Der ist längst kalt und schmeckt nicht mehr.«

»Ja, aber«, etwas peinlich war es schon, »weiß du, selbst kalt ist der um Längen besser als die Plörre aus dem Automaten hier bei uns.«

Er sah sie kommentarlos an. Dann stand er schmunzelnd auf, reichte ihr den Pappbecher und kam zum nächsten Punkt.

21

Es war ein Geschenk mit Beth zu arbeiten. Nur wie man sie bremste, musste er noch lernen – und sie dringend danach fragen, wie sie zu der radikalen Meinung Ärzten gegenüber kam.

Pieter schüttelte den Kopf. Er hatte Beth darum gebeten, Kubiak aus dem Vorraum abzuholen. Sie brannte ohnehin darauf, den Zeugen zu vernehmen. Während er auf sie wartete, dachte er daran zurück, wie es vor langer Zeit für ihn gewesen war, zu Lindas Tod befragt zu werden. Warum kam ihm der Gedanke gerade jetzt? Damals hatte er befürchtet, in ein dunkles Zimmer samt verkratztem Tisch und unbequemem Stuhl geführt zu werden, und war überrascht gewesen, als der Kommissar ihn höflich in einen hellen Raum gebeten hatte. An diesem Tag hatte er Jürgen Wenzel kennengelernt. Damals wie heute hatten die Büros im Kommissariat nichts mit dem Raum gemein, den Pieter sich an jenem Sonntag ausgemalt hatte. Sie waren freundlich eingerichtet, mit grauen Aktenschränken, übergroßen Eckschreibtischen und vereinzelt auch mit Zimmerpflanzen ausgestattet. In Pieters Büro hingen ein Whiteboard und ein großer Jahresplaner an der Wand. Damit glich es wohl den Räumlichkeiten einer x-beliebigen Behörde, nicht dem Folterkeller, den er so gefürchtet hatte.

Beths gehetzte Schritte wurden lauter. Sie trat ein, setzte sich neben ihn und wies Kubiak den Platz ihnen gegenüber zu. Dieser befolgte ihr Gebot und starrte Pieter schweigend an.

»Antoni Kubiak«, antwortete er auf die Frage nach den Personalien, »geboren in Krakau am 13.12.1980. Ich arbeite seit drei Jahren am Universitätsklinikum Kiel, wohne in der Bismarckallee zwei, ebenfalls Kiel, bin ledig und polnischer Staatsbürger.« Kubiak lugte unsicher zu ihm herüber. Offensichtlich machte Beth dem Mediziner Angst.

Dafür, dass dieser Mann erst seit drei Jahren in Deutschland lebte, dachte Pieter, sprach er schon bewundernswert gut Deutsch; beinahe ohne Akzent.

»Doktor Kubiak«, begann Beth nun das Gespräch, »wir vernehmen Sie als Verdächtigen in dem Mordfall an Maria Schäfer. Das heißt, es besteht derzeit ein Anfangsverdacht gegen Sie, diese am 23. August dieses Jahres getötet zu haben. Haben Sie das verstanden?«

Da Kubiak nickte, klärte Pieter ihn über seine Rechte auf.

Nein, es störte Kubiak nicht, dass die Vernehmung aufgezeichnet wurde. Ja, er wollte sich zur Sache äußern. Nein, er brauchte keinen Rechtsbeistand. Genauso wenig wollte er Beweisanträge zu seiner Entlastung stellen.

»Maria und ich waren befreundet«, sagte Kubiak in festem Ton, »wenn auch erst seit ein paar Wochen. Als ich sie zuletzt gesehen haben, habe ich sie zu ihrem Rad begleitet und verabschiedet. Ich habe Maria nicht getötet.«

Der Akzent des Mannes wuchs mit seiner Unruhe. Kubiak war nervös. Womöglich weil Maria ein Geheimnis mit ins Grab genommen hat, von dem er nicht wollte, dass sie es erfuhren?

»Wann und wo war das?«, fragte Beth.

»Im Lieblingsplatz. Sonntagabend vor vier Wochen. Maria rief mich allerdings schon Freitag an. Sie war völlig aufgelöst und bat mich um ein Treffen. Ich war zu diesem Zeitpunkt in Berlin: die Jahrestagung der DGK. Das können Sie überprüfen. Ich habe dort referiert. Das Treffen konnte ich erst Sonntag einrichten.« Kubiak richtete das Wort an ihn. »Wir trafen uns am Sonntag. Das muss gegen neunzehn Uhr gewesen sein. Maria erzählte mir von diesem Streit. Natascha ist … Sie war Marias Partnerin. Nach allem, was Maria mir erzählt hat, ist Natascha eine selbstbewusste und sehr offene Frau, doch sie war eifersüchtig und hatte ihr an diesem Tag ein Ultimatum gestellt: ich oder sie. Also versuchte ich, Maria zu beruhigen. Ich habe ihr gut zugeredet, bot ihr an, dass wir uns zu dritt zusammensetzen könnten. Natascha sollte mich ganz einfach kennenlernen. Das war längst überfällig. Ich war der Meinung, dass sich ihre Eifersucht dann legt.«

Beth schwieg. Vermutlich um den Zeugen unter Druck zu setzen. Pieter folgte ihrem Beispiel, sodass das einzige Geräusch im Raum nunmehr das Ticken der Wanduhr war.

Klack.

Sicher suchte Beth nach einem trügerischen Zeichen dafür, dass der Mediziner log.

Klack.

»Wir waren die Letzten, die gegangen sind.« Kubiak wurde zunehmend nervös. »Wie schon gesagt, ich brachte sie noch bis zum Rad. Danach bin ich nach Hause gegangen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht. Hören Sie, das müssen Sie mir glauben!«

Beth lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in den Stuhl und ließ Kubiak zappeln. Was der erzählte, klang authentisch, trotzdem weckte es den Anschein, als verschweige er etwas.

»Hatten Sie danach noch mal Kontakt zu ihr?«, setzte Pieter nach.

»Nein, ich habe Maria weder noch einmal gesprochen noch sie irgendwo gesehen. Sie hat mir eine Nachricht geschickt, in der sie sich für das Gespräch bedankte. Das war am selben Abend. Ich las sie erst, als ich zu Hause war … Ich … Hätte ich die Nachricht nicht gelöscht, könnte ich sie Ihnen zeigen.« Kubiak zog das Telefon hervor und legte es vielsagend auf den Tisch.

Pieter sah zu Beth hinüber und sie tauschten einen Blick. Auch wenn es Kubiak nicht entlasten würde, wäre es mithilfe seines Telefons zumindest möglich, seine Aussage zu überprüfen. Es erforderte nur einen Anruf bei der Staatsanwältin und die Sache wäre vom Tisch.

Beth atmete tief durch. »Hat es Sie nicht irritiert, dass Sie seit dieser Nacht nichts mehr von ihrer Freundin hörten?«

»Nein. Doch es hätte mich wohl besser irritieren sollen.« Kubiak starrte an die Wand. »Ich bin davon ausgegangen, dass Natascha nicht auf meinen Vorschlag eingegangen ist und Maria daraufhin kleinbeigegeben hat. Sie hat Natascha sehr geliebt. Also nahm ich an, dass sie sich gegen unsere Freundschaft und für ihre Partnerschaft entschieden hat. Das habe ich akzeptiert.« Kubiak atmete stöhnend aus. »Hören Sie, es wirkte einfach schlüssig, dass sie nichts mehr von sich hören ließ!«

Beth nickte.

Damit gab sie sich zufrieden? »Maria war sehr jung«, merkte Pieter an.

»Sie wollen allen Ernstes wissen, warum ich mich mit einer Jüngeren angefreundet habe?«

Er nickte stumm und lehnte sich zurück.

»Maria mag zwar jung gewesen sein«, fuhr Kubiak ungehalten fort, »doch sie war nicht auf den Kopf gefallen! Wir trafen uns auf einer Party und sind ins Gespräch gekommen. Das war vor ein paar Monaten. Sie hatte, so wie ich, Interesse an der Medizin und … wir freundeten uns also an.«

Beth regte sich. Offensichtlich war auch ihr das Stocken und Kubiaks verräterischer Blick zu Boden nicht entgangen. Dass Natascha ihre Partnerin als ruhig und häuslich beschrieben hatte, passte ebenfalls nicht zu der Aussage des Mannes. »Was für eine Party?«, fragte sie.

Kubiak schwieg.

»Also gut«, sie rückte vor, »ich kaufe Ihnen ab, dass Sie Maria nicht getötet haben. Aber ich glaube auch, dass sie zwei mehr verbunden hat als nur die Medizin.«

Klack.

Nichts.

Klack.

»Doktor Kubiak«, fuhr Beth energisch fort, gerade als Pieter dachte, dass sie ihn gleich soweit hätte, »Sie sind ohne einen Anwalt hergekommen. Offensichtlich wollen Sie uns helfen. Also tun Sie das jetzt bitte auch. Warum haben Sie sich wirklich mit Maria angefreundet?«

Kubiaks Blick wanderte durch den Raum und blieb an Pieters hängen.

»Man hört in diesem Job so einiges«, machte er dem Mediziner Mut. »Was auch immer Sie uns gleich erzählen, ich bin mir sicher, dass Sie uns damit nicht überraschen können.«

Beth wurde unruhig, sodass Pieter auffordernd zu ihr hinübersah. Abzuwarten lag ihr nicht. Genau genommen war sie die wohl ungeduldigste Kollegin, die er kannte. Doch dieser Mann vor ihnen brauchte Zeit und keinen Druck.

»Jeden vierten Freitag im Monat«, hauchte Kubiak so leise, dass Pieter es kaum verstand. »In der Traumfabrik.«

»Gays and Friends?«, sprach Pieter den Namen der vielleicht bekanntesten Veranstaltungen des Bundeslandes aus.

Kubiak sah an ihm vorbei. »Sie haben keine Vorstellung davon, wie unaufgeklärt die meisten Menschen sind. Das Thema wurde viel zu lange totgeschwiegen und noch immer gibt es viele Vorurteile. Nicht nur in meinem Heimatland. Bis zu den Achtzigern galt es als Krankheit. Ich habe gesehen, wie dort mit Homosexuellen umgegangen wurde.« Kubiak schüttelte entrückt den Kopf. Erst Geräusche auf dem Flur holten ihn aus der Erinnerung zurück. »Meine Familie lebt in Polen auf dem Land. Es sind wundervolle Menschen, liebevoll, doch nicht gebildet. Sie würden es mir nie verzeihen, wenn ich …« Offensichtlich wagte er es nicht, die Worte auszusprechen.

Pieter verstand es aber auch so. Neben der Medizin waren Kubiak und Maria durch ihre beiden ungewollten Doppelleben eng verbunden. Ein sicherlich zermürbender Spagat zwischen der eigenen Identität und dem nach außen hin gelebten Schein.

»Ich treibe mich nicht oft auf diesen Partys rum.« Kubiaks Worte klangen verschämt. »Am Ende bleibe ich mein Leben lang der Feigling, der ich bin … Ich bin fast vierzig und allein, was ich bedauere. Maria war zwar jung, doch mir in vielen Punkten weit voraus. Sie hat sich geoutet. Dafür habe ich sie bewundert, nicht getötet.«

Pieter konnte Beths Gedanken förmlich hören, so angestrengt wie sie zu grübeln schien. Mit einem Mal blickte sie auf, griff nach einem Block und sah sich suchend auf dem Schreibtisch um. Er sah Beth fragend an.

Statt darauf einzugehen, zog sie ihm den Kuli aus der Hand, von dem er nicht bemerkt hatte, dass er damit spielte, und notierte HAKI e. V. Dann riss Beth den Zettel ab.

Pieter erinnerte sich dunkel an den Namen des Vereins. Unter anderem bot er homosexuellen Menschen eine angemessene Beratung, Selbsthilfe- und Freizeitangebote an. Linda hatte durch ihr Ehrenamt damit zu tun gehabt. Doch woher kannte ihn Beth?

Als sie das Schriftstück beiläufig in Kubiaks Richtung schob, blickte der fragend drein. »Vielleicht besuchen Sie die mal«, meinte sie. »Wusste Natascha von dem Besuch auf dieser Party?«

»Nein.« Kubiak verstaute die Notiz in seiner Hosentasche. »Soweit ich weiß, war sie nur einmal dort. Sie wollte sich die Szene erst allein ansehen, unvoreingenommen, und hat Natascha den Besuch verschwiegen. Womöglich wollte sie nicht wieder eine Outing-Diskussion auslösen. Natascha hat es nicht geschert, was andere von ihr dachten. Bewundernswert. Aber sie hat Marias Ängste nicht verstanden.«

»Okay.« Pieter atmete tief durch. »Bitte erzählen Sie uns jetzt, was Sie getan haben, nachdem Sie Maria an dem besagten Abend vor dem Restaurant gesehen haben.«

»Ich brachte Sie zu ihrem Fahrrad und bin dann nach Hause.«

»Mit dem Wagen?«

»Nein, zu Fuß. Ich bin gelaufen.«

»Welchen Weg haben Sie genommen?«

»Die Hansastraße runter, vorbei am Wasserturm über den Blücherplatz und dann die Esmarchstraße runter bis zur Förde. Ich war nach etwa einer halben Stunde da.«

Bisher klang alles schlüssig. Pieter nickte. »Was dann? Bitte so detailliert wie möglich.«

»Ich wollte eigentlich ins Bett, bekam aber noch einen Anruf. Das muss so gegen Mitternacht gewesen sein. Ein Kollege bat um Unterstützung bei einem komplexen Fall.«

»Sie hatten Dienst?«

»Nein. Aber wenn es Probleme gibt, können mich Kollegen in der Regel kontaktieren. Rund um die Uhr. Es ist nicht sehr vernünftig, doch ich handhabe das so. Oft lässt sich das Problem schon telefonisch klären. Im Zweifel fahre ich in die Klinik.« Kubiak hielt inne.

Der Bericht klang glaubhaft und die Schilderung der Umstände vertraut. Pieter nickte abermals. »Was dann?«

»Ich bin an dem Abend noch mal los. Mit dem Rad. Ach ja, bevor ich losgefahren bin, las ich Marias Nachricht. Ich wollte ihr erst antworten, doch hatte dazu keine Zeit. In der Klinik tat ich dann mein Möglichstes, doch die Patientin starb. Ich habe mir einen ruhigen Raum gesucht, um etwas Schlaf zu kriegen, bevor der reguläre Dienst begann.«

22

Kubiaks Vernehmung hatte sie nicht weit gebracht. – Wieder eine kalte Spur! Inzwischen war es spät und Beth stand überfordert vor dem breiten Sortiment an Gardinenstangen, Rollos und Plissees. Im Grunde hatte sie gar keine Ahnung, was sie brauchte. In der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihr bei der Auswahl half, tigerte sie durch den nächsten Gang. Fehlanzeige! Beth konnte Baumärkte nicht leiden und erinnerte sich jetzt wieder warum: Wie immer waren alle Mitarbeiter wie vom Erdboden verschluckt.

»Hallo Schönheit!«, erklang es direkt hinter ihr.

Beth fuhr herum und blickte in die schokoladenbraunen Augen des Adonis, dem sie auf dem Markt begegnet war. Was hatte der denn hier verloren? Sie trat zurück, wobei Lukas die eindeutige Geste ignorierte.

»Du hast dich nicht bei mir gemeldet«, mahnte er.

»Ich habe auch nie gesagt, dass ich es tue.«

»Warum solltest du dir einen Mann wie mich entgehen lassen?«

Sollte sie lachen oder sich aus der Affäre ziehen? Beth lachte. »Du hältst dich für unwiderstehlich, was?«

»Autsch!« Er fasste sich gespielt getroffen an die Brust. »Auch ich habe ein Herz.«

Sie musste wieder lachen. Der Kerl trug einen Anzug, der ihm ausnehmend gut stand. Das Ding war maßgeschneidert oder teuer, sicher beides. In jedem Fall hatte sie eine Schwäche für das Ding und wandte sich daher vorsorglich ab.

»Du bist wirklich schonungslos. Geh mit mir aus!«

»Nein.« Das hoffnungslose Engagement des selbstbewussten Kerls begann sie nachhaltig zu amüsieren.

»Ein anderer Mann?«

»Kein anderer Mann. Nur kein Interesse.«

Lukas machte keine Anstalten zu gehen. »Ich könnte dir behilflich sein.«

»Und trotzdem würde ich nicht mit dir ausgehen wollen.« Sie wandte sich ihm wieder zu.

Der Anwalt grinste, sodass Beth bezweifelte, dass er schon aufgegeben hatte. Im Gegenteil, er schien die unbeabsichtigte Herausforderung mit Freude anzunehmen. »Du suchst also Gardinenstangen?«, fragte er sie.

Beth sah sich um. Die Mitarbeiter waren immer noch verschollen. Sie wollte nicht mehr Zeit als nötig in den dummen Einkauf investieren und da sich dieser Casanova förmlich aufdrängte … »Oder ein paar Rollos. Ganz egal. Hauptsache es verdeckt die Fenster.«

»Bist du gerade umgezogen?«

Sie sah ihn wartend an.

»Na gut. Wie breit sind denn deine Fenster?«

»Keine Ahnung. Vielleicht in etwa so?« Sie breitete die Arme aus.

»Du hast sie nicht mal ausgemessen?« Lukas lachte.

Beth schüttelte verschämt den Kopf. Sie hatte weder Zeit noch Lust gehabt, sich mit diesen Dingen zu befassen.

»Ist nicht schlimm. Komm einfach mit!« Lukas ging voran, wobei er sich mit einem Schulterblick versicherte, dass sie ihm wirklich folgte. Ganze drei Mal.

Er bog in einen der Gänge ab und blieb an dessen Ende stehen. »Das ist es, was du brauchst.«

Als er ihr stolz eine Gardinenstange übergab, fühlte Beth sich unfreiwillig an einen Hund erinnert, der seinem Herrn ein Stöckchen präsentierte. Sie verbannte das Bild hastig aus dem Kopf.

»Die sind auf verschiedene Maße ausziehbar. Du spannst sie einfach in dein Fenster und musst weder Bohren noch was verschrauben. Ist kinderleicht.«

Im Ernst? Jetzt war sie Lukas wirklich dankbar.

»Du brauchst natürlich immer noch die Vorhänge. Rollos wären eine bessere Lösung. Da vorne gibt es die mit Klemmträgern. Du kannst sie einhaken oder montieren, ganz wie du willst.« Er grinste. »Wenn du die kaufst, solltest du dir aber sicher sein, wie breit die Fenster sind.«

»Die Stangen sind perfekt. Danke, das war wirklich nett.«

»Gern!« Lukas sah auf die Uhr, schien für den Bruchteil eines Augenblickes irritiert und trat dicht auf sie zu.

Ehe Beth sich versah, hatte er ihr einen Kuss gestohlen. Zu allem Überfluss nicht auf die Wange, sondern direkt auf den Mund. Und jetzt verschwand der Kerl auch noch in aller Ruhe.

»Ruf mich an!« Lukas sah sich um und zwinkerte ihr zu.

Dieser gewiefte Anwalt, dachte Beth, während er um die Ecke bog. Der Kerl hatte die Zeit erneut sehr gut genutzt.

23

Unbehelligt von der Arbeit hatte Jürgen in den letzten Tagen viel zu viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Er wusste, dass sie nötig waren, um die Behandlung auf den Zustand seines Körpers abzustimmen, der offensichtlich desolater war, als anfangs noch gedacht. Also hatte er sich notgedrungen in diesem zweckmäßigen Klinikzimmer eingerichtet und bis heute ausgeharrt. Inzwischen fühlte er sich kränker, als er je gewesen war – und das hatte nichts mit seinem Krebs zu tun. Er hasste Krankenhäuser mindestens genauso sehr, wie all die Ärzte, die ihn täglich quälten. Weder dem Senfgelb an den Wänden seines Einzelzimmers noch dem bunten Blumenstrauß seiner geliebten Frau war es gelungen, über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass es hier nach Tod und Sterben roch. Heute Nachmittag hatte das Klopfen an der Tür endlich eine Traube überraschend junger Mediziner angekündigt, die ihn vor dem Krankenbett umzingelt hatten. Ihr mechanisch aufgesagter Vortrag, dessen Thema sein maroder Körper war, hatte ihn so sehr verängstigt, dass er ihrem Fachchinesisch nicht vollständig hatte folgen wollen.

Als Pieter eine Stunde später in sein Krankenzimmer trat, wurde Jürgen wieder leichter um die Brust. Zum Glück waren die Quacksalber längst fort.

»Na? Hast du die Untersuchungen überstanden?«, frage Pieter in diesem speziellen Ton. – Der Junge hatte Mitleid, das Jürgen ihm gerne ausgetrieben hätte.

»Ja! Und trotzdem bin ich noch am Leben.«

»Hat schon jemand mit dir über die Befunde und das Vorgehen gesprochen?«

Jürgen nickte vielsagend. Im Grunde wollte er die Klinik auf dem schnellsten Weg verlassen und nicht auch noch mit Pieter über diesen Unsinn reden.

»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was hat er denn gesagt?«

»Er? Sie! Es waren gleich fünf elende Weißkittel.« Seine Stimme war noch ungewohnt belegt. »Einen davon habe ich hier sogar schon mal gesehen. Vor einer halben Stunde sind sie wieder raus. Ich habe mich gefühlt, wie ein dressierter Affe! Das ist doch kaum zu glauben!«

»Das hier ist ein Lehrkrankenhaus.« Pieter lächelte verhalten. »Sicher waren das nur Studenten. Sag schon, wie ist der Stand der Dinge?«

Das Thema nervte. Jürgen schwieg sich aus.

»Jürgen, ich will das wirklich von dir hören.«

»Der Tumor ist nicht heilbar«, presste er hervor, damit der Junge endlich Ruhe gab. »Sie sagen, ich soll bald mit einer Therapie beginnen, damit das Ding nicht weiterwächst.«

»Hat er also schon gestreut?«

»Die haben gesagt, ich kann nach Hause.« Er deutete beiläufig auf den Brief, der ungelesen auf dem Nachttisch lag. »Den haben sie dagelassen. Du kannst ihn haben. Ich habe nicht mal die Hälfte von dem Quatsch verstanden, den sie mir vorhin erklären wollten. Und hier, sieh dir das an! Auch die Prospekte haben sie mir dagelassen: Inkontinenz, Krebs und Sexualität. Was soll der Mist? Sollen die mich etwa trösten?«

»Die sollen dich unterstützen.« Pieter griff nach dem Entlassungsbrief.

»Klar, dass ausgerechnet du das sagst. Du steckst mit denen ja auch unter einer Decke.«

Pieter sah auf, doch kommentierte seine Worte nicht. Natürlich nicht! Der Junge sprach nicht über die Vergangenheit. Es war eine bedenkliche Entwicklung, an der Jürgen wohl einen Anteil hatte. Im Grunde war es eine alte Schuld, die er noch nicht begleichen konnte, wenngleich er darauf hoffe, es in diesem Leben noch zu tun. »Die haben gesagt, sie wollen operieren.« Er packte seine Tasche, um schnellstmöglich zu verschwinden. »Mich bestrahlen und irgendwas mit meinen Hormonen anstellen.«

Pieter nickte. Scheinbar konzentrierte er sich immer noch auf diesen dummen Brief. Was er darin las, würde ihm sicher nicht gefallen.

»Und? Was wirst du tun?«, wollte der Junge von ihm wissen. »Du gehst doch morgen gleich zum Arzt?«

Jürgen tat, als hätte er es nicht gehört. Immerhin war er steinalt und beinahe tot – es stand ihm durchaus zu, ein Ärgernis zu ignorieren.

»Jürgen?«

»Hm.«

»Was wirst du tun?«

»Ich lasse mich jetzt von dir nach Hause fahren, trinke dort mit Ella eine schöne Tasse Tee und erhole mich von diesem Unsinn hier.«

»Das klingt nach einem guten Plan. Allerdings habe ich von deinem Krebs gesprochen.«

Jürgen griff nach der Zeitschrift, die auf dem Nachtisch lag, dann nach den Blumen seiner Frau.

»Du wirst dich doch behandeln lassen, oder nicht?«

»Natürlich nicht!« Pieter konnte eine Nervensäge sein. Manchmal sogar eine echte Plage. »Wozu meinen Körper diesen Qualen aussetzen, wenn ich am Ende trotzdem sterben muss? Das ist doch eine dumme Rechnung, meinst du nicht?«

»Wie kommst du denn auf diesen Quatsch? Dass der Krebs gestreut hat, heißt doch nicht, dass du auch daran stirbst. Die Behandlung wird den Tumor daran hindern, sich noch weiter auszubreiten, und dich bestenfalls auch heilen. In jedem Fall wirst du noch Zeit …«

»Zeit wofür? Um meine letzten Monate im Krankenhaus mit dem Kopf über der Kloschüssel zu hängen? Oder hundemüde im Bett herum zu vegetieren? Um mich den ganzen Tag mit Ärzten rumzuärgern und mit denen über Krebs zu sprechen? Nein! Die Zeit, die mir noch bleibt, wird sich ganz sicher nicht um dämliche OPs und sinnlose Bestrahlungen drehen.«

»Jürgen, du hast mehr als ein paar Monate vor dir. Zumindest, wenn du dich zusammenreißt! Wahrscheinlich stirbst du eher an deiner Sturheit als an diesem Krebs. Die Symptome, die du hast, können durch die Therapie …«

»Ich lasse mir meinen Lebensabend nicht von Ärzten ruinieren, die regelmäßig Gift in meine Adern pumpen! Lieber trete ich früher ab – oder mache mich auf die Suche nach einem Arzt, der mir das Sterben leichter macht.«

Pieter starrte ihn ungläubig an. Endlich war der Junge still.

»Okay. Jürgen, du hast Angst. Deshalb übertreibst du gerade. Doch hör jetzt bitte auf, dich in die Sache reinzusteigern.«

Jürgen lachte bitter auf. Er hätte schwören können, dass Pieter das Gespräch bestimmen und die Nase wieder einmal tief in Dinge stecken würde, die nur ihn und Ella etwas angingen.

»Natürlich ist Krebs eine üble Sache«, fuhr der Junge fort, »und die Behandlung wird mit Sicherheit nicht angenehm. Doch du kannst damit alt …«

»Hast du mal gefragt, wie es den Chemo-Opfern geht? Das wird mir nicht passieren. Was macht der Fall? Kommst du zurecht?«

»Du lenkst vom Thema ab.«

»Natürlich tue ich das. Ist diese neue Staatsanwältin mittlerweile ruhiger?«

»Im Gegenteil. Wir haben uns überworfen.«

Das hatte Jürgen kommen sehen. Womöglich könnte er den Jungen unterstützen und ihm während der Ermittlung ein Berater sein …

»Jürgen, bitte hör auf deine Ärzte und lass dich behandeln.«

»Zum Teufel, ich entscheide, was mit mir passiert! Alle wollen wissen, wie es mit dem Tumor weitergeht. Als gäbe es kein anderes Thema mehr! Selbst meine Frau behandelt mich seit Tagen wie ein rohes Ei.«

»Ella will dir helfen. Du musst darüber reden, wie …«

»Das muss ich nicht! Und um deine Hilfe habe ich nicht gebeten. Mein Zustand macht dir Angst, Pieter. Genau wie mir. Trotzdem steht es dir nicht zu, mir zu erklären, wie ich leben oder sterben soll.« Pieter lag die nächste Predigt bereits auf den Lippen. »Geh«, gebot er ihm daher. »Ich bin müde und genau genommen möchte ich nicht länger über dieses Thema sprechen. Ich werde Ella anrufen oder ein Taxi nehmen. Na los. Sicher hast du viel zu tun. Ein Mordfall löst sich schließlich nicht von selbst.«

»Du wusstest es, nicht wahr?«, flüsterte der Junge ohne Ton, woraufhin Jürgen wusste, dass es um Elisabeth, die Schwester seiner toten Freundin, ging. Dass Pieter es zur Sprache brachte, konnte nur ein Fortschritt sein.

»Ich habe es nicht eingefädelt, falls es das ist, was du denkst. Bis sie bei uns gelandet ist – ein Zufall, Pieter! –, hatte ich keine Ahnung, dass sie existiert.«

Der Junge schwieg, was ihn nicht wunderte.

»Hast du es ihr bereits gesagt?«

Nun stand Pieter kopfschüttelnd auf. Es schien, als wäre er erzürnt und wolle es ihm sagen. Doch Pieter tat es wieder nicht und ging.

24

Seit heute Morgen hingen dunkelblaue Quellwolken über der Stadt, aus denen nun auch leiser Donner grollte. Pieter schlich zerknirscht über den Klinik-Campus, haderte mit Jürgen und versuchte, dessen Starrsinn zu verstehen.

»Warte!«, rief eine vertraute Stimme.

Er wandte sich verwundert um und blieb kopfschüttelnd stehen. Beth war noch Meter weit entfernt.

»Hattest du noch Fragen an die Mitarbeiter?«, fragte sie ihn außer Atem, als sie endlich vor ihm stand.

»Nein. Was machst du hier?«

Sie sah ihn fragend an. »Das Alibi von Kubiak überprüfen, so wie mit dir besprochen.« Sie holte Luft. »Saskia hat noch einen Termin. Ich habe ihr den Wagen … Warte mal, du bist nicht dienstlich hier, nicht wahr? Du warst bei Wenzel, oder nicht? Wie geht es ihm?«

Auch wenn ihm wirklich nicht zum Lachen war, musste er genau das tun. »Hör bitte auf, das jedes Mal mit mir zu machen.« Wenn Saskia den Wagen hatte, hatte Beth nun keinen mehr. Er musste ohnehin noch einmal ins Büro. »Na komm, ich nehme dich mit.«

Beth ging bereitwillig neben ihm her.

»Und? Habt ihr was rausgefunden?« Pieter fragte nur pro forma, da er in Gedanken längst wieder bei Jürgen, diesem sturen alten Esel war.

»Alles, wie er gesagt hat«, antwortete Beth. »Kubiak hat ein Alibi. Selbst auf dem Totenschein steht seine Unterschrift.« Sie blieb unvermittelt stehen. »Also offensichtlich bist du ziemlich durch den Wind. Willst du mir nicht einfach sagen, was mit Wenzel ist?«

Er zögerte. »Warum magst du Ärzte nicht?«

»Wer hat gesagt, dass das so ist?«

»Du weißt genau … Ach komm schon, Beth! Erzähl mir doch einfach warum. Vielleicht hilft es mir weiter.«

»Also, wenn ich ein Problem mit Ärzten hätte, dann vielleicht, weil sie sich oft für etwas Besseres halten und Patienten für gewöhnlich nicht in die Behandlung einbeziehen. Oder weil sie vorschnell urteilen und sich nicht für das entschuldigen, was sie verbocken. Das ist dürftig. Sie machen Menschen Angst und merken es nicht mal. Wenn möglich, sollte man Wehwehchen ignorieren und diese Stümper meiden.«

»Wow!« Dass Beth so schimpfen konnte, hätte er ihr gar nicht zugetraut. »Ich wüsste gern, wie du zu dieser Haltung kommst.«

»Ich habe ganz allgemein gesprochen.«

»Mm.« Pieter musste trotz der schlechten Laune schmunzeln, wägte ab und gab sich einen Ruck. »Was, wenn ein Patient so große Angst vor Ärzten hat, dass er sich lebenswichtigen Behandlungen entzieht? Ganz allgemein gesprochen, meine ich.«

Sie runzelte die Stirn. »Gib ihm, was er nicht hat.«

Was zum Teufel meinte Beth damit?

»Kontrolle. Finde etwas, dass ihm dabei hilft, sich seiner Lage gegenüber nicht so ausgeliefert fühlen zu müssen.«

»Aber das ist er nicht! Genau das ist der Punkt. Er ist nicht hilflos. Wenn er allerdings so weitermacht, dann wird er es bald sein. Es ist doch albern, wie er sich verhält.«

»Nein, das ist es nicht. Er hat nur Angst und dazu jedes Recht der Welt. Es mag ja sein, dass er nicht hilflos ist, aber er fühlt sich so. Geh darauf ein. Vielleicht stimmt ihn das um.«

Wie sollte er das anstellen? Pieter schwieg und dachte nach, während das ferne Donnergrollen lauter wurde. »Ich habe wirklich keinen blassen Dunst, wie ich das machen soll. Vielleicht … Beth, könntest du eventuell …?«

Ein Passant jagte an ihnen vorbei und rannte Beth beinahe um. »Oh Pardon!«, entschuldigte er sich.

Doch kein Passant; dem weißen Kittel nach zu urteilen, war der Mann Arzt. Nun war er stehen geblieben und sah Pieter an. »Pieter Anderson? Ist das denn möglich? Was für eine Überraschung, Sie nach all den Jahren hier zu sehen.«

Dr. Schlüter … er war ziemlich gealtert, weshalb Pieter das vom Stress gezeichnete Gesicht des eigentlich gar nicht so alten Mannes nicht sofort erkannt hatte. Er schluckte. Warum traf er Schlüter ausgerechnet jetzt?

»Sie haben sich kaum verändert«, fuhr der fort.

»Ja.« Er spürte, wie Beths Blick ihn neugierig durchbohrte, und vermied es ganz bewusst sie anzusehen. »Und Sie sind wie immer auf dem Sprung?«

»In der Tat.« Wie zur Verdeutlichung des Umstandes sah Schlüter auf die Uhr und trat dabei von einem Bein aufs andere. »Ich bin jetzt Chefarzt. Notfallmedizin. Und daher dauerhaft in Eile.«

Pieter atmete erleichtert auf. Sicher würde Schlüter jeden Moment gehen.

»Doch die Minute für Sie nehme ich mir. Erzählen Sie mal! Wohin hat es Sie verschlagen? Glauben Sie ja nicht, ich hätte Ihnen verziehen, dass Sie damals so überstürzt gegangen sind. Mein bestes Pferd im Stall. Wie lange ist das her? Acht Jahre?«

»Ein wenig mehr.« Es waren über zehn. Er betete nervös darum, dass Schlüter endlich ging.

»Tut mir leid, meine Liebe!«, wandte der sich allerdings an Beth und Pieter ließ die Hoffnung fahren. »Ich wollte Sie nicht umrennen«, fuhr er fort. »Ihr Mann ist talentiert. Egal wie hektisch es auch war, Pieter behielt einen kühlen Kopf. Ich hätte ihn damals gern dauerhaft für uns gewonnen, doch offensichtlich wollte er das nicht.«

Ein Blitz zuckte am Himmel auf.

»Kann ich Sie werben?«, wandte sich Schlüter erneut an ihn. »Ich suche für die Notaufnahme einen neuen Oberarzt. Über freie Wochenenden und Bereitschaftsdienste lässt sich reden.«

Pieter blockierte innerlich. Es war schlimmer als an jenem Morgen nach dem Leichenfund.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, half ihm Beth aus, »Elisabeth Wagner. Nur eine Kollegin, nicht die Frau.«

Schlüter runzelte die Stirn und Pieter wusste ganz genau warum. Die Situation war zu absurd. »Elisabeth?«

»Wagner, ja.«

»Nun … Und ihr Fachgebiet ist … Pädiatrie?«

»Mord!«, entgegnete sie amüsiert. Beth ahnte ja auch nicht, wen Schlüter in ihr sah.

»Ach, Rechtsmedizin?« Schlüter zog die Brauen hoch und wandte sich an ihn. »Warum um alles in der Welt ist sie denn dort gelandet?«

Pieter fuhr sich durchs Haar. Inzwischen hatte er sich notdürftig gefasst. »Ich habe vor einer Weile aufgehört«, erklärte er, so knapp es ging.

»Ach was?« Schlüter war nachvollziehbar irritiert. »Das tut mir leid. Aber warum …«

Ein Pager tönte. Schlüter schielte flüchtig auf die Nummer, nickte ihnen zu und eilte davon.

Es begann zu schütten. Der Regen war eiskalt.

Beths Augen offenbarten tausend Fragen. »Wann wolltest du mir sagen, dass du Arzt bist?«

»Das bin ich nicht.« Die Jahre seines Studiums kamen Pieter vor wie ein absurder Traum. »Ich habe kurz nach dem Studium aufgehört. Wenn man so will, habe ich nie praktiziert.«

»Das heißt, du hast auch einen Doktortitel?«

»Ja.« Der Regen rann ihm durch das Haar. »Doch das sind nur zwei Buchstaben, mehr nicht. Außerdem fehlt mir die auffällige Persönlichkeit, die du den Ärzten doch so gerne unterstellst.«

»Ach ja? Womöglich hast du die ja auch. Man merkt’s ja selber nicht. Warum hast du es mir nicht erzählt? Gelegenheit dazu gab’s ja genug.«

Auch wenn es unmöglich schien, verstärkte sich der Regen, bis er einer Sintflut glich. Pieter beschleunigte seine Schritte und rannte auf den Parkplatz zu.

Während Beth ihren durchweichten Mantel in den Fußraum sinken ließ, stieg er schon in den Wagen.

»Hatte das etwas mit dem Mord an deiner Verlobten zu tun?«, fragte sie und nahm neben ihm Platz. »Hast du es deshalb nicht erwähnt?«

»Was denkst du wohl?«

Beth war, genau wie er, klitschnass. Einige Tropfen aus ihrem Haar fanden den Weg auf ihr Gesicht. Pieter griff seufzend ins Handschuhfach, reichte ihr das letzte Taschentuch und trocknete sich selbst mithilfe eines Ärmels ab, was aber nicht viel brachte.

Er wusste, dass sie keine Ruhe geben würde. »Ich habe Linda während meines Studiums kennengelernt«, erklärte er daher. Das Thema spannte ihn wie immer an. Im Grunde wollte er jedoch, dass Beth davon erfuhr. »Sie hat ein paar Semester unter mir studiert. Wir kamen zusammen und hatten ein paar wundervolle Jahre. Ich machte meinen Abschluss, dann …«

Beth band ihr nasses Haar zu einem lockeren Knoten hoch, woraufhin Pieter in ihr unerwartet Lindas Abbild wiederfand. Sie hatte ihre Mähne stets auf diese Art getragen. – Wie ein Stich ins Herz, so fühlte sich das an. »Damals lief alles richtig gut«, zwang er sich fortzufahren. Er atmete tief durch, wandte sich von Beths verwirrenden Anblick ab und sah stattdessen konzentriert den Regentropfen dabei zu, wie sie unglücklich von der Scheibe perlten. »Bis meine Mutter an den Folgen eines Unfalls starb. Linda und ich haben lange darüber nachgedacht. Dann haben wir die Wohnung renoviert und zogen ein. Es waren nicht einmal drei Monate, bis sie …« Die Erinnerungen an das Blutbad drohten ihn zu übermannen, sodass er sie so schnell es ging vertrieb. »Ich nahm mir eine Auszeit und verfolgte die Ermittlungen. Als ein Jahr um war, legten sie den Fall ohne Ergebnis zu den Akten. Einer der berühmten zehn Prozent. Ich war so sauer.« Womöglich war er es noch … »Dann kam mir die glorreiche Idee, dass ich bei der Suche nach dem Mörder wohl erfolgreicher gewesen wäre, als dieser unfähige Haufen von Ermittlern.« Er lachte bitter und sah auf.

Beth blickte ihn mit schwer deutbarer Miene an. Es tropfte immer noch aus ihrem Haar.

»Also schmiss ich meinen Job am Klinikum und bewarb mich bei der Polizei. Den Rest kannst du dir denken.«

Das Hämmern des Regens lenkte Pieter eine Weile von der angespannten Stille ab.

»Hast du es je bereut?«, fragte Beth irgendwann.

»Nicht oft. Und wenn, dann nie sehr lange.« Eine glatte Lüge. Denn er hatte mehr als einmal darüber nachgedacht und tat es manchmal noch. »Weißt du, das Schicksal der Patienten ging mir viel zu nahe. Sicher wäre es mir damit nicht sehr lange gut gegangen oder ich wäre abgestumpft, wer weiß das schon genau. Für irgendetwas wird es gut gewesen sein, dass ich jetzt hier und nicht woanders bin.« Zumindest redete er sich das seither ein.

Der notdürftige Knoten in Beths Haaren löste sich. Er dachte an sein altes Leben und an das, was daraus hätte werden können … Beth versteifte sich und hielt den Atem an, woraufhin Pieter erst registrierte, was er tat: Als sei es die normalste Geste der Welt, strich er ihr ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. – Und tat es noch. Herrgott! »Es tut mir leid!«, rief er erschrocken und zog seine Hand sofort zurück. »Ich … Das war … Bitte entschuldige, das war vollkommen unpassend. Ich …« Er war restlos verwirrt. Der Regen prasselte noch immer lautstark auf die Scheiben seines BMWs.

»Also«, räusperte sich Beth, »kein Ding! Offensichtlich habe ich dich an sie erinnert.« Sie zog die Brauen zusammen. »Er hat gedacht … dein komischer Bekannter hat gedacht, ich wäre sie? Deshalb hat er auch gesagt … und deshalb war er so verwirrt!«

Pieter nickte und bemühte sich, sich zu sortieren.

»Also Notfallmedizin«, meinte sie schließlich.

»Ja. Eigentlich Anästhesie. Palliativmedizin hat mich von Anfang an gereizt und dafür … Na ja, ist lange her. Beth, das eben war …«

»Das sind die Guten, oder nicht?«

Offensichtlich hatte sie beschlossen, so zu tun, als wäre nichts passiert. Er wagte es, sie fragend anzusehen.

»Ich meine, die ohne auffällige Persönlichkeit. Du bist also fein raus.«

Pieter konnte noch nicht lachen, doch er versuchte es dankbar.

»Wissen die Kollegen auch davon? Ich meine von Linda und …«

»Nein. Jürgen ist der Einzige, der davon weiß … Ist schon verrückt. Man hört auf, davon zu reden, wird nach einer Weile selber nicht mehr darauf angesprochen und dann geht das Leben weiter. Beinahe so, als wäre nichts passiert.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Beth, doch erklärte es ihm leider nicht. Dann schien ihr etwas einzufallen. »Bevor dein Ex-Kollege eben in mich reingerannt ist, wolltest du mich etwas fragen, oder nicht?«

Er nickte, irritiert davon, wie schnell sie zur Routine überging. Womöglich sollte er einfach dasselbe tun.

»Wenn es darum ging, ob ich mit Wenzel sprechen kann, mach ich das gern. Gib mir nur etwas Zeit. Und vor allem: Erzähl ihm nicht, dass du das angeleiert hast.«

»Deal!« Er war unsagbar dankbar, startete – wenngleich noch unbeholfen – seinen Wagen und fuhr los. »Du bist mir noch eine Revanche beim Billard schuldig«, schlug er beiläufiger vor, als es der Wahrheit entsprach.

Beth blickte ohne Regung aus dem Seitenfenster. Also hatte sie nicht vor, auf seinen Vorschlag einzugehen. Ein Teil von Pieter war enttäuscht. Er schaltete das Radio ein und hakte diese Sache ab.

»Mittwochs passt es in der Regel gut«, meinte sie aus heiterem Himmel, als er, am Ziel angekommen, nach einem Parkplatz suchte.

Hatte Beth etwa die letzten zehn Minuten über seinen Vorschlag nachgedacht?

»Doch mach dir keine falschen Hoffnungen«, fuhr sie frech grinsend fort. »Du wirst das nächste Spiel haushoch verlieren.«

SPROTTENBLUT - Wagner & Anderson ermitteln in Kiel

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