Читать книгу Fiona - Liebe - Zsolt Majsai - Страница 8

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„Verfluchte Scheiße!“

Mir fällt ein, dass das exakt meine Reaktion gewesen ist, als ich die Spinnenwelt eine Etage höher betreten hatte. Unwillkürlich muss ich kurz auflachen.

„Sollte ich mir Sorgen machen?“, erkundigt sich Katharina mit gerunzelter Stirn. „Ist das ein Anzeichen beginnender Hysterie?“

„Nein, alles gut. Zumindest was meinen Gesundheitszustand betrifft. Mir ist nur eingefallen, wie ich reagiert habe, als ich in der Welt über uns aus dem Ewigen Turm getreten bin und die Schienen sah.“

„Wie hast du denn reagiert?“, fragt Loiker.

„Verfluchte Scheiße!“

Erst starren sie mich entgeistert an, dann lachen sie beide kurz.

„Zumindest kann ich dich verstehen“, sagt Katharina anschließend kopfschüttelnd. „Wo sind wir hier gelandet?“

Das ist allerdings eine wirklich gute Frage. Von Mittelalter ist nichts zu sehen, Spinnennetz oder Schienen auch nicht vorhanden, dafür gibt es offenbar Licht und Pflanzen. Rote Pflanzen. In allen möglichen Rottönen leuchtende, glänzende, glitzernde Pflanzen.

„Na ja“, bemerke ich nach einer Weile, „zuerst kam die Mittelalter-Welt. Dann die Modelleisenbahn-Welt. Und das ist halt die rote Welt.“

„Modelleisenbahn?“, hakt Loiker amüsiert nach.

„Nicht so wichtig. Wer auf der Erde aufgewachsen ist, versteht das, sonst ist es nur irritierend, glaube ich.“

„Stimmt“, sagt Katharina nickend. „Jedenfalls gibt es hier Licht von oben, anders als bei der Modelleisenbahn. Aber ich sehe keinen Himmel, keine Sonne, nichts, wo das Licht herkommen könnte. Und dass es Pflanzen gibt, ist auch unlogisch.“

„Die gab es aber schon bei den Augenlosen, ohne Sonne“, bemerke ich.

„Ja, aber nicht so üppig wie hier. Das ist ja der reinste Dschungel. Nur eben rot statt grün.“

„Ihr kennt grüne Pflanzen?“, fragt Loiker. „Die gibt es auch in den Bahnhöfen, sie brauchen allerdings spezielle Lampen.“

„Haben wir gesehen, bei Niasman zu Hause. Auf der Erde wuchsen sie wie diese roten hier, in riesigen Wäldern.“

Wir lassen unsere Blicke schweifen. Hinter uns die Tür zum Turm, die sich von selbst geschlossen hat, wie sie das immer tut. Vor uns ein rotwuchernder Dschungel. Die Pflanzen kommen mir alle unbekannt vor, nicht nur wegen der Farbe. Das beruhigt mich ein wenig. Gäbe es hier Pflanzenarten, die ich kenne, würde mich das wohl nervös machen.

„Also gut, ich nehme an, wir wollen nicht hier stehen bleiben“, stellt Katharina fest. „Ich hoffe irgendwie, dass Sarah nicht als eine Art Jane durch diesen Wald turnt. Das würde ich nicht verkraften, glaube ich.“

„Ich auch nicht“, erwidere ich erschaudernd.

„Auf diese Sarah bin ich sehr gespannt“, bemerkt Loiker.

„Sie wird dir gefallen. Angeblich sind wir uns ähnlich darin, Nervensägen zu sein, nur dass sie mehr reden kann als ich.“

„Noch mehr?!“ Loiker reißt die Augen auf. „Oh, entschuldige, das war nicht so gemeint.“

„Doch, war es. Aber ich bin es gewohnt. Los, gehen wir.“ Ich wende mich ab und marschiere los. Klar bin ich sauer und nicht mal ansatzweise daran gewöhnt. Nur weil Thomas der Meinung ist, ich wäre auch so eine Nervensäge, heißt das noch lange nicht, dass es auch stimmt. Loikers Reaktion geht allerdings in die Richtung. Und das gefällt mir nicht.

Katharina holt mich zuerst ein.

„Hey, läufst du schon wieder davon?“

Ich bleibe abrupt stehen. „Nein, natürlich nicht. Wollt ihr ewig da herumstehen?“

Sie packt mich an den Schultern und dreht mich zu sich. „Schätzchen, du willst ja wohl nicht mich verarschen? Das hätte vielleicht geklappt, als ich mich noch nicht erinnert habe.“

„Ja, ja. Ist ja schon gut. Ich mag Sarah ja, wie du weißt. Aber sie ist wirklich eine Nervensäge und ich will nicht so sein wie sie.“

„Bist du ja auch nicht.“

„Wirklich nicht?“ Ich sehe sie misstrauisch an. „Hör zu, ich bin echt froh, dass wir es in den Turm geschafft haben und du dich an alles erinnerst und bei mir bist. Wirklich. Gleichzeitig hat es mich daran erinnert, dass die Scheißgötter unser Universum einfach gelöscht und nur wir vier überlebt haben. Das heißt, wir wissen nicht einmal, was mit Sarah und Thomas ist. Das kotzt mich tierisch an, dadurch bin ich wohl etwas dünnhäutig.“

„Ist doch okay und auch verständlich“, erwidert Katharina. Sie zieht mich an sich. Ich umarme sie und presse mein Gesicht in ihre Halsbeuge.

Und ich werde nicht weinen. Nein. Nein. Nein!

Tatsächlich gelingt es mir, die Tränen zu unterdrücken, und hebe den Kopf wieder, um Loiker anzusehen.

„Sorry.“

Er winkt ab. „Nach dem, was du vorhin erzählt hast, bewundere ich dich, dass du alles so gut verkraftest. Die meisten wären schon längst durchgedreht, denke ich. Dass du auch mal Nerven zeigst, ist für mich absolut nachvollziehbar.“

Ich grinse verkniffen. „Jetzt hast du geredet wie mein Vater. Ach, was solls. Lasst uns diese Welt erkunden und sehen, ob und wen wir hier finden.“

„Eine gute Idee“, sagt Katharina nickend.

Wir gehen vor, ihren Arm legt sie dabei um meine Schulter, ich umfasse ihre Taille, mit der Hand auf ihrer Hüfte. Loiker geht hinter uns her, und das ist auch gut so, denn er trägt noch immer den Spinnenanzug, der wie eine zweite Haut anliegt. Wie eine zweite, ungesunde Haut. Nur sehr eng. Wie die Haut halt ist.

„Irritiert dich der Anzug eigentlich auch so?“, erkundige ich mich flüsternd bei Katharina.

„Nur wenn du ihn trügest“, erwidert sie auch flüsternd.

„Warum sollte dich das irritieren?“

„Warum irritiert er dich jetzt? Du kennst Loiker doch nackt.“

Ich mustere sie fragend.

„Stimmt das etwa nicht?“

„Doch. Und du bist immer noch eifersüchtig.“

„Na, wenn er dich irritiert!“

„Der Anzug, nicht Loiker!“

„Was tuschelt ihr da eigentlich?“, erkundigt sich der Erwähnte von hinten.

„Über dich“, antwortet Katharina. „Du brauchst neue Kleidung, unser Schätzchen kann sich nicht konzentrieren.“

„Arschloch!“ Ich starre sie empört an, aber sie grinst. Und gibt mir einen Kuss.

Das war vielleicht keine gute Idee, Loiker reagiert. Und in dem Anzug sieht man das sofort.

Er wird rot. „Entschuldigt, ich ...“

Bei dem Anblick kann ich nicht ernst bleiben und wende mich lachend ab. „Sorry, ich … Katharina, sag was.“

„Gurke“, sagt Katharina.

„Wie bitte?“

„Ich habe was gesagt. Oder sollte ich was sagen?“

„Wieso ausgerechnet Gurke?!“

Sie zuckt die Achseln. „Musste halt daran denken. Ist das denn so abwegig?“

„Was ist eine Gurke?“, fragt Loiker verwirrt nach und löst damit bei mir den nächsten Lachanfall aus.

Während ich damit beschäftigt bin, wieder halbwegs normal atmen zu können, versucht Katharina, ihm die Gurke zu erklären. Das macht es mir nicht gerade leichter. Doch irgendwann habe ich mich wieder beruhigt und wir gehen weiter.

Loiker ist immer noch hinter uns. Katharina und ich bemühen uns, nicht in seine Richtung zu schauen. Irgendwie tut er mir leid. In der anderen Welt, in der Dunkelheit, und während wir mit Überleben und der Suche nach dem Turm beschäftigt gewesen waren, interessierte uns der Anzug nur sehr bedingt, aber jetzt und bei diesem seltsamen roten Licht, das von überall her zu kommen scheint, wie mir inzwischen aufgefallen ist, entfaltet der Anzug seine volle Wirkung. Auf mich jedenfalls.

Scheiße.

„Vielleicht gibt es hier gar keine Menschen“, sagt plötzlich Loiker. „Ich meine, muss es denn überall Menschen geben?“

„Nein, muss es nicht“, erwidere ich und vermeide es, ihn anzusehen. „Aber um ehrlich zu sein, bezweifle ich sehr, dass die Götter uns in eine menschenleere Welt schicken würden. Insbesondere mich!“

„Wieso insbesondere dich?“

„Weil ich anscheinend ihre liebste Spielfigur bin? Ich meine, wie viele Menschen können von sich behaupten, dass sie in einem neuen Universum weiterleben dürfen, aufgrund ihrer besonderen Verdienste um ein gelöschtes Universum? Natürlich weiß ich nicht, ob sie das nicht ständig machen, doch irgendwas sagt mir, dass ich ein Präzedenzfall bin. Aber trotzdem ist es gut möglich, dass ich mir das nur einbilde.“

„So hört sich das in der Tat wahrscheinlicher an, dass es hier Menschen gibt“, sagt Loiker nachdenklich. „Aber wo sind sie?“

„Hallo? Ich bin keine Göttin! Jedenfalls keine allwissende.“

Auf Loikers fragenden Gesichtsausdruck hin sagt Katharina grinsend: „So wird halt Frau buchstabiert. Kennst du das nicht? Und pass auf, was du jetzt sagst.“

Loiker ist schlau, er sagt gar nichts. Das liegt möglicherweise weniger an seiner Intelligenz als an seiner Neugier, denn er beobachtet einen Schmetterling, der sich uns nähert. Ein ziemlich großer Schmetterling. Eigentlich finde ich Schmetterlinge gut, sind schöne … Wesen. Bunt, elegant.

Dieser hier hat etwa die Größe meiner Hand und ist rot wie Feuer. Das finde ich dann wieder weniger schön. Eine richtige Signalfarbe, und möglicherweise hat sich dabei jemand etwas gedacht. Ganz abgesehen davon, dass ich es noch nie erlebt habe, dass ein Schmetterling so zielgerichtet auf jemanden zufliegt.

Auf mich, um genau zu sein.

Als ich trotz meiner Bedenken die Hand ausstrecke, setzt er sich auf sie.

Und dann wird es schmerzhaft. Verdammt schmerzhaft. Erst ist es ein Stich, der tut noch nicht so sehr weh. Er stammt definitiv vom Schmetterling. Dann wird es heiß in meiner Hand. Und dann beginnt es zu brennen wie Feuer.

„Verdammte Scheiße!“, rufe ich. „Das Biest hat mich gestochen!“ Ich starre meine Hand an, die sich nicht nur anfühlt, als würde sie brennen, sondern auch so aussieht. Fast jedenfalls.

Katharina zieht mein Schwert und teilt damit den erneut angreifenden Schmetterling sauber in zwei Hälften.

Das Feuer breitet sich in meinem Arm aus und wandert weiter nach oben. Es brennt nicht wirklich, aber es fühlt sich so an. Ich zerre das Hemd vom Körper und beobachte die starke Rötung, die bald meine Schulter erreicht.

„Was ist denn das?!“, ruft Loiker entsetzt.

„Keine Ahnung, aber es tut verdammt weh!“, erwidere ich. „Und da kommen noch mehr von den Biestern!“

Katharina wendet sich von mir ab und stürmt den Schmetterlingen entgegen. Es sind fünf oder sechs, so genau kriege ich das in meinem Zustand nicht mit. Akute Schwäche lässt mich auf die Knie fallen, nur beiläufig sehe ich, wie Katharina alle Angreifer erledigt.

„Das ist nur die eine Sorte“, sagt sie keuchend und hockt sich neben mir nieder. „Loiker, achte darauf, ob noch mehr kommen!“

Dann kümmert sie sich um mich. Ich lege mich auf den Rücken, spüre zugleich, dass sich die Ausbreitung des Schmerzes verlangsamt. Das spricht für irgendein hochwirksames Gift, das nicht tödlich zu sein scheint. Zumindest nicht für Menschen wie mich.

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass ich blute.

„Die Rötung geht wieder zurück“, höre ich Katharinas Stimme wie durch Watte.

„Und das war nur ein Stich“, bemerkt Loiker.

Ich setze mich langsam auf und beobachte erneut die Rötung, diesmal, wie sie sich sehr schnell wieder zurückzieht.

„Das könnte an deinem Kriegerkörper liegen“, stellt Katharina fest. „Lass dich mal lieber nicht stechen, Loiker, bei dir könnte es mehr Schaden anrichten.“

„Ich gebe mir Mühe!“

„Sehr gut. Hör auf mich und alles wird gut.“

Wir sehen beide Katharina irritiert an, doch sie lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Wohingegen ich mir immer sicherer bin, dass sie eifersüchtig ist. Das ist so bescheuert.

Katharina stützt mich beim Aufstehen und hilft mir, meine Bluse wieder anzuziehen. Meine Beine fühlen sich wie Fremdkörper an, aber in etwa tun sie inzwischen, was ich will.

Ich atme tief durch.

„Ich mag keinen roten Urwald mit Überraschungen“, bemerke ich dann. „Ich hoffe, mehr gibt es davon nicht.“

„Na, dann hoff mal.“ Das ist Loiker, aber er klingt irgendwie nicht gut. Also schauen wir ihn an, und er wiederum starrt etwas an. Als wir seinem Blick folgen, entdecken wir eine Wolke aus roten Schmetterlingen. Mit Kurs auf uns.

„Oh, oh“, sagt Katharina. „Funktionieren deine Feuerbälle hier auch?“

Das ist eine gute Frage und die Gelegenheit, es auszutesten, scheint auch günstig zu sein. Ich hebe also beide Hände, richte sie auf die angreifenden Schmetterlinge und schicke zwei Feuerbälle los. Danach hat die Wolke ein Loch und verkohlte Schmetterlinge purzeln auf den Boden. Als ich erfreut zwei weitere Feuerbälle auf die Reise schicke, entsteht wieder ein Loch - allerdings bevor die Feuerbälle ankommen.

„Das ist irgendwie nicht gut, glaube ich“, sagt Loiker, bleich geworden.

„Wir laufen!“, entscheide ich kurzfristig und setze den Plan auch sofort in die Tat um.

Meine Gefährten versuchen nicht einmal, darüber zu diskutieren. Sie folgen mir sogar sehr bereitwillig. Das Problem dabei ist Loiker, denn er ist zu langsam. Egal, wie durchtrainiert er ist, es reicht nicht. Katharina und ich würden die Wolke vermutlich abhängen, wenn wir allein wären.

„Eigentlich müsste er jetzt heldenhaft sagen, dass wir ihn zurücklassen sollen“, sagt Katharina.

Boah, ist die eifersüchtig!

„Wer?“, erkundigt sich Loiker.

„Du! Das machen die in Filmen immer so!“ Und als Loiker sie nur verständnislos anstarrt, winkt sie ab. „Vergiss es! Wir würden dich sowieso nicht zurücklassen!“

Nanu?

Katharina reicht mir mein Schwert, dann packt sie Loiker und hebt ihn mühelos hoch. Sieht lustig aus. Der große Loiker hängt wie ein Baby an Katharina. Im Spinnenanzug. Das ist echt verrückt.

Aber wir können auf diese Weise etwas schneller laufen. Nicht unsere volle Geschwindigkeit, denn ich bin noch geschwächt und Katharina trägt zusätzliche Last.

„Da, eine Treppe!“, ruft Loiker plötzlich und deutet schräg nach vorne.

Er hat recht. Das wird immer verrückter. Andererseits, eine Treppe bedeutet, dass es hier Wesen gibt, die sich ähnlich wie wir auf Füßen oder Händen vorwärtsbewegen. Das ist kein Nachteil. Vielleicht. Hoffentlich.

Katharina läuft mit Loiker vor, ich hinter ihnen her und schieße dabei zwei Salven Feuerbälle auf die Schmetterlinge ab. Anscheinend rechnen sie damit nicht mehr, jedenfalls purzeln wieder verkohlte Tierchen auf den Boden und wir gewinnen etwas Raum.

Wie können nur so schöne Wesen so biestig sein?

Katharina denkt nicht lange nach, als sie bei der Treppe ankommt, sondern rennt nach unten. Wahrscheinlich hat sie recht, hier oben ist es definitiv doof, da unten nur vielleicht. Okay, dafür könnte es noch doofer sein.

Ist aber gerade völlig egal.

Ich folge den beiden keuchend. Auf halber Strecke drehe ich mich um und will den schönen Wesen einheizen, bemerke aber erstaunt, dass sie uns nicht folgen. Als wäre am Anfang der Treppe eine unsichtbare Barriere, die sie nicht überwinden können.

„Okaaay ...“

„Was denn?“ Katharina bleibt ebenfalls stehen und blickt zurück. Dann zieht sie die Augenbrauen hoch und setzt Loiker ab. „Ist das gut oder schlecht?“

„Da bin ich mir nicht ganz so sicher“, erwidere ich nachdenklich. „Meiner Lebenserfahrung nach ist das tendenziell schlecht.“

„Du scheinst ein interessantes Leben gehabt zu haben“, stellt Loiker fest.

„Auf jeden Fall!“, bestätigt Katharina. „Also, ich schlage vor, wir gehen weiter. Hier abzuwarten ist keine sinnvolle Alternative.“

„Keine sinnvolle Alternative“, murmele ich.

„Was?“

„Nichts. Hast du früher auch schon so geredet?“

Sie starrt mich an. Dann grinst sie. „Vielleicht haben wir uns beide verändert. Du auf jeden Fall.“ Und packt meinen Zopf.

„Hey!“

„Gefällt dir das nicht?“ Sie berührt meinen Mund mit ihren Lippen. „Die Jahre bei den Augenlosen haben mich wohl abgehärtet.“

„Ja, klar. Und die Jahre auf dem Königshof mich verweichlicht.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Wieso nicht?“

„Du warst schon immer eine Königin, warum sollte dich dann ein Königshof verändern?“

„Wie, was? Ich war schon immer eine Königin?“

„Ich könnte auch Prinzessin sagen, aber das trifft es nicht ganz. Mein Schatz, können wir das später ausdiskutieren?“

„Klar“, knurre ich.

Mir fällt ein, dass ich Ähnliches in letzter Zeit schon öfter gehört habe. Selbst Leslie hatte gesagt, ich wäre eine Führungspersönlichkeit. Inzwischen glaube ich das ja auch, und die Jahre in Marbutan haben es bestätigt.

Aber jetzt wurde aus der Führungspersönlichkeit eine Königin, und das ist nicht dasselbe.

Ich beschließe, mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Wo und wann das auch immer sein mag.

„Oh, Lustwandler, seid uns gnädig gestimmt, denn wir ehren und respektieren Euch! Wir sind eigentlich unwürdig, Euren Anblick zu empfangen!“

Katharina und ich sehen uns an. Dann den eigenartigen Kerl, der plötzlich vor uns aufgetaucht ist. Okay, nicht einfach aufgetaucht, er kam einen Hügel hinauf. Den, auf dem wir stehen, weil hier die Treppe endet. Mit Rasen. Rotem.

Der Kerl ist nicht groß, etwa wie ich. Er ist schlank, hat graugrüne, kurze Haare und grüne Augen. Scheint genauso bunt zu sein wie die Welt hier. Dazu passt es auch, dass er eine rotgrüne Robe trägt und rote Stiefeln.

„Dann schau uns einfach nicht an“, bemerkt Katharina nach einigen Sekunden.

„Wie meint Ihr das?“

Katharina schließt kurz die Augen, daher übernehme ich die Konversation.

„Wer bist du überhaupt?“

„Mein Name ist Roakan, ich bin der Oberste Lustwächter von Enskeg.“

Lustwandler? Lustwächter? Hallo?

„Von Lustbaader habe ich gehört, aber Lustwandler?“, flüstert mir Katharina ins Ohr.

„Fandest du seine Bücher auch so gut?“, flüstere ich zurück.

„Ja, aber ich glaube, dieser Oberster Lustige wartet auf eine Antwort.“

Wir wenden uns wieder dem Kerl in der rotgrünen Robe zu, der uns aus großen Augen anstarrt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns nicht so verhalten, wie er es erwartet hat. Wie teile ich den Göttern nur mit, dass wir bitte gerne Bedienungsanleitungen für die einzelnen Welten hätten?

„Was ist Enskeg?“, erkundige ich mich. „Wir kommen nämlich gerade von da oben und kennen uns hier noch nicht so gut aus.“

Katharina gibt mir einen Stoß mit dem Ellbogen, aber es ist wohl schon zu spät.

„Ihr wisst nicht, was Enskeg ist? Lustwandler wissen das!“

Hm. Ob ich ihn auch mit einem Feuerball beschießen sollte? Nein, er hat uns bislang nicht angegriffen. Er kann ja staunen und trotzdem friedlich bleiben. Obwohl, nach meinen Erfahrungen ist es eher unwahrscheinlich, dass Menschen, die religiös verankert sind, sich friedlich verhalten, wenn man ihnen ihre Götter nimmt. Und genau das scheinen wir diesem rotgrün Gewandten anzutun.

„Meinst du, er trägt was unter der Robe?“, erkundigt sich Katharina flüsternd.

Ich starre sie an. „Was ist denn mit dir los? Hast du keine anderen Sorgen?“

„Nein. Du?“ Aber sie grinst. Das Leben in der Spinnenwelt hat sie definitiv verändert. Bin ich auch anders durch Marbutan? Wenn schon, dann eher durch Kian. Und Askan.

Verdammte Scheiße.

„Ich schon“, antworte ich leise, woraufhin sie sofort ernst wird. Wenigstens ihre Intelligenz ist noch dieselbe, ich sehe ihren Augen an, dass sie es verstanden hat.

„Wir müssen irgendwie herausfinden, ob und wie viele Menschen es hier noch gibt“, flüstert sie. „Gewalt?“

„Darüber habe ich auch gerade schon nachgedacht und mich dagegen entschieden. Noch ist er friedlich. Außerdem erfahren wir wahrscheinlich mehr, wenn wir mitspielen.“

„Dir ist aber schon klar, dass wir einen Sterblichen dabei haben?“

Ich werfe einen Blick auf Loiker, der uns schweigend zuhört und beobachtet.

„Erst recht ein Grund, Gewalt nur mit Bedacht einzusetzen.“

„Auch wieder wahr“, gibt Katharina zu. Dann geht sie auf Roakan zu. „Hör zu, natürlich wissen wir, was Enskeg ist. Wir wollten dich nur auf Probe stellen. Und wir wollen auch die anderen auf Probe stellen, also führe uns zu ihnen!“

Das ist eine gute Idee! Am liebsten würde ich zu ihr rennen und sie dafür küssen. Da aber üblicherweise Götter so was nicht machen, beherrsche ich mich. Kann ich ja später nachholen, ausführlichst. Hoffe ich jedenfalls. Es ist inzwischen schon ziemlich lange her, dass wir das letzte Mal Sex miteinander hatten.

Boah, Fiona, hast du grad keine anderen Sorgen?

Da ist sie ja wieder, die Andere.

Als Roakan auf den Befehl reagiert, richte ich meine Aufmerksamkeit auf ihn: „Selbstverständlich! Folgt mir bitte!“

Dann dreht er sich um und marschiert den Hügel wieder hinunter. Erstaunlich flott im Anbetracht der engen Robe. Und wenn ich mir so ansehe, wie gut darunter sein Hintern zu erkennen ist, dann glaube ich, dass er sonst nichts anhat.

Ach du verdammte Scheiße! Wo sind wir hier gelandet?

„Nackt“, flüstert Katharina mir zu.

„Habe ich auch schon entdeckt“, erwidere ich grinsend. „Bin gespannt auf seine Gläubigen.“

Sie nickt und legt ihren Arm um mich, dadurch spüre ich ihre linke Brust. Das macht es nicht gerade leichter.

Der Hügel hat offenbar einen runden Querschnitt und wird von rotem Wald gesäumt. An einer Stelle führt ein Weg durch den Wald. Da es kein sehr hoher Hügel ist, können wir nicht erkennen, was sich hinter den Bäumen verbirgt, wohin also der Weg führt. Mal sehen, ob das gut oder schlecht ist.

Nachdem wir den Fuß des Hügels erreicht haben, schließt Loiker plötzlich von hinten auf und legt die Arme um uns. Ich zucke zusammen. Einerseits weiß ich nicht, wie Katharina auf so viel Nähe ihres Nachfolgers und Vorgängers reagiert, ich weiß auch nicht, wie er selbst darauf reagiert, andererseits weiß ich, wie ich nicht reagieren will.

„Wenn ich das richtig verstanden habe, hält er uns für Götter?“, fragt er flüsternd. „Ihr beide seid ja irgendwie auch stärker als Menschen, außerdem unsterblich. Aber was mache ich, wenn wir unsere göttlichen Kräfte demonstrieren müssen?“

„Dann betest du zu den beiden Göttinnen“, erwidert Katharina und löst seinen Arm von ihrer Schulter. „Hör zu, Loiker, in Wirklichkeit habe ich kein Problem mit dir, aber ich möchte nicht, dass du mir so nahe kommst, schon gar nicht in dieser Kleidung. Okay?“

„Okay“, sagt dieser grinsend und fällt leicht zurück.

Ich atme durch. Irgendwie spielt mein Körper, insbesondere in zentraler Gegend, etwas verrückt, seitdem wir uns in dieser Welt befinden. Meine Selbstbeherrschung wurde gerade auf eine harte Probe gestellt.

Doch dann werde ich von solchen Banalitäten abgelenkt, als wir unter den Bäumen heraustreten und unser Ziel erblicken. Es handelt sich um ein Gebäude, und ich tendiere dazu, es als Tempel zu betrachten. Der runde Grundriss, das überragende Dach, die hohen Fenster und die breite Tür, sie verleihen ihm das typische Aussehen eines Tempels. Wie aus einem Kung-Fu-Film der Siebziger. Allerdings hatten jene nicht diese stark rötliche Farbe, vom dunkelbraunen Dach abgesehen.

Auf dieses Gebäude hält unser Führer zu. Genauer gesagt, auf die Tür, deren Flügel beide weit geöffnet sind. Davor stehen drei Männer, genauso gekleidet wie Roakan. Vermutlich auch genauso nackt unter der Robe.

Was genau erwarten die eigentlich von Lustwandlern? Eine spannende Frage.

Roakan bleibt vor den drei anderen Lustwächtern stehen und dreht sich zu uns um.

„Wir sind da!“, verkündet er.

Katharina mustert die anderen, dann tritt sie vor. „Sind das alle?“

„Nein, Lustwandlerin, wir sind die vier Oberen Lustwächter. Die Niederen Lustwächter verschonen Euch mit ihrem Anblick, denn sie sind es nicht würdig, dass Euer Blick auf sie fällt.“

Aha. Also könnten es hunderte sein oder nochmal drei. Nicht gänzlich ohne Einfluss auf unsere Entscheidung, wie wir fortfahren.

„Wartet hier!“, befiehlt Katharina, dann kommt sie zu uns.

„So eine Scheiße! Ich hätte gerne gewusst, mit wie vielen wir es zu tun haben.“

„Ich auch“, erwidere ich. „Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihr Spiel mitzuspielen.“

„Dabei wäre es allerdings hilfreich, die Spielregeln zu kennen“, bemerkt Loiker.

„Das wäre extrem hilfreich“, bestätige ich. „Wir müssen sie herausfinden und dabei am Leben bleiben. Vor allem du.“

„Okay“, nickt Katharina, wendet sich wieder den Oberen Lustwächtern zu und sagt: „Dann zeigt es uns!“

„Was sollen wir Euch zeigen?“, erkundigt sich Roakan verwirrt nach einem Moment und fragenden Blicken zu seinen drei Kollegen.

„Wie kannst du es wagen?!“, donnert Katharina los. Ich kann ihren Gesichtsausdruck von hinten nur erahnen, aber vermutlich ist es derselbe, mit dem sie erst vor Kurzem die zwei traurig komischen Gestalten von Niasman zum Schweigen gebracht hatte. Und vermutlich auch derselbe, mit dem sie früher schon in vielen Meetings demonstriert haben dürfte, dass sie weder lieb noch nett ist, entgegen des ersten Eindrucks.

„Verzeiht, Lustwandlerin!“, ruft Roakan und fällt auf die Knie. Die anderen folgen seinem Beispiel, aber es ist ihnen anzusehen, dass sie keine Ahnung haben, warum sie das tun. Das spricht dafür, dass wir gerade unsere eigenen Regeln gestalten.

Das mag möglicherweise suboptimal sein, ist aber typisch sowohl für Katharina als auch für mich.

Loiker sieht das anders. „Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir ...“

„Nein“, erwidere ich, gleichzeitig den Lustwächtern ein Lächeln schenkend. „Vertraue einfach deinen Göttinnen, okay?“

„Na gut. Mir bleibt eh nichts anderes übrig, schätze ich.“

„Genau.“

Katharina deutet auf den Tempeleingang, ohne etwas zu sagen. Roakan springt auf, eilt an seinen drei Schicksalsgenossen vorbei und ruft hinein: „Versteckt euch! Schnell!“ Dann wendet er sich wieder uns zu. „Tretet ein, Lustwandler!“

Katharina deutet ein Nicken an und setzt sich in Bewegung. Wir folgen ihr.

„Wo hat sie das gelernt?“, fragt Loiker flüsternd.

„Das willst du nicht wissen“, antworte ich.

„Aber du weißt es?“

„Ja, allerdings. Und im Übrigen kann ich das auch.“

„Na gut. Ihr scheint professionelle Göttinnen zu sein.“

Katharina zuckt kaum merklich, auch mir fällt es schwer, nicht loszuprusten.

„Lass den Scheiß, Loiker!“, flüstere ich ihm dann zu.

„Entschuldigung“, murmelt er.

Ich mustere nachdenklich den Teller, der vor mir steht. Darauf irgendetwas, was Obst sein könnte. Farblich passt es jedenfalls perfekt zur Flora dieser Welt. Nach einem kurzen Blick auf Katharina nehme ich etwas, das aussieht, wie eine verunglückte Kreuzung aus einer Banane und einer Orange, und beiße vorsichtig hinein.

Die Lustwächter starren mich entgeistert an. Der Grund wird mir schnell klar, denn wie die beiden Obstsorten besitzt auch dieses Wasauchimmer eine Schale.

Ich schenke den Jungs ein Lächeln, mein süßestes. „Ich wollte herausfinden, ob die Schale die richtige Konsistenz hat. Ich denke, ja.“ Dann suche ich die Stelle, an der ich anfangen muss, die Schale zu öffnen. Bananen haben so eine Stelle, Orangen auch. Das hier anscheinend nicht.

Da ich merke, dass ich beobachtet werde und mein Umgang mit diesem Problem entscheidend sein könnte, lasse ich mir von Katharina mein Schwert geben, lege das Ding auf den Tisch und teile es mit einer lockeren Bewegung des Schwertes aus meinem Handgelenk heraus in zwei Hälften.

Das Innere der Frucht ist gelb und rot und läuft als Saft heraus.

Ich nehme eine Hälfte und fahre mit der Zunge über das Fruchtfleisch. Im schlimmsten Fall habe ich danach vorübergehend keine Zunge mehr, aber das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Obwohl, wer weiß, was diese Robenträger den Lustwandlern zutrauen.

Ich habe Glück. Weder meine Zunge noch meine Geschmacksnerven werden angegriffen oder gar zerstört. Eigentlich schmeckt es sogar ganz gut. Mit einer etwas eigenwilligen Note nach Zimt, ganz hauchzart nur, erinnert mich der Geschmack an Blutorange und Traube. Also nichts mit Banane. Aber immerhin lag ich mit der Orange gar nicht so verkehrt.

Ich nicke den Lustwächtern lächelnd zu und knabbere das Fruchtfleisch aus der Schale heraus. Anschließend dürfte ich wie ein kleines Kind aussehen, aber das ist mir egal.

Katharina nimmt mein Schwert und öffnet zwei weitere Früchte auf meine aus der Sicht der Robenträger vermutlich unkonventionelle Art, reicht dann eine Loiker, die andere verspeist sie selbst genüsslich.

In der Zwischenzeit sehe ich mich um.

Der Tempel ist innen großzügig gebaut, eine runde Halle nimmt fast den gesamten Raum ein. In deren Mitte steht der Tisch, an dem wir gerade sitzen. Die Wand ist rundherum von einem Gebilde bedeckt, das mich an Waben in einem Bienenstock erinnert. Bei genauem Hinsehen erkenne ich, dass es Schlafkojen sind. Ziemlich viele. Und in den meisten befinden sich Menschen. Vermutlich all die, die sich verstecken mussten. Grob geschätzt 50.

„Wie oft sind wir uns schon mal begegnet, Roakan, erinnerst du dich?“, frage ich, einer Eingebung folgend, plötzlich den Obersten Oberen Lustwächter.

Er sieht mich verwundert an. Vorsichtig ausgedrückt.

„Ich sehe Euch zum ersten Mal“, erwidert er. „Es ist noch niemals vorgekommen, dass ein Lustwandler herabgestiegen ist!“

Das dachte ich mir. Deswegen ja meine Frage. Weder sie noch wir wissen, welches Verhalten richtig ist. Mich beschleicht das doofe Gefühl, dass wir nur verlieren können. Ich wünschte, Loiker wäre nicht mitgekommen, mit Katharina allein würde ich mir weniger Sorgen machen. Doch dann bereue ich meinen Gedanken. Zurückzubleiben hätte für Loiker vermutlich den sicheren Tod bedeutet. Auch wenn er für mich zuerst nicht mehr als Mittel zum Zweck war, mag ich ihn inzwischen ja. Außerdem hat er uns geholfen.

Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, in was für eine Welt wir da geraten sind, und uns dann unauffälliger verhalten. Theoretisch wäre es auch eine Option, in den Ewigen Turm zurückzukehren, aber eine sinnlose. Ziemlich unwahrscheinlich, dass die Welt eine Ebene tiefer leichter zu händeln ist.

Oder wir gehen nach Marbutan. Zwar müsste ich erst ein paar Gesetze ändern, damit ich mit Katharina zusammenleben kann, aber mit meinen neuen alten Fähigkeiten sollte das kein Problem sein. Loiker würde ich mit Shaka verheiraten. Er passt gut zu ihr, denke ich.

Leider gibt es zwei Probleme dabei, von denen mindestens eins unüberwindlich sein dürfte: Die Götter werden dagegen sein und ich könnte keine Nacht mehr ruhig schlafen, wenn wir Sarah und Thomas ihrem Schicksal überlassen, ohne wenigstens versucht zu haben, sie zu finden.

So eine verdammte Scheiße.

Ich zucke zusammen, als jemand mich berührt.

Katharina starrt mich an. „Was ist denn mit dir los? Du reagierst ja nicht einmal mehr auf Schläge!“

Ich werfe einen Blick in die Runde und bemerke, dass mich alle anstarren, nicht nur Katharina.

Nicht so gut.

„Ich … ich musste an etwas denken.“

„Mir scheint, diese Menschen hier erwarten von Göttinnen, dass sie nicht weinen“, bemerkt Loiker in lockerem Plauderton.

„Was …?“ Ich berühre mein Gesicht. Nochmal Scheiße.

„Ich denke, wir sollten uns geordnet zurückziehen“, stellt Katharina fest.

Sie hat recht. Die Obersten Lustwächter wirken nicht mehr so ehrfurchtsvoll wie gerade eben noch. Dafür spricht unter anderem, dass sie den anderen, die sich in ihren Kojen verstecken, irgendwelche Zeichen geben. Vermutlich ist das für uns kein gutes Zeichen.

Ich schiebe das Schwert, das vor Katharina liegt, möglichst unauffällig zu Loiker hinüber, während ich lächelnd zu Roakan sage: „Nun werden wir aufbrechen. Wir haben eure Gastfreundschaft genug in Anspruch genommen. Habt Dank für die Früchte.“

„Ihr wollt schon gehen?“, erwidert er. „Wir haben gehofft, Euch länger als unsere Gäste begrüßen zu dürfen.“

„Dringende Geschäfte rufen uns. Wir brechen auf.“ Ich lasse das Lächeln verschwinden und hole den Gesichtsausdruck hervor, den Katharina vorhin auch hatte. Loiker soll ruhig sehen, dass ich das wirklich ebenfalls kann.

„In dem Fall bitten wir Euch, dennoch weiterhin unsere Gastfreundschaft zu genießen. Wir sind noch nie Lustwandlern begegnet und möchten so viel von Euch lernen.“

Das klingt unerwartet energisch. Freundlich zwar, für den Fall, dass wir doch Götter sind, aber deutlich genug, falls wir unerwarteterweise nur gewöhnliche Menschen sind.

Zeit für eine kleine Demonstration.

Ich erhebe mich. „Das wissen wir zu schätzen, und doch müssen wir jetzt aufbrechen. Wollt ihr etwa uns Vorschriften machen?“

„Es steht uns fern, Lustwandlern Vorschriften zu machen“, erwidert Roakan. „Doch wie können wir wissen, ob Ihr tatsächlich Lustwandler seid?“

„Nun, vorhin wart ihr euch immerhin ziemlich sicher. Was ließ euch die Gesinnung ändern?“

„Lustwandler weinen nicht“, erwidert Roakan nach kurzem Zögern.

„Ihr seid schon Lustwandlern begegnet? Sagtest du nicht vorhin erst, dass noch nie ein Lustwandler herabgestiegen ist?“

„Doch steht es geschrieben, wie Lustwandler sich verhalten, und dass sie keine Menschen sind, vielmehr ihnen menschliche Gefühle fremd sind.“

„Aha. Steht auch darüber etwas geschrieben?“ Ich halte meinen rechten Handteller nach oben und lasse Flammen aus ihm züngeln. Die drei Obersten Lustigen weichen zurück. Aus den Schlafkojen kommt ein Raunen.

„Nein, darüber steht nichts in den Büchern“, sagt Roakan. „Wer seid Ihr?“

Nicht gut. Spätestens jetzt geht er anscheinend davon aus, dass wir keine Lustwandler sind. So eine Scheiße, dass wir keine Handbücher für die Welten haben. Zumal diese Welt noch krasser zu sein scheint als die Spinnenwelt.

„Wir danken euch für eure Gastfreundschaft“, erwidere ich statt einer Antwort und nicke zur Tür hin. Katharina versteht, packt Loiker und zieht ihn mit sich, während sie losgeht. Allerdings stoppt sie schon nach wenigen Schritten, denn plötzlich stürmen einige der sich versteckenden Lustwächter hervor und richten etwas auf sie, was verdammt viel Ähnlichkeit mit Pistolen hat.

Unermesslich große Scheiße.

Okay, mir reicht es jetzt. Ich schmeiße einen Feuerball den plötzlich mutig gewordenen Lustwächtern vor die Füße, was diese erschrocken zurückspringen lässt. Katharina rennt los und nutzt eine Lücke in der Kette. Ich werfe einen zweiten Feuerball, als Geleitschutz für Loiker. Als er auch draußen ist, spaziere ich hinterher, mit kleinen, niedlichen Feuerbällen die Jungs auf Abstand haltend.

Wieso sind es eigentlich alles nur Jungs? Irgendwie ist es in diesem Universum mit der Emanzipation nicht sehr weit her.

Vor der Tür bleibe ich stehen und tue das, was Katharina und Loiker auch bereits tun: Starre in sehr viele Mündungen. Wie es aussieht, hat Roakan irgendwie Verstärkung gerufen. Ziemlich viel davon. Könnte als Hundertschaft durchgehen.

Ich denke nach. Kann schon sein, dass ich Löcher in ihre Verteidigungslinie brennen könnte. Kann schon sein, dass wir fliehen könnten. Aber es ist fraglich, wie lange wir in einer völlig fremden Welt unseren Jägern entkommen könnten. Und was noch viel wichtiger ist, ich müsste dafür etliche von ihnen töten. Menschen töten, die eigentlich nur das tun, was sie für richtig halten. Wenn hier jemand das Gleichgewicht stört, dann wohl eher wir.

Ich drehe mich um, als ich hinter mir Schritte höre, dann lasse ich Roakan und seine beiden Mitobersten Lustwächter aus dem Tempel treten.

„Wir würden euch wirklich gerne einladen, noch eine Zeit lang unsere Gastfreundschaft zu genießen“, sagt er lächelnd.

Ich werfe einen Blick auf Katharina. Sie hält Loiker am rechten Oberarm fest und kaut kurz auf ihrer Unterlippe herum. Nach einem Moment schüttelt sie kaum merklich den Kopf. Wahrscheinlich ist sie zu derselben Einsicht gekommen wie ich.

Loiker frage ich nicht. Erstens kennen wir uns nicht gut genug, um nur mit einem Blick ein ganzes Gespräch zu führen. Zweitens ist er ein wesentlicher Grund für unsere Zurückhaltung. Vielmehr sein Menschsein.

„Also gut“, sage ich schließlich. „Wir sehen ein, dass es besser ist, noch zu bleiben. Ich nehme an, ihr habt Unterkünfte, die uns Lustwandlern würdig sind.“

„Selbstverständlich“, antwortet Roakan, immer noch lächelnd.

„Ich habe mich schon gefragt, ob es hier nur diesen Tempel gibt, aber jetzt wissen wir es ja“, bemerkt Katharina.

„Die Frage habe ich mir auch bereits gestellt“, erwidere ich. „Wie lange warten wir eigentlich, bevor wir aktiv werden?“

Sie zuckt die Achseln und wirft einen Blick auf Loiker, der es sich auf dem riesengroßen Bett gemütlich gemacht hat.

„Soll ich das entscheiden?“, erkundigt er sich. „Übrigens, kommt euch die Ausstattung hier nicht seltsam vor?“

„Nein“, antworte ich. „Entscheidungen treffen nur Göttinnen. Und ja, mehr als seltsam.“

Wir befinden uns in einem Gebäude, das von außen wie die Miniaturausgabe des Tempels aussieht. Innen wie ein Arbeitszimmer in einem Luxusbordell, einschließlich Bett und Deckenspiegel. Es gibt einige abgeschlossene Schränke, die wir nicht zerstörungsfrei öffnen könnten, also haben wir beschlossen, erst einmal abzuwarten. Vom Tempel aus sind wir etwa eine Viertelstunde gelaufen, eskortiert von einem Schwarm bewaffneter Lustwächter und den Oberen Lustwächtern. Roakan lud uns mit einer Geste ein, dieses Gebäude zu betreten, dann wurde die Tür abgeschlossen.

„Vielleicht wollen sie, dass wir uns zu dritt vergnügen“, meint Katharina. „Ich wette, in den Schränken sind entsprechende … Spielzeuge.“

„Und warum sind sie abgeschlossen? Hä? Sehr sinnvoll.“

„Auch wieder wahr, mein Schatz. Hast du eine andere Idee?“

Leider nein, also zucke diesmal ich die Achseln. „Wir werden es bestimmt erfahren, früher oder später.“

„Bis dahin könnten wir es ja mal mit Nachdenken versuchen“, bemerkt Loiker.

„Boah ey, willst du dich unbeliebt machen?“

Katharina tritt zu mir und legt grinsend die Arme um mich. „Loiker, kann es sein, dass du sie nur zielorientiert kennengelernt hast?“

„Zielorientiert?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du weißt schon, dass wir …?“

„Klar.“

Er sieht mich an. „Zielorientiert?“

„Äh … Glaubst du etwa an Liebe auf den ersten Blick?“

„Hm.“ Er mustert die Decke. „Und wie zielorientiert ist es, dass ich hier bin?“

„Loiker, bevor du eine Krise kriegst: Ich mag dich wirklich. In einer Welt voller Idioten empfand ich dich als wohltuend vernünftig. Der Sex mit dir hat Spaß gemacht, ich glaube, dass es irgendwo ein weibliches Wesen gibt, das mit dir richtig glücklich werden kann. Aber ich bin dieses Wesen nicht. Trotzdem, ich mag dich. Dass ich dich angemacht habe, war aber eindeutig zielorientiert. Hältst du das irgendwie für verwerflich, nachdem du inzwischen weißt, in welcher Situation ich mich befand?“

„Wow“, sagt Katharina, ohne mich loszulassen.

„Nein“, erwidert Loiker. „Ich bewundere dich.“

„Du bewunderst mich?“

„Ja. Nachdem ich jetzt weiß, in welcher Situation du dich befandest, war dein Verhalten unglaublich. Zielorientiert, um es mit Katharina zu sagen. Ich schätze, du gehörst nicht zu denen, die schnell aufgeben.“

„Nein. Ist nicht meins, das Aufgeben. Das hat mir hin und wieder das Leben gerettet.“

„Glaube ich dir sofort. Und ich schätze, das gilt für dich auch?“ Er sieht Katharina fragend an, die immer noch grinst und nickt. „Nachdem das nun geklärt ist, sollten wir vielleicht darüber nachdenken, was wir jetzt machen wollen, ihr Göttinnen.“

„Abwarten.“

„Was?“ Beide schauen mich neugierig an. Bin ich etwa schon wieder die Anführerin?

„Na ja, wir wissen nichts über diese Welt. Okay, ganz stimmt das nicht. Hier ist alles rot, die Schmetterlinge ähnlich ungemütlich wie eine Etage höher, nur kleiner, und irgendwie haben die es hier mit Lust. Wir wissen nicht, wie viele Menschen es hier gibt, welche Wesen es hier sonst noch gibt, wie die Technologie beschaffen ist, und vor allem wissen wir nicht, ob wir hier nach Sarah, Thomas oder keinem von beiden suchen müssen. Zumindest für Katharina und mich wäre es keine Herausforderung, hier auszubrechen und die Wärter zu überwältigen. Es könnte aber sein, dass wir schneller erfahren, was das für eine Welt ist, wenn wir mitspielen. Die Götter stehen darauf, wenn ich mitspiele.Warum auch immer sie so einen Narren an mir gefressen haben.“

„Hm“, sagt Katharina.

„Siehst du das anders, mein Schatz?“

„Eigentlich nicht. Meinst du wirklich, sie haben einen Narren an dir gefressen?“

Statt einer Antwort halte ich meine Hand mit dem Ring hoch. Meine rechte. Am linken Ringfinger trage ich ja den Siegelring von Marbutan. Und der bleibt auch da.

„Ist ein Argument“, nickt sie.

„So ganz habe ich das mit dem Ring nicht verstanden“, sagt Loiker, der uns interessiert beobachtet.

„Du auch nicht?“, erwidere ich.

Er stutzt. „Ich dachte, du kannst mir das erklären, eigentlich.“

„Sicher, gerne. Ich muss nur vorher selbst jemanden finden, der es mir erklärt.“

„Okaaay … Vergiss meine Frage einfach.“

„Du hast doch noch gar keine gestellt.“

„Ich wollte eigentlich nur wissen, wie der Ring funktioniert. Leuchtet er, wenn es ihm gerade mal danach ist? Oder machst du das?“

„Ich?! Ich habe keine Ahnung, wie er funktioniert. Ich weiß nur, dass er bisher immer äußerst hilfreich war, wenn er sich mal gemeldet hat.“

„Ja, das habe ich gesehen. Aber wie er das macht, weißt du demnach auch nicht.“

Ich verneine kopfschüttelnd, dann wende ich mich der Tür zu, wie die anderen auch. Sie geht nämlich auf und Roakan tritt ein. Zusammen mit einer Armee an Bewaffneten, zwei nackten Männern und einer nackten Frau.

Der ersten Frau, die wir in dieser Welt zu sehen bekommen!

Ich werfe einen Blick auf Loiker und sehe, dass er reagiert.

Alle sehen das.

Er wird rot und hält sitzend die Hände davor.

Immerhin, die Frau sieht gut aus. Die Brüste ein bisschen zu groß, die Schamlippen ein bisschen zu lang, aber insgesamt könnte sie unter anderen Umständen auch mich in Versuchung bringen.

Und Katharina wohl auch, scheint mir.

„Zieht euch aus, wir werden jetzt eure Energie messen“, sagt Roakan und hält irgendetwas hoch.

„Wie bitte?“, erwidern wir zu dritt gleichzeitig.

„Ihr zieht euch aus und wir messen eure Energie beim Orgasmus, damit wir herausfinden können, wer ihr eigentlich seid.“

Ich sehe Katharina an, die meinen Blick entgeistert erwidert.

„Auf keinen Fall“, erwidere ich dann. „Ich bin echt nicht prüde, aber das geht definitiv viel zu weit!“

„Wieso?“, fragt Roakan erstaunt. „Was stört euch an Sex?“

„Oh, oh“, sagt Katharina.

„Hör auf, oh, oh zu sagen! Danach passiert regelmäßig etwas, was mir nicht gefällt!“

„Oh, oh ...“

Ich starre sie grimmig an, dann wende ich mich wieder an Roakan.

„Was zum Teufel meinst du überhaupt damit, dass ihr unsere Energie beim Orgasmus messen wollt?“

Daraufhin sieht er mich an, als wäre ich von einem anderen Stern. Was ja auch irgendwie stimmt.

„Hast du noch nie Sex gehabt?“, fragt er schließlich irritiert.

„Geht dich zwar nichts an, aber klar hatte ich schon Sex.“

„Ohne Lodi?“, hakt er nach und sieht richtig entsetzt aus.

„Seid ihr vielleicht Rebellen? Wie habt ihr es nach oben geschafft?“

Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich habe das Gefühl, die Mündungen der Schusswaffen richten sich noch mehr auf uns als bisher.

Ihr scheißverdammten Götter, ich will ein verficktes Handbuch!

Katharina tritt zu mir und hält ihren Mund dicht an mein linkes Ohr: „Ich habe das dumpfe Gefühl, Sex hat hier eine ganz andere Bedeutung als wir sie kennen. Hast du gesehen, was er in der Hand hat?“

„Wahrscheinlich Lodi“, erwidere ich.

„Wahrscheinlich“, sagt sie grinsend.

„Was tuschelt ihr denn da?“, erkundigt sich Roakan misstrauisch. „Ihr zieht euch jetzt aus und macht einen Orgasmus, sonst zwingen wir euch dazu!“

„Ihr wollt uns zum Orgasmus zwingen?“ Ich kann nicht anders, ich bekomme einen Lachanfall.

Nachdem ich wieder klar sehen kann, stelle ich fest, dass wir von unseren neuen Feinden entgeistert beobachtet werden. Katharina wischt sich ebenfalls Lachtränen aus den Augen und meint kopfschüttelnd: „Irgendwie ist das die richtige Welt für unsere kleine Sarah, meinst du nicht auch?“

„Irgendwie schon.“ Ich werfe einen Blick auf Loiker, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend erwidert. Eins steht fest: Ich werde hier ganz sicher nicht Sex mit einem fremden Mann haben, Katharina genauso wenig. Und ich schätze, Loiker auch nicht mit der großbusigen, bisher einzigen Frau hier, von den beiden Göttinnen mal abgesehen.

„Wir sollten gehen“, stellt Katharina fest.

Als ich nicke, springt sie mit einem Satz zu Roakan, entreißt einem der vor Schreck wie erstarrten Lustwächter die Waffe und hält die Mündung an Roakans Schläfe. In der Zwischenzeit bewaffne ich mich auch und nehme mein Schwert an mich, das freundlicherweise Roakan bei sich hat. Warum auch immer. Vielleicht als Beweismittel.

„Wir werden jetzt gehen und du begleitest uns“, erklärt Katharina. „Schießen deine Leute auf uns, bist du auf jeden Fall tot.“

„Ihr aber auch!“

„Nur dass wir nicht tot bleiben“, erwidere ich. „Vielleicht sind wir keine Lustwandler, aber unsterblich sind wir trotzdem. Wir wären allerdings ziemlich ungehalten, wenn wir wiederkämen. Sehr, sehr ungehalten. Das würde sehr, sehr große Feuerbälle bedeuten.“

Roakan starrt mich entsetzt an, und das wollte ich ja auch erreichen. Er und seine Leute sollen so richtig Angst haben. Ich habe nicht vor, diese Menschen hier zu töten und auch verletzen will ich sie nur im Notfall, aber hier bleiben werden wir trotzdem nicht.

Wohin wir gehen, ist eine andere Frage. Aber wir haben ja einen Fremdenführer.

Katharina scheint denselben Gedanken gehabt zu haben, denn sie zwingt den Obersten Lustwächter, vorzugehen. Ich sehe ihm an, dass er keine Ahnung hat, wohin wir wollen. Sind wir schon mal zu viert.

„Wollt ihr denn zurück nach oben?“, fragt er verwirrt.

„Auf keinen Fall“, antworte ich. „Wohin geht es da lang?“ Ich deute in die entgegengesetzte Richtung.

„Dort ist die Brücke auf den nächsten Skeg. Was wollt ihr dort?“

„Was gibt es denn da?“

„Dort wohnen unsere Familien. Sonst ist da nichts!“

Ich mustere ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und glaube ihm nicht. Das mit den Familien kann schon sein, aber das ist nicht alles, da wette ich sogar darauf, ganz entgegen meiner sonstigen Angewohnheiten.

„Dann gehen wir dorthin. Los jetzt!“

Und als er zögert, packt Katharina von der Seite seine Nase und drückt sie zu. Mit einem blubbernden Geräusch geht Roakan in die Knie. Als Katharina ihn nach gut zehn Sekunden wieder loslässt, gehorcht er sofort. Dabei wischt er sich mit dem Ärmel die aus der Nase laufenden Rotze ab.

Scheiße.

Nach einigen Minuten erreichen wir die Brücke.

Es ist tatsächlich eine Brücke. Der Skeg, was das auch immer bedeuten mag, scheint frei zu schweben und nur durch diese Brücke mit dem nächsten Skeg verbunden zu sein, der auch einfach so schwebt.

Nach einem Blick auf Katharina gehe ich vor und betrete die Brücke. Sie wirkt stabil, das ist gut. Darunter geht es tief abwärts, das ist nicht so gut. Oder vielleicht doch. Ganz sicher bin ich mir nicht.

Unter uns schimmert es rötlich. Eigentlich ist es ein einziges rotes Meer. Ich glaube allerdings nicht, dass es Wasser ist. Ich schätze mal, das sind einige Kilometer nach unten, aus dieser Perspektive würden Städte zu Flecken verschwimmen.

Ich nicke den anderen zu und sie folgen mir.

„Gibt es hier eigentlich auch noch etwas anderes als diese … Platten?“ Wir befindet uns etwa auf der Mitte der Brücke, deren Länge ich auf 200 Meter schätze. Von hier aus ist gut zu erkennen, dass das, was wir gerade hinter uns gelassen haben, genauso aussieht wie das, auf das wir zulaufen. Ich schätze die Breite auf wenige Kilometer, die Bodenplatte auf höchstens 50 Meter dick. Eine zweite Platte schwebt in grob geschätzt auch 200 Meter Höhe über der Bodenplatte, auf diese sind wir aus dem Turm heraus gelangt.

„Die Ghettos“, antwortet unser unfreiwilliger Fremdenführer und spuckt aus.

„Ghettos?“ Katharina wirkt genauso überrascht wie ich, dieses Wort zu hören. „Wo sind sie denn?“

„Da unten!“, erwidert Roakan und deutet mit dem Kinn nach unten.

Katharina und ich sehen uns an. Das scheint ja eine Parallele zur Spinnenwelt zu sein. Ist den Scheißgöttern etwa an dieser die Stelle die Kreativität ausgegangen? Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen.

„Und was ist da?“, fahre ich mit meiner Fragerei fort.

„Die Lustlosen!“

Aha. Das passt ja irgendwie. Lustwächter, Lustwandler, Lustlose, Energiemessung beim Orgasmus … In was für eine Welt sind wir da geraten?

„Wieso wisst ihr das alles eigentlich nicht?“, fragt Roakan plötzlich.

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und gehe weiter. Roakan protestiert kurz, doch das hört schnell auf. Wieder gibt es das blubbernden Geräusch. Katharina scheint ein neues Lieblingsargument gefunden zu haben. Widerlich.

Je näher wir dem nächsten Skeg kommen, umso aufmerksamer mustere ich die Gegend. Der Übergang von der Brücke auf das, was hier halbwegs festen Boden ausmacht, sieht aus, als wäre Erstere in Zweiteren eingehängt. Allerdings so fest, dass die Brücke kein bisschen am Schwingen ist, wenn jemand auf ihr geht.

Seltsam. Scheiße, aber seltsam.

Nach dem Verlassen der Brücke stehen wir auf einer kleinen, roten Lichtung, die von Wald umgeben ist.

„Was machen wir mit dem hier?“, erkundigt sich Katharina, während sie den Obersten Lustwächter betrachtet.

„Wir schicken ihn ins Ghetto“, schlägt Loiker mit völlig ernstem Gesicht vor.

„Das wäre mein Tod!“

„Echt jetzt?“, erwidere ich. „Warum sollten wir darauf Rücksicht nehmen?“

„Wir haben euch auch am Leben gelassen!“

„Eine interessante Sichtweise“, bemerkt Katharina amüsiert. „Okay, du Lustiger, befindet sich auch deine Familie auf diesem Skeg?“ Und als Roakan nickt, fährt sie fort: „Schön. Dann führe uns zu ihr. Wenn du keinen Ärger machst, passiert niemandem was. Aber andernfalls ...“ Sie greift ansatzweise nach seiner Nase, was Roakan zurückspringen lässt.

„Meine Familie hat euch nichts getan!“

„Das stimmt“, sage ich und nicke. „Deswegen tun wir ihnen auch nichts. Aber Katharina könnte dir zum Beispiel die Nase abreißen, wenn du nicht brav bist.“

„Genau“, bestätigt Katharina.

„Ich werde brav sein“, sagt er düster. „Doch ich glaube nicht, dass wir das nächste Mal so gnädig mit euch verfahren wie vorhin!“

„Da haben wir ja direkt Glück, dass es kein nächstes Mal geben wird“, entgegne ich amüsiert. „Los jetzt, wir haben nicht ewig Zeit!“

Katharina gibt ihm einen leichten Stoß, und als wir hinter ihm her gehen, sieht sie mich fragend an.

„Was?“

„Wieso haben wir keine Zeit?“

„Ich muss pissen, habe Durst, Hunger und brauche Sex. In dieser Reihenfolge.“

Ihre Augenbrauen schießen hoch. „Wirklich in dieser Reihenfolge?“

„Na ja, über das Trinken und Essen ließe ich mit mir reden ...“

„Aha. So, so ...“ Sie wirft einen Blick nach hinten, auf Loiker, dann sieht sie mich wieder an.

„Weise Entscheidung“, stelle ich fest.

„Ihr seid grausam!“, konstatiert Loiker. „Als wenn das nicht schon ausreichen würde!“

Ich betrachte ihn kurz, dann wende ich mich hastig ab und beiße auf meine Unterlippe. Verfluchte Scheiße, er braucht dringendst vernünftige Kleidung! Das Schlimmste ist, es macht mich auch noch an. Ich erinnere mich plötzlich sogar deutlich daran, wie er schmeckt.

Hilfe! Was für eine Welt ist das?

Katharina scheint meine Gedanken zu erraten, denn sie flüstert mir so leise zu, dass wirklich nur ich es höre: „Sex scheint hier sehr wichtig zu sein, und das wirkt sich anscheinend auf uns aus. Und du bist ja als auserwählte Kriegerin sowieso besonders sensitiv.“

„Sensitiv?“

„Na ja, ein Sensibelchen halt.“

„Arschloch!“

Grinsend gibt sie mir einen Kuss, dann dem zögerlich werdenden Lustwächter einen leichten Stoß. „Geh vor!“

„Ja, ja“, murmelt der, gehorcht aber.

Plötzlich fällt mir etwas ein. „Sag mal, Roakan, gibt es hier Telefone, Handys, Telegraphie oder sonst etwas zum Übermitteln von Nachrichten?“

Er starrt mich verständnislos an. Völlig verständnislos.

„Wie redet ihr miteinander über größere Entfernungen? Rauchzeichen? Laufbote?“

„Ygofon“, erwidert Roakan.

„Bitte, was?“, entfährt es mir.

„Ygok kann auch Sprache leiten“, fährt er fort.

„Ygok?“

„Ihr wisst nicht, was Ygok ist?“

Wir schütteln gemeinsam den Kopf.

„Wo kommt ihr denn her? Jedes Kind weiß, was Ygok ist!“

Ich deute nach oben. „Dann kannst du es uns ja bestimmt erklären.“

„Ygok ist alles, ohne Ygok könnten wir gar nicht existieren. Ygok macht Strom aus Sexuon, wir leben symbiotisch zusammen.“

„Okaaay ...“ Katharina und ich schauen uns an. Das ist ja fast wie in der Spinnenwelt. „Was ist Sexuon?“

„Das ist die Energie, die beim Orgasmus entsteht. Mit der Lodi speichern wir sie ab und leiten sie dann an Ygok.“

„Okay“, sagt Katharina. Sie deutet nach vorne. „Ist das eine Stadt?“

Wir erreichen nämlich in diesem Moment den Waldrand und blicken auf Häuser. Diese Häuser sind sternenförmig um ein großes, rundes Gebäude angeordnet, das ein wenig an den Tempel erinnert. Es sieht einer amerikanischen Vorstadtidylle nicht unähnlich, wenn man von der alles beherrschenden roten Farbe absieht. Gärten gibt es hier jedenfalls auch. Autos fahren keine herum, aber das ist ja auch kein Verlust.

„Was ist das in der Mitte eigentlich?“, erkundige ich mich, nachdem Roakan stumm genickt hat.

„Das ist der Vagy. Das Lustzentrum. Jeder Skeg hat einen Vagy. Fast jeder. Ihr wisst das wirklich nicht?“

Katharina und ich schauen uns erneut an.

„Es hätte mich ja auch gewundert, wenn das Gebäude nichts mit Lust zu tun hätte“, meint sie dann. „Wozu ist das denn gut? Werden dort Orgien gefeiert?“

„Orgien? Nein, dort wird das Sexuon gesammelt und dann an die Ygok weitergeleitet.“

„Klingt irgendwie alles ziemlich verworren!“, stellt Loiker von hinten fest. „Verstehe ich das richtig, diese Welt würde zugrunde gehen, wenn die Menschen aufhören würden mit dem Vögeln?“

„Wohl kaum. Masturbieren könnten sie ja dann immer noch, oder?“, erwidere ich grinsend.

„Auch wieder wahr. Was ist denn mit dem los?“ Er deutet auf den Lustwächter, der uns entgeistert anstarrt.

„Wieso ist Sex für euch etwas so Besonderes“, fragt er dann.

„Na ja, Besonderes ist relativ“, antworte ich. „Aber wir haben noch nie … gefickt, um Energie zu erzeugen. Obwohl es einem dabei schon warm werden kann, das gebe ich zu.“

Katharina und Loiker lachen, der Lustwächter findet das anscheinend nicht lustig. Der Kerl ist ja echt humorbefreit.

„Es ist streng verboten, ohne eine Lodi Sex zu haben“, sagt er. „Das kann mit Orgasmuslager oder Sex mit Szoki Bucca allein bestraft werden!“

„Hat er gerade geflucht oder habt ihr das verstanden?“, erkundigt sich Katharina.

„Ich habe Orgasmuslager verstanden“, bemerke ich. „Aber warum das eine Strafe sein soll, verstehe ich nicht.“

„Na ja, vielleicht ist das wie mit dem Lachen durch Kitzeln. Kann äußerst unangenehm werden.“

„Stimmt auch wieder. Also gut, du Lustwächter, wir besuchen jetzt erst einmal gemeinsam deine Familie. Denk daran, wenn ihr nichts Dummes tut, passiert niemandem etwas. Aber nur dann. Verstanden?“

Roakan nickt stumm, dann setzt er sich in Bewegung.

Wir nehmen einen Weg, der zwischen den Häusern schnurgerade auf das Gebäude in der Mitte zuführt. Das Lustzentrum. Irgendwie lustig. Was haben sich die Götter dabei gedacht, eine Welt zu erschaffen, in der Sex buchstäblich überlebensnotwendig ist?

Zwischen den Häusern führen Wege wie der, auf dem wir gerade gehen, zum Lustzentrum. Wenn ich es richtig sehe, sind es acht Wege, also zwei in jedem Quadranten. Am Außenrand stehen recht viele Häuser direkt nebeneinander, durch schmale Wege miteinander und den Hauptwegen verbunden. Am Innenrand, also in unmittelbarer Nachbarschaft des Vagy oder wie das heißt, stehen die Häuser allein zwischen den Hauptwegen.

Eine ulkige Anordnung. Und das soll auf allen Skegs so sein?

„Wie viele Skegs gibt es eigentlich, Roakan?“, frage ich neugierig nach.

„Ganz genau wissen wir es nicht. Von 66.699 wissen wir sicher.“

„Was?!“ Ich bleibe entgeistert stehen, meinen Gefährten ergeht es nicht anders. „Soll das ein Witz sein? Die ganze Welt ist aus solchen Skegs, fast 70.000, aufgebaut?“

„Und den Ghettos“, bemerkt Loiker.

„Ja, so ist es“, bestätigt der Lustwächter.

„Und überall wird gevögelt, um Energie zu erzeugen?!“

„Das kommt darauf an, wie weit die Menschen entwickelt sind. Je mehr Sexuon ein Skeg liefert, umso reicher sind sie.“

„Mehr als ficken kann ja wohl niemand“, stellt Katharina fest.

„Aber mehrere Orgasmen gleichzeitig haben schon. Viele Menschen haben inzwischen bereits drei oder vier Penisse oder Vaginas. Szoki Bucca hat sogar 69.“

„Wie bitte?!“ Ich starre ihn entsetzt an.

„Okay, das erklärt, warum Sex mit ihm eine Strafe ist“, bemerkt Loiker lakonisch.

„Jetzt mal langsam“, sage ich. „Du sagst, es gibt Menschen, die mehrere primäre Geschlechtsorgane haben? Und dass das ihren sozialen Status erhöht?“

„Ihren was?“

„Ihre Bedeutung für die Gemeinschaft“, übersetzt Katharina hilfsbereit.

„Ja, so ist es. Denn dadurch tragen sie ja mehr zur Energieversorgung bei.“

„Ach du Scheiße“, entfährt es mir.

Katharina sieht mich grinsend an. „Ist das nicht die ideale Welt für dich?“

„Du Arschloch! Wieso überhaupt?“

„Den ganzen Tag Sex haben und das auch noch mit staatlicher Genehmigung. Nein, Förderung.“

„Und mit Lodi-Dings“, füge ich düster hinzu.

„Okay, das ist ein kleiner Wermutstropfen.“

„Ein was?“, fragt Loiker nach.

„Nur so ein Spruch aus unserer Welt. Er bedeutet, dass alles einen Haken hat.“ Katharina lächelt Loiker an und ich bewundere ihre makellosen Zähne. Trotz der fünf Jahre in der unteren Welt der Welt über uns. Okay, ihre Gene als Halbdämon sind in der Hinsicht ausgesprochen hilfreich. Meine Zähne sehen auch immer perfekt aus, egal wie oft sie schon ausgeschlagen wurden.

„Wollen wir hier noch länger stehen bleiben?“, erkundigt sich Loiker.

Ich mustere seine rechte Hand, die er auffällig unauffällig vor die Körpermitte hält, dann schüttele ich stumm den Kopf und setze mich in Bewegung, den Lustwächter vor mir her schiebend. Dieser geht bereitwillig mit, nach einem besorgten Blick auf Katharina, deren Mundwinkel verräterisch zuckt.

„Wo wohnt denn deine Familie?“, frage ich Roakan, der direkt auf das Lustzentrum zuhält.

„Im ersten Haus.“

„Okay. Hat das auch mit dem sozialen Status zu tun?“

Er hat es sich gemerkt. „Ja.“

„Auf diese Familie bin ich gespannt“, bemerkt Loiker.

„Und ich hoffe, sie haben passende Kleidung für dich“, erwidert Katharina und lacht dann, als sie mein Gesicht sieht. „Hey, Loiker, ich glaube, Fiona war nicht unzufrieden mit dir.“

Okay, irgendetwas ist in der Luft dieser Welt. Vielleicht Pollen von den seltsamen roten Pflanzen, die überall zu wachsen scheinen. Eine große Vielfalt kann ich nicht erkennen. Natürliches Viagra oder so. Würde zumindest erklären, warum Loiker inzwischen einen Dauersteifen hat, was ihm hochgradig peinlich zu sein scheint.

„Den Eindruck hatte ich zumindest“, murmelt er.

„Das reicht jetzt!“ Ich starre ihn aufgebracht an. „Wollen wir nachher mal ausprobieren, mit wem es mehr Spaß macht? Hallo?“

Katharina legt einen Arm um mich und lässt Loiker hinter uns gehen. „Schätzchen, ich vermute, es hat was mit den Pflanzen zu tun.“

„Das vermute ich auch. Trotzdem!“

„Trotzdem ist es okay, dass du selbst in verzweifelter Lage deinen Qualitätsanspruch bewahrt hast.“

„Habe ich nicht.“

„Ich hatte gerade den Eindruck, dass …?“

„Ja, aber vor Loiker gab es einen Anderen und der war … Egal. Werden wir jetzt nur noch über Sex sprechen, während wir in dieser Welt sind?“

„Keine Ahnung. Vielleicht würde ein Orgasmus zwischendurch helfen. Oder zwei. Oder fünf.“

Ich bleibe stehen. „Nichts lieber als das. Ehrlich. Aber allein, mit dir, ohne Lodi-Scheiß. Und ohne Bilder von einem Typen mit 69 Schwänzen im Kopf.“

„Das hört sich herausfordernd an, gebe ich zu“, meint sie grinsend.

„Wir sollten weiter gehen“, sagt plötzlich Loiker. „Ich glaube, wir erregen inzwischen etwas Aufsehen.“

Ich blicke mich um. Er hat recht. Die Leute schauen aus den Fenstern, einige kommen sogar heraus.

„Gib ihnen ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist!“, befiehlt Katharina dem Lustwächter, dabei schenkt sie ihm ein strahlendes Lächeln.

Roakan winkt den Leuten zu. Das scheint zu wirken, denn sie verlieren das Interesse an uns. Zum Glück sind wir sowieso nicht mehr weit entfernt von seinem Haus.

„Auf diese Familie bin ich auch gespannt“, murmele ich, während wir weiter gehen.

Ich mustere Reka. Sie gießt aus einer Kanne eine Flüssigkeit, die ich wenig vertrauenerweckend finde, in mehrere Becher.

Reka bemerkt meinen Blick und sagt lächelnd: „Du kennst doch bestimmt Skour, das wird ja überall getrunken.“

„Aha“, erwidere ich und bleibe skeptisch. Das Zeug ist rot und grün, wie fast alles hier. Reka, Roakans Frau, ja auch. Nur ihre Haare sind erstaunlicherweise nicht ganz so bunt, sie sind hellbraun. Die Augen hingegen leuchten grün-rot, sie trägt eine Art Hausanzug, dessen Oberteil rot und Unterteil grün ist, dazu grüne, offene Pantoffeln, fast wie Flip-Flops.

Überhaupt ist das eine Farbkombination, die in dieser Welt aus irgendwelchen Gründen weit verbreitet ist. Das wird mir so richtig klar, als Roakan mit Katharina und Loiker zurückkehrt. Er sollte Loiker neu einkleidet und damit er keinen Unsinn anstellt, wurden sie von Katharina begleitet. Sie trägt noch, wie ich auch, eine schwarze Hose, Halbschuhe und ein weißes Hemd. Eindeutig nicht von dieser Welt.

Loiker hingegen hat sich farblich angepasst, allerdings ist alles besser als der hautenge Spinnenanzug. Man sieht ihn auf jeden Fall von Weitem in seinem roten Hemd, der roten Hose und den grünen Stiefeln. Aus irgendeinem Grund erinnert er mich an Kosaken, obwohl die nicht so bunt gewesen waren.

Katharina grinst, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. „Jetzt sehen wir nicht mehr sofort, woran er denkt“, stellt sie fest.

Ich mustere sie streng. „Es gibt auch andere Möglichkeiten.“

„Och Schätzchen ...“ Sie tritt zu mir und nimmt mich in die Arme.

„Ihr bleibt doch zum Essen, oder?“, unterbricht Reka die sich anbahnende Romanze. Hm. Ob Liebe unter Frauen hier überhaupt erlaubt ist?

„Das ist leider nicht möglich“, antwortet Roakan. „Sie haben noch eine weite Reise vor sich.“

„Klar, wir bleiben gerne“, antworte ich.

Zum Glück können Blicke nicht töten, mich schon gar nicht, aber wenn sie es könnten, wäre ich jetzt nicht einfach nur tot, sondern sehr tot, und das möglichst qualvoll.

Wenn Reka davon etwas mitbekommt, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Sie deckt schnell, aber ohne Hektik den Tisch, und ruft nach den Kindern. Reoka und Roake kommen angerannt. Die Namensgebung in dieser Welt finde ich faszinierend. Auch ohne Familiennamen erkennt man Familienzugehörigkeiten sofort.

Faszinierend.

Beide Kinder tragen einen roten Hausanzug. Okay, vielleicht sind es nur die Uniformen aus Star Trek, nicht farbecht gewaschen. Ist mir eigentlich egal. Ich schätze das Mädchen auf neun, den Jungen etwa zwei Jahre jünger. Er hat grüne Augen und grüne Haare, bei ihr sind nur die Augen grün, die schulterlangen Haare sind weiß. Nicht grau, nicht blond, sondern weiß. Weißer noch als aschblond. Derjenige der Götter, der diese Welt entworfen hat, muss farbenblind sein. Das tut ja weh.

Zu essen gibt es etwas, das zumindest pflanzlich sein könnte.

„Das sind in Skour marinierte und kurz angebratene Skour-Flügel“, sagt Reka lächelnd, als sie unsere Blicke sieht.

„Flügel?“, erkundigt sich Katharina misstrauisch.

„Sie sehen aus wie Flügel, daher. Aber sie wachsen aus dem Boden, als Ableger von Sal-Nom. Wieso wisst ihr das eigentlich nicht?“

Katharina und ich sehen uns an. Auch ohne Worte sind wir uns einig, dass wir möglichst wenig reden sollten. Das geht sonst fürchterlich schief. Für uns möglicherweise auch, aber ganz sicher für Roakan. Vielleicht sollten wir ihn nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen. Er könnte das Handbuch ersetzen, aber erst, wenn wir unter uns sind.

„Ich glaube, ihr wolltet zeitig aufbrechen, wenn ich mich richtig erinnere“, bemerkt Roakan in die entstandene Stille hinein.

„Wieso willst du eigentlich unsere Gäste so dringend loswerden?“, erkundigt sich seine Frau stirnrunzelnd.

„Das will ich gar nicht. Sie haben es nun einmal eilig.“

Sie glaubt ihm offensichtlich kein Wort und beugt sich stirnrunzelnd über ihre Flügel.

Ich koste von dem, was auf meinem Teller liegt. Es ist definitiv pflanzlich, das stelle ich schnell fest. Und was es auch ist, es schmeckt gar nicht schlecht. Ob es an der Marinade liegt oder am Eigengeschmack, weiß ich nicht.

Roake mustert zwischendurch Katharina. Ob er wirklich nur sieben ist? Sein Blick bleibt für meinen Geschmack zu lange an ihrem Ausschnitt hängen. Sie bemerkt es auch und knöpft ihr Hemd amüsiert bis nach oben zu.

Schade eigentlich.

Fängst du jetzt auch schon an?, erkundigt sich die Andere.

War nur so ein Gedanke, erkläre ich mir. Ich kann es mir ja jederzeit ansehen.

Eben.

Ich steige aus dem langweilig Dialog aus und blicke Roakan mit einem Lächeln an. „Du wolltest uns noch ein Stückchen begleiten, wenn ich mich richtig erinnere. Ich hoffe, das Angebot gilt noch.“

Er starrt mich an und wie zufällig streichelt Katharina ihre ausgesprochen hübsche Stupsnase. Roakan räuspert sich, dann nickt er.

„Sehr gut. Nach diesem wirklich leckeren A... Essen brechen wir auch tatsächlich auf, wir haben noch einen langen Weg vor uns.“

„Was ist euer Ziel?“, fragt Reka.

Wollte ich nicht möglichst wenig reden? Scheiße.

Roakan, tatsächlich Roakan, rettet mich: „Schatz, das ist in gewisser Weise geheim. Sie dürfen dir nichts dazu sagen, es wäre unhöflich, sie in Verlegenheit zu bringen.“

Nach einem Moment nickt sie, etwas konsterniert. „Ich verstehe. Nun, ich hoffe, es schmeckt euch.“

„Oh ja, sehr lecker!“, antwortet Loiker mit vollem Mund und löst damit die Anspannung. Wenigstens ein bisschen. Und ich weiß wieder, warum ich ihn damals ausgesucht habe.

Nachdem wir Flügel gegessen und Skour getrunken haben, das übrigens erstaunlich gut schmeckt und irgendwie an einen Gemüse-Smoothie erinnert, verabschieden wir uns von Reka, Reoka und Roake.

Von Roakan nicht, was er sichtlich nicht gut findet. Aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen.

Diesmal nimmt Loiker das Schwert, er braucht schließlich nicht mehr die Hände, um seinen Dauersteifen zu verdecken. Ob er ihn überhaupt noch hat? Reka sah nicht ausgesprochen erotisch aus, Katharinas Brustansätze sind auch nicht mehr zu sehen, meine … Hm, meine schon.

Ich knöpfe mein Hemd auch bis oben zu, begleitet von Katharinas Stirnrunzeln. Dann wirft sie einen Blick auf Loiker und schüttelt den Kopf.

„Wo wollt ihr überhaupt hin?“, erkundigt sich Roakan.

„Ich habe keine Ahnung“, erwidere ich. „Was gibt es hier denn?“

„Wie meinst du das? Auf diesem Skeg? Die Stadt, in der wir uns befinden.“

„Das ist eine Stadt?“ Als ich seinen verwirrten Gesichtsausdruck sehe, füge ich schnell hinzu: „Vergiss es. Nein, ich meine, in dieser Welt.“

„In dieser Welt?“

So kommen wir nicht weiter. Wir gehen, zur Tarnung, langsam auf das Lustzentrum zu. Wie hieß das Ding nochmal? Ach so, ja, Vagy. Und dann? Klar, wir könnten von Skeg zu Skeg wandern, bei über 66 Tausend davon wären wir eine längere Zeit beschäftigt.

Da kommt mir eine Idee.

„Sag mal, Roakan, was macht ihr eigentlich, wenn ihr zu einem weit entfernten Skeg gehen wollt? Das dauert zu Fuß ja sehr lange.“

„Dann nehmen wir den Skonkan. Ihr wisst wirklich gar nichts?“

„Skonkan? Wo ist das?“

Er deutet stumm nach unten.

„Eine U-Bahn also?“

„Eine was?“

„Dieser Skonkan bewegt sich unterirdisch durch eine Höhle?“

„So könnte man das tatsächlich auch ausdrücken“, erwidert er nach kurzem Nachdenken und sichtlich verwirrt. „So hat es zwar noch niemand gesagt, aber irgendwie stimmt es.“

„Hm. Also gut, wie kommen wir da rein? Und wohin sollten wir dann fahren?“

„Fahren?“

So kommen wir nicht weiter.

„Zeige uns diesen Skonkan“, sagt Katharina. „Danach sehen wir weiter.“

Roakan nickt und hält auf das Lustzentrum zu. Wir gelangen ungehindert hinein, begeben uns allerdings nicht in die Mitte wie auf dem Enskeg, sondern biegen nach rechts ab und nehmen eine Treppe nach unten. Also doch eine U-Bahn. Warum hat er damit so ein Problem?

Dann wird es mir klar.

Es ist schlichtweg keine U-Bahn.

Roakan hält auf eine Vorrichtung zu, die ein wenig an den Turm eines U-Bootes erinnert. Eine Luke führt weiter nach unten, sie ist mit einem Geländer gesichert. Zwei Männer stehen daneben und halten lange Stangen mit gebogenen Enden in den Händen. Ein wenig wie überdimensionierte Schürhaken.

Ich schaue in die Öffnung. Über eine metallische Leiter gelangt man nach unten. Es ist dunkel, und obwohl ich im Dunkeln sehen kann, sehe ich nichts. Okay, nicht nichts. So etwa stelle ich es mir vor, wenn ein Regenwurm im Erdreich ein Loch gegraben hat und schon fort ist.

Das ist doch verrückt.

„Gibt es da unten … Würmer?“, erkundige ich mich.

„Den Skonkan“, antwortet Roakan und starrt mich an, genau wie die beiden Männer mit den überdimensionierten Schürhaken.

„Der Skonkan ist ein Wurm?“

„Nein, der Skonkan ist unsere Möglichkeit, schnell zu reisen. Das hast du doch gefragt?“

Ich nicke. „Okay, aber da ist nichts.“

Er sieht die beiden Männer an. „Ruft einen Skonkan!“

Jetzt bin ich ja gespannt, und meine Gefährten auch, das sehe ich ihnen deutlich an. Ich werfe einen Blick auf Katharina, die ihn nachdenklich erwidert.

Dann spüren wir ihn. Der Boden erzittert leicht. Und wieder. Und wieder. In einem absolut gleichmäßigen Rhythmus. Eigentlich ist es kaum zu merken.

Dann schiebt sich etwas durch den Tunnel unten in den sichtbaren Bereich. Sieht wirklich wie ein riesiger Wurm aus, mit einem Durchmesser von mindestens fünf Metern. Und jetzt sehe ich auch, was die rhythmische Erschütterungen auslöst. Das Wasauchimmer bewegt sich durch Kontraktionen und Dehnungen fort, so wie sich auch ein Regenwurm vermutlich bewegen würde. Bewegt hat. Ich hatte nie einen dabei beobachtet, aber so stelle ich es mir ungefähr vor.

Krass.

Dann bleibt er stehen und die beiden Männer greifen mit ihren langen Haken nach unten und ziehen den Rücken des Wurms auseinander, sodass darunter eine Tür sichtbar wird. Sie befestigen ihre Haken am Geländer, dann klettert einer von ihnen nach unten und öffnet die Luke. Sie führt in einen Raum, der mich an die Rohrpost im Kernel erinnert.

„Ach du Scheiße!“, sagt Katharina. „Ist das Ding lebendig?!“

„Es ist ein Skonkan“, erwidert Roakan.

Ich werfe einen Blick auf Loiker, der bleich geworden ist, dann zucke ich die Achseln und klettere nach unten. Katharina lässt Roakan und dann Loiker folgen, bevor auch sie nach unten kommt. Die Luke wird geschlossen.

Der Raum ist länglich, es befinden sich Sitzbänke rundherum. An einer Stelle ist eine Art Schalttafel wie aus den Anfänger der Telefonie in die Wand eingebaut. Zwei Hebel ragen daraus hervor.

Roakan tritt jetzt zu diesen und fragt nach unserem Ziel.

„Irgendwohin mit vielen Menschen“, antworte ich. „Und von wo aus man nach unten kommt.“

„Nach unten?“

„Hast du nicht gesagt, unten leben auch noch Menschen?“

„Da ist nur der Abschaum! Die Lustlosen!“

„Unwahrscheinlich, dass wir Sarah dort finden“, bemerkt Katharina.

„Meinst du? Rebellisch wie sie ist?“

„Hm. Auch wieder wahr.“

„Wer ist Sarah? Vielleicht kann ich euch helfen, sie zu finden.“

Ich mustere den Lustwächter, dann schüttele ich den Kopf. „Das glaube ich nicht. Also, bring uns irgendwohin, von wo aus wir nach unten kommen.“

Schweigend beginnt er, die beiden Hebel zu bewegen. Darüber erscheinen jetzt Zahlen auf einem Monitor. Eigentlich nur eine Zahl. Zum Schluss zieht er beide Hebel kurz zu sich heran, daraufhin setzt sich der … Wurm in Bewegung.

Und zwar erstaunlich gleichmäßig und schnell beschleunigend. Von den Erschütterungen, die von den Kontraktionen verursacht werden, ist kaum was zu merken.

„Stabilisatoren“, bemerkt Katharina auf meinen fragenden Blick hin. „Aber was ich nicht wirklich in den Schädel kriege, ist, dass das Ding hier etwas Lebendiges zu sein scheint. Vor allem, wie weiß es, wo es hin soll?“

Roakan zuckt die Achseln und setzt sich. „Das weiß ich auch nicht. Wir haben Ingenieure, die das wissen. Es interessiert mich auch nicht. Wichtig ist nur die Lust, alles andere dient einem untergeordneten Zweck.“

„Aha.“

„Wie lange ist es noch notwendig, dass ich euch begleite?“

Das ist allerdings eine gute Frage. Im Moment ist er unsere einzige Möglichkeit, in dieser Welt halbwegs normal unterwegs zu sein, ohne mehr als unbedingt nötig aufzufallen. Als Oberster Lustwächter ist er außerdem anscheinend mit einer gewissen Macht ausgestattet. Das birgt zugleich auch die Gefahr in sich, dass er vermisst und gesucht wird.

Und dann stellt sich auch noch die Frage, was wir mit ihm machen, sobald er überflüssig geworden ist. Auf welche Weise auch immer. Er weiß, wie wir aussehen, er weiß, dass wir nichts wissen, er weiß, dass wir offenbar nicht in diese Welt gehören, er weiß, dass wir keine gewöhnlichen Menschen sind. Er weiß ziemlich viel über uns und stellt dadurch ein echtes Risiko dar.

Ich möchte ihn nicht töten müssen, aber ihn einfach gehen zu lassen kommt auch nicht infrage.

„Hallo?“

Ich blicke Katharina fragend an.

„Wo zum Teufel warst du denn?“

Ich nehme sie am linken Arm und ziehe sie zur Seite. „Roakans Frage ist gut. Wir können ihn nicht einfach gehen lassen!“

„Ich weiß.“

„Würdest du ihn töten wollen?“

„Ungern, aber wenn es sein muss ...“

„Das hätte aber wiederum vermutlich zur Folge, dass man intensiv nach uns suchen würde. Er scheint wichtig zu sein.“

„Ist mir auch klar. Es ist ein Problem, das wir irgendwie lösen müssen. Aber nicht jetzt.“

„Und was antworte ich ihm? Er schaut bereits ziemlich besorgt drein.“

„Er ist ja nicht blöd und kann sich vorstellen, dass wir nicht ohne Grund so lange über die Antwort nachdenken.“

Ich kaue kurz auf meiner Unterlippe herum, dann trete ich vor Roakan.

„Hör zu, ich will dich nicht anlügen. Wir können dich nicht einfach so gehen lassen, dazu weißt du zu viel über uns.“

„Ihr wollt mich töten?!“

„Nur wenn du uns keine andere Wahl lässt.“

„Ich tue doch, was ihr wollt!“

„Weil du nicht sterben willst. Okay, pass auf. Ich will ehrlich zu dir sein, vielleicht ist das der beste Weg. Dass wir von dieser Welt keine Ahnung haben, hast du ja gemerkt.“

Er nickt düster.

„Ich werde dir nicht erzählen, wer wir sind und wo wir herkommen. Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Besser für dich, vor allem. Wir sind auch nicht wirklich freiwillig hier und möchten eigentlich niemandem schaden. Aber dir sollte bewusst sein, dass wir alle schon mal Menschen getötet haben. Auch mit den eigenen Händen und haben dabei den Sterbenden bis zum Ende in die Augen geschaut.“

Roakan schluckt, während ich ihn anstarre. Ob Loiker das wirklich schon getan hat, weiß ich eigentlich gar nicht, aber das spielt keine Rolle. Katharina hat es mit Sicherheit getan und ich auf jeden Fall. Ich denke an den Zauberer, der für Askans Tod maßgeblich verantwortlich war und den ich erwürgt und dabei beobachtet habe, wie das Leben förmlich aus ihm wich.

Ich zucke zusammen, als Katharina mich von hinten berührt. „Fiona ...“

Ich greife über meine Schulter und nehme ihre Hand. „Schon gut. Ich habe mich nur an etwas erinnert. Also, Roakan, eigentlich wollte ich dir nur deutlich machen, dass es eine ganz, ganz schlechte Idee wäre, etwas zu tun, was uns verärgern könnte. Du hast gesehen, auch wenn wir nicht die Götter sind, für die du uns zuerst gehalten hast, haben wir trotzdem Kräfte, die über die Kräfte gewöhnlicher Menschen hinausgehen. Ist dir das klar?“

Er nickt erneut. Ich mustere ihn. Er sitzt vor mir und ist förmlich in sich zusammengesunken, während ich mich über ihn beuge.

Tief durchatmend richte ich mich auf und setze mich neben ihn.

„Ich verspreche dir, dass wir dir nichts tun, wenn du uns hilfst. Ich glaube, die beiden können dir bestätigen, dass ich immer mein Wort halte.“

„Oh ja“, sagt Katharina. „Selbst wenn du dir damit manchmal schadest ...“

„Beispiele?“ Ich sehe sie fragend an, doch sie schüttelt nur den Kopf.

Achselzuckend wende ich mich wieder dem Lustwächter zu. „Also, wie sieht es aus? Erleichterst du uns allen das Leben?“

„Habe ich eine Wahl, wenn ich je meine Familie wiedersehen will?“

„Wie melodramatisch“, bemerkt Katharina.

Was ist denn mit der los?

„Ja, hast du“, antworte ich nach kurzem Zögern. „Je hilfreicher du bist, umso eher sind wir bereit, dich zu verschonen.“

„Was genau meinst du mit hilfreich?“, fragt er misstrauisch. „Soll ich mit euch allen Sex haben?“

Oh mein Gott! Katharina wendet sich prustend ab, Loiker verdreht nur die Augen. Ich starre Roakan entgeistert an.

„Das ist nicht nötig“, erwidere ich schließlich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe. „Um genau zu sein, das tust du auf keinen Fall. Wieso zum Teufel denkst du eigentlich ständig an Sex? Ja, ich weiß, Sex ist in dieser Welt irgendwie besonders wichtig, aber trotzdem!“

„Ohne Sex gebe es uns gar nicht.“

„Schon klar. Künstliche Geburten und so kennt ihr vermutlich nicht.“

„Darum geht es nicht. Die Menschheit wäre ohne Sex nicht überlebensfähig. Sex ist notwendig, damit wir zum Beispiel Strom haben.“

„Hm“, mache ich. „Das hast du schon mal erwähnt, aber ganz verstanden habe ich das nicht. Was meinst du damit?“

„Ist es hilfreich, wenn ich euch das erkläre?“

Der ist ja gar nicht so doof, wie ich zwischendurch mal gedacht habe.

„Sehr sogar!“

Katharina setzt sich neben mich und legt den rechten Arm um meine Schulter. Wir sehen beide den Lustwächter erwartungsvoll an. Loiker vermutlich auch, aber den habe ich nicht im Blickfeld.

„Also gut. Dass beim Sex Energie entsteht, genauer gesagt, beim Orgasmus, die wir speichern können, habe ich schon erwähnt. Diese Energie wird letztendlich Ygok zugeführt und wir bekommen von ihr dafür Strom.“

Ich sehe Katharina an. „Erinnert dich das an irgendwas?“

Sie nickt und gemeinsam blicken wir zu Loiker. Der zuckt die Achseln. „Scheint ein weltenübergreifendes Prinzip zu sein.“

„Ihr kommt aus einer anderen Welt?“, erkundigt sich Roakan mit leuchtenden Augen.

„Das ist kompliziert“, erwidere ich. „Ein einfaches Ja würde nicht ganz die Wahrheit wiedergeben und für die Wahrheit fehlt uns gerade die Zeit. Aber jedenfalls sind wir erst seit Kurzem in dieser Welt und haben keine Ahnung, wie sie funktioniert.“

„Wie sie funktioniert?“

„Na ja, was hier wichtig ist. Sie ist definitiv ganz anders als die, die wir kennen. Ich höre zum ersten Mal in meinem Leben davon, dass Sex direkt oder indirekt zur Stromgewinnung genutzt wird.“

„Aber ihr kennt Sex?“

„Durchaus“, antworte ich lächelnd.

„Zu dritt?“

„Nein. Nicht wirklich. Okay, erzähl uns von … was du vorhin erwähnt hast, diesem Ding, dem die Sexenergie zugeführt wird.“

„Ygok. Aber Ygok ist kein Ding! Ygok lebt in der Decke von jedem Skeg. Sie ist eine Wurzel, die sich durch jeden Skeg zieht.“

„Wurzel?“ Ich muss unwillkürlich an den Erdenbaum denken, und an die Wurzeln, die ich benutzt habe, um mich von Welt zu Welt hangeln. Den Ewigen Turm gibt es in diesem Universum auch, vielleicht sogar die Wurzeln? In unserem alten Universum war der Turm die physische Manifestierung der Weltenübergänge, die Wurzeln existierten aber in der Verborgenen Welt.

Das passt also nicht. Hm.

„Schätzchen, aufwachen!“

Ich starre Katharina an, die mich grinsend ansieht. Kopfschüttelnd wende ich mich dann wieder Roakan zu.

„Also gut, eine Wurzel, die sich durch fast siebzigtausend Skegs zieht?“

Er nickt.

„Gehören alle Skegs zusammen? Oder gibt es … Länder?“ Als er mich verständnislos anstarrt, fahre ich fort: „Haben alle Skegs eine Verwaltung?“

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ja, alle Skegs gehören zusammen. Alle Menschen auf den Skegs gehören zur Liebesgesellschaft, die von Szoki Bucca vor über 40 Generationen gegründet wurde.“

„40 Generationen?!“, entfährt es Katharina. „Wie alt ist er denn?“

„Etwas mehr 45 Generationen.“

„Was hat er denn die 5 Generationen davor gemacht?“

„Darüber nachgedacht, wie die ideale Gesellschaft beschaffen sein muss. Dann hat er seine Ideen umgesetzt und unsere Gesellschaft gegründet.“

„Aha.“ Ich beschließe, darüber nicht zu diskutieren. Letztlich haben wir keine Ahnung, wie diese Gesellschaft tatsächlich beschaffen ist und wenn sie wirklich seit ungefähr 3200 Jahren existiert, dann kann er nicht alles falsch gemacht haben. Allerdings fällt es mir schwer zu glauben, dass die Zeitangaben stimmen. „Also gut, du hast gesagt, die Menschen auf den Skegs gehören zu dieser Gesellschaft. Was ist mit den Menschen unten?“

„Teilweise. Sie sind die Lustlosen, die nicht in der Lage sind, zu unserer Energiegewinnung beizutragen. Manche sagen offen, dass wir ohne sie besser dran wären.“

Verdammte Scheiße, sind Menschen wirklich überall gleich dämlich? Hier gibt es also auch diese ideologische Scheiße von unwertem Leben! Das ist ja echt zum Kotzen!

Mein Gesichtsausdruck muss sehr erschreckend wirken, denn Roakan sieht plötzlich aus, als würde er befürchten, ich bringe ihn gleich um.

„Ich … ich war doch hilfreich!“

„Ja, klar“, murmele ich. „Ich will dir nichts tun.“

„So sahst du aber grad nicht aus“, stellt Loiker stirnrunzelnd fest.

„Loiker, was glaubst du, wie ich über die Augenlosen denke? Oder überhaupt, hast du den Eindruck gewonnen, ich wäre der Ansicht, dass es Menschen gibt, die weniger Recht auf Leben haben als andere?“

Er schüttelt stumm den Kopf.

„Nicht alle denken so“, sagt Roakan hastig. „Aber auch die Lustlosen verbrauchen Ressourcen, und es heißt, dass sie irgendwann aufgebraucht sein könnten.“

„Auch dieses Argument kenne ich“, erwidere ich.

„Welche Ressourcen überhaupt?“, erkundigt sich Katharina. „Ich meine, Sex dürfte nicht das Problem sein. Liegt es an der Wurzel?“

„Nein, nein! Zumindest ist uns davon nichts bekannt. Aber es gibt ja auch noch andere Ressourcen! Wir essen, wir trinken!“

„Was denn eigentlich? Pflanzen, oder?“

„Es ist das Sal-Nom. Sie dienen als Rohstoff für unsere Häuser, aber aus ihnen lässt sich alles herstellen, auch unsere Nahrung. Alles wächst aus dem Sal-Nom. Auch die Skour-Flügel, deren Saft ihr getrunken habt. Und die Skour-Flügel habt ihr gegessen, erinnert ihr euch?“

Ich nicke. „Ja. Und wo bekommt ihr das Sal-Nom her?“

„Wir bauen sie aus dem Boden der Skegs ab. Nicht überall, nur auf speziell dafür ausgewiesenen Skegs, den Pit-Skegs. Jeder Skeg besteht aus Sal-Nom.“

„Und ihr baut sie einfach ab?“, frage ich misstrauisch.

„Nur so viel, dass die Stabilität der Skegs nicht gefährdet wird. Es gibt viele unbewohnte Skegs, aus denen Pit-Skegs werden. Es heißt von einigen Gelehrten, dass das Sal-Nom mit der Zeit nachwächst. Aber das würde lange brauchen, wenn wir irgendwann zu viele werden, könnte es trotzdem eng werden.“

„Aber die Lustlosen leben doch gar nicht auf den Skegs. Wovon ernähren die sich?“

„Von den Tieren und Pflanzen unten.“

„Gibt es da auch Sal-Nom?“

Er schüttelt den Kopf.

„Leben die Menschen im Ghetto schlechter als die auf den Skegs?“, fragt Loiker.

„Ja, weil sie keine Gesellschaft bilden. Die Lustlosen gelten als Ausgestoßene. Sie bekriegen sich gegenseitig, sie haben auch keine Technologie, denn sie haben keinen Strom.“

„Hm“, sagt Loiker. Ich mustere ihn nachdenklich. Er erwidert meinen Blick. „Du hast recht, Fiona.“

Ich sage nichts dazu. Wozu auch? Wie Roakan darüber wirklich denkt, wird er uns wohl kaum verraten. Und selbst wenn er die Lustlosen auch verachtet, heißt das noch nicht viel. Die Menschen auf den Skegs sind vermutlich alle indoktriniert. Wobei, ist das wirklich eine Entschuldigung?

Nein, nicht wirklich. Oder vielleicht doch?

Ich muss mal wieder an die Schule denken, als wir den Nationalsozialismus durchgenommen hatten. Wie fassungslos ich war, als ich die Bilder der ausgemergelten Leichen und Überlebenden gesehen habe. Ich muss daran denken, wie immer und immer wieder in der Menschheitsgeschichte große Teile eines Volkes niedergemetzelt wurden. Diese Scheiße war und ist kein Vorrecht von Nazis, sie ist menschlich durch und durch. Das beweisen auch die Menschen dieses Universums, in der obersten Welt, in der Heimat von Loiker und hier ebenfalls.

Vielleicht bin ich die Auserwählte, nicht um die Universen zu retten, sondern um sie zu vernichten, damit das endlich aufhört.

Ich atme tief durch und sehe Katharina an, die meinen Blick erwidert und dann meine Tränen mit den Ärmeln abwischt.

„Scheiße, habe ich etwa schon wieder geweint?“

Sie nickt.

„Sorry, aber ich könnte ausrasten, wenn ich darüber nachdenke.“

„Dann lass es.“

„Einfach so?“

„Nein, nicht einfach so. Mein Schatz, du weißt, was ich alles gesehen habe. Es hat mich niemals kaltgelassen und es wird mich wohl niemals kaltlassen. Aber ich werde mich nicht davon aufreiben lassen. Dann hätten sie gewonnen.“

Ich brauche einen Moment, bis ich kapiere, wen sie meint. Und sie hat recht. Darum bin ich überhaupt hier. Darum bin ich nicht mit meinem Universum gestorben. Ist es das, was sie wollen?

Scheiß drauf, mich kriegt ihr so nicht klein!

Ich atme erneut tief durch, dann wende ich mich an Roakan.

„Wie kommen wir nach unten?“

„Nach unten?“

„Zu den Lustlosen.“

„Warum wollt ihr denn das tun?“ Sein Entsetzen ist echt. Er kann es nicht verstehen, wie denn auch?

„Das ist unsere Sache. Also, wie kommen wir nach unten? Wie hoch schweben die Skegs überhaupt?“

„Etwa fünf Skegs.“

„Bitte, was?“

„Die Skegs befinden sich etwa fünf Skegs über dem Boden.“

„Ein Skeg ist auch eine Längeneinheit?“

Er nickt.

„Ja, okay, das macht sogar Sinn. Ich schätze mal, ein Skeg ist etwas weniger als 10 Kilometer lang. Also 50 Kilometer. Hm.“

„Wie viel ist ein Kilometer?“, fragt Loiker.

Ich muss kurz nachdenken. „Etwa 23 Gat.“

„Okay, das ist recht hoch. Aber nicht so hoch wie das Spinnennetz, denke ich.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Wie auch immer. Wie kommt man runter?“

„Mit dem Aufzug“, antwortet Roakan.

„Wenigstens nicht mit einem Schmetterling“, bemerkt Katharina grinsend. „Das ist ja schon mal was.“

Ich ignoriere Roakans verständnislosen Gesichtsausdruck und hake nach: „Also gut, und wo gibt es den nächsten Aufzug?“

„Sie sind gut bewacht.“

„Welchen Teil meiner Frage hast du eigentlich nicht verstanden?“

„Ich habe deine Frage verstanden, aber ich denke, das Wissen, wo sich der nächste Aufzug befindet, würde euch nichts nützen, denn er ist so gut bewacht, dass ihr ihn nicht nutzen könnt.“

„Das lass mal unsere Sorge sein, okay? Wolltest du eigentlich nicht hilfreich sein?“

„Doch …“

„Hast du ihm vorhin nicht eigentlich gesagt, er soll uns irgendwohin bringen, von wo wir nach unten kommen?“, erkundigt sich Loiker. „Dann müsste es dort einen Aufzug geben.“

„Stimmt!“, rufe ich.

Roakan senkt den Blick.

„Da gibt es keinen Aufzug?“

Er schüttelt den Kopf.

„Hast du etwa gelogen?“

„Ich …“

„Halt, warte! Das ist schon ein ganz, ganz schlechter Anfang!“ Ich erhebe mich und stelle mich vor ihn. Als er auch aufstehen will, stoße ich ihn zurück. „Also, nochmal: Wir wollen irgendwohin, von wo aus wir nach unten kommen. Also zu einem Aufzug. Hast du es jetzt verstanden?“

„Ja, aber ...“

„Kein Aber!“

„Dann müsst ihr mich töten.“

„Wieso das denn?“

„Weil ich euch nicht zu einem Aufzug bringen kann. Sie werden von Lustwächtern streng bewacht.“

„Ach? Hast du nicht gesagt, du bist der Oberste Lustwächter?“

„Bin ich auch.“

Ich sehe die anderen beiden an. „Bin ich irgendwie zu blöd?“

Katharina schüttelt den Kopf, Loiker grinst nur.

„Nicht alle Lustwächter unterstehen mir“, erklärt Roakan und klingt ziemlich verzweifelt. „Einige unterstehen nur Szoki Bucca. Auch die, die die Aufzüge bewachen!“

„Es gibt also mehrere Aufzüge?“

„Ja, aber alle werden streng bewacht!“

„Von Lustwächtern, die sich von dir nichts sagen lassen, ja, schon klar! Na schön, und wo genau bringst uns dann bitte hin?“

„Auf einen Markt-Skeg.“

„Bitte, was?“

„Auf den Markt-Skegs werden die Lebensmittel und andere Sachen, die man braucht, verteilt.“

„Verteilt? Du meinst, verkauft?“

„Verkauft?“ Er blickt mich schon wieder so verständnislos an. „Ich verstehe nicht, was das bedeutet.“

„Oh. Geld kennst du dann wohl auch nicht?“

Er schüttelt stumm den Kopf.

„Es gibt alles kostenlos? Kann man sich nehmen, einfach so?“

„Alle nehmen sich, was sie brauchen.“

„Hm. Klar, wenn alle es von klein auf so lernen. Unglaublich. Funktionierender, echter Kommunismus in einer Welt, in der Menschen ficken müssen, um Strom zu erzeugen? Wer denkt sich denn so einen Schwachsinn aus?“

Katharina deutet kurz nach oben. „Deine Lieblinge?“

„Oder Engelkind. Oder Drachenkind. Oder Traumkind. Wäre interessant, warum die alle irgendwie etwas mit Kind heißen. Ich meine, sie benehmen sich schon irgendwie kindisch, aber das ist ja kein Vorrecht von Kindern.“

„Wollen wir jetzt darüber philosophieren, mein Schatz?“, fragt Katharina lächelnd. „Ich meine, die Frage ist schon berechtigt, aber vielleicht nicht so dringend. Warum willst du überhaupt nach unten?“

„Um Sarah zu finden.“

„Unten?“

„Das Thema hatten wir doch gerade schon.“

„Ja, ich weiß“, sagt sie seufzend. „Ich denke darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch hier oben irgendwo ist.“

„Du möchtest nicht nach unten?“

„Nicht wirklich. Aber das liegt wahrscheinlich eher an den letzten fünf Jahren.“

„Kann ich verstehen. Hast du eine andere Idee?“

Sie schüttelt den Kopf.

Ich denke kurz nach, dann wende ich mich wieder an Roakan. „Wie müssen wir uns so einen Markt-Skeg vorstellen? Stehen die Leute irgendwo in einer langen Schlange an, um zu bekommen, was sie haben wollen?“

„Ihr wart noch nie auf einem Markt?“

„Doch, aber auf dem Markt, den ich kenne, müssen die Sachen gekauft werden. Man bezahlt dafür. Mit Geld.“

„Wenn du so willst, wird auch hier bezahlt. Mit Energie für Ygok.“

„Okay, das habe ich jetzt verstanden. Also gibt es auf dem Markt viele Stände mit den unterschiedlichen Sachen, die man sich in den Mengen nehmen kann, wie man sie braucht?“

„Genau.“

„Und wer produziert sie?“

„Dafür haben wir Manufakturen.“

„In denen Menschen arbeiten, damit sie mit Energie bezahlen dürfen, um später die Sachen, die sie brauchen, kostenlos zu bekommen?“

„Ich glaube, du meinst das Richtige, auch wenn ich nicht ganz verstanden habe, was du gesagt hast.“

„Schon okay.“ Ich gehe auf und ab und spiele dabei mit meinem Zopf. „Nun gut, was meint ihr? Ich meine, theoretisch könnten wir auch umkehren, in den Turm gehen und uns die nächste Welt anschauen.“

„Das ist aber sehr theoretisch“, bemerkt Katharina. Sie sitzt jetzt neben Roakan, die Arme vor den Brüsten verschränkt, und beobachtet mich nachdenklich. „Die Chance, dass eine von beiden, wobei ich auf Sarah tippe, in dieser Welt ohne Erinnerungen herumirrt, ist sehr groß. Wir sollten das klären. Zeit haben wir doch ohne Ende. Oder hast du ein Meeting?“

„Du Arsch!“ Ich erwidere ihr Grinsen, auch wenn mir nicht wirklich danach ist. Aber sie hat recht. Außerdem sieht sie irgendwie erotisch aus, wie sie da sitzt. Ultrakurze Haare, die großen, blauen Augen, die vollen Lippen, und dann die Unterarme, die von unten gegen ihre Brüste drücken und diese noch größer erscheinen lassen. Hätte sie nicht vorhin mal das Hemd ganz zugeknöpft, würden sie jetzt herausplatzen.

Mann, Mann, wieso denke ich schon wieder daran? Und wie muss ich wirken? Okay, meine Titten sprengen sicher nicht das Hemd, egal, was ich mache.

Ich werfe einen kurzen Blick auf Loiker. Er sitzt mit ausgestreckten Beinen Katharina und Roakan gegenüber, mit dem Schwert auf dem Oberschenkeln, und schaut interessiert zu.

„Warum sagst du eigentlich nichts?“, frage ich ihn.

Er zuckt die Achseln. „Was soll ich denn sagen? Zurück kann und will ich nicht, ansonsten habe ich keine Ahnung, was sinnvoll ist oder nicht. Außer, was ihr beschließt. Ich kann höchstens sagen, dass ich Katharinas Argumentation nachvollziehen kann. Es sei denn, du hast ein Meeting.“

„Du bist auch ein Arsch“, teile ich ihm mit. „Na schön, ihr habt ja recht. Das bedeutet aber, dass wir zu einem Aufzug müssen. Katharina und ich könnten ...“ Ich halte inne, denn vielleicht sollte Roakan nicht erfahren, dass Loiker ein gewöhnlicher Sterblicher ist.

„Da kann ich euch nicht helfen, so gerne ich das auch täte“, bemerkt Roakan.

„Sicher kannst du das. Auch wenn die Lustwächter nicht auf dich hören, kannst du uns trotzdem zu einem der Aufzüge führen. Der Rest ist unsere Sache.“

„Schon die Skegs, auf denen sich die Aufzüge befinden, werden gut bewacht.“

„Warum eigentlich?“

„Es sind die Skegs mit den Gefängnissen.“

„Okaaay … In gewisser Weise ist das ja logisch. Gut, wir machen das folgendermaßen … Was denn?“

Ich sehe Loiker fragend an, der Katharina anschaut und dabei grinst.

„Du bist es gewohnt, das Kommando zu haben, nicht wahr?“, erwidert er.

„Ja. Und? Jemand muss es ja machen.“

„Genau. Ich habe kein Problem damit. Du machst das gut.“

Ich sehe Katharina an.

„Da hat er recht“, bemerkt sie.

„Ihr seid doof. Okay, Roakan, wir sehen uns erst einmal diesen Markt an. Ich schätze, da laufen auch viele Lustwächter herum, die auf dich hören?“

Er nickt.

„Wenn du hilfreich bist, geschieht niemandem etwas. Aber nur dann. Du wirst also einfach so tun, als würdest du uns herumführen. Lass dir einen guten Grund einfallen, falls wir gefragt werden.“

„Das werden wir nicht. Ich bin der Oberste Lustwächter.“

„Umso besser. Aber falls einer von den Lustwächtern das vergessen sollte, musst du eine gute Antwort parat haben. Wie lange dauert die Fahrt eigentlich noch?“

„Etwa zehn Skes.“

„Na toll. Und wie lange ist das? Oder warte. Was genau bedeutet ein … Ske?“

„Ja, Ske. Das ist die Zeit, die ein Skonkan bei Höchstgeschwindigkeit für die Durchquerung eines Skegs braucht.“

„Wie sinnig. Aber das hilft mir nicht wirklich. Kannst du abschätzen, wann ein Ske vorbei ist?“

Als er nickt, beginne ich zu zählen, etwa im Sekundentakt. Bei 120 sagt er Stopp.

„Hm. Zwei Minuten. Wenn ein Skeg fast zehn Kilometer lang ist, dann fährt das … Ding mit etwa 300 km/h. Wow!“

„Fast so schnell wie dein Kombi“, sagt Katharina lächelnd.

„Weißt du, dass du nicht nur ein Arsch bist, sondern auch noch doof obendrein?“

„Jetzt weiß ich es.“

„Dann ist ja gut.“

Ich setze mich rittlings auf ihre Oberschenkel und tue so, als wären Roakan und Loiker nicht da. Die Stirn gegen ihre Stirn gedrückt, sage ich leise: „Sorry.“

„Kein Problem. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Dabei berühre ich ihre Lippen. „Ich bin verdammt nahe dran, die verbleibende Viertelstunde sinnvoll zu nutzen, egal wer zuschaut.“

„Eine Viertelstunde wäre dir genug?“

„Genug?“

„Schon gut“, erwidert sie lächelnd. „Meinst du es ernst?“

„Ja und nein. Halt mich bitte fest.“

Sie legt ihre Arme um mich und drückt mich an sich. Ich schließe die Augen und versuche, an nichts zu denken.

Völlig aussichtslos.

Fiona - Liebe

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