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2. Tante Siegrid

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Ja, Tante Siegrid. Eine komische Person aber auch eine herzensgute Frau. Wie der Volksmund sagt: Raue Hülle mit weichem Kern.

Schon früh hat sie ihren Mann durch einen tragischen Unfall verloren. Ein Arbeitsunfall, wie er in dem Gewerk der Holzfällerei häufig passiert. Beim Fällen von Rotbuchen hatte ein brechender Ast ihn so unglücklich erwischt, dass er wenige Tage nach dem Unfall an inneren Blutungen verstarb. So stand sie, damals war sie Anfang dreißig, allein da und wie das Schicksal es wollte, hatte sie auch später keinen Mann mehr im Dorf gefunden. Sicherlich, sie hätte weggehen und in eine Stadt ziehen können, um sich dort einen Mann zu nehmen. Aber ihr Herz hing an dem Dorf und an den Kindern, die sie in der Dorfschule bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1910 unterrichtete. Weit und breit war dies die einzige Schule der Umgebung.

Am 5. April 1912 fuhr ich also zur Tante Siegrid. Natürlich waren wir uns schon mal begegnet, aber da war ich noch ein Kleinkind von zwei Jahren und konnte mich an diese Begegnung nicht mehr erinnern. Mutter hatte mir davon erzählt.

»Du bist Franz, nicht wahr? Ich bin deine Tante!«

»Guten Tag Tante Siegrid. Danke das sie mich abholen.«

»Och, mein Lieber. Ich weiß, du bist gut erzogen. Sei trotzdem nicht so förmlich. Lass das Sie sein, sag einfach Tante zu mir.«

»Ja, Tante Siegrid. Es ist schön, hier zu sein.«

»Danke Franz. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Komm, wir müssen in diese Richtung gehen. Ich werde dir alles zeigen und dann wirst du dein Zimmer beziehen. Wenn du fertig bist, werden wir zu Abend essen. Sicherlich hast du großen Hunger, ein junger Kerl wie du! Morgen stelle ich dich in unserer Schule vor. Je eher umso besser. Wir haben hier nette Lehrer und brave Kinder. Es wird dir gefallen.«

Die Begrüßung war herzlich und genauso wie mein Vater es mir noch zuhause ausgemalt hatte. In gewohnter Manier bestimmt die Tante gleich, wie es weitergehen würde. Es schien mir auch eine gewisse Verlegenheit in ihren Aktivitäten zu stecken. Da gab es keine Widerrede und ehrlich gesagt, ich bin gar nicht auf die Idee gekommen nicht das zu tun, was die Tante mir vorschlug. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich ihre Gastfreundschaft eine lange Zeit in Anspruch nehmen musste. Und sie war immer für Überraschungen gut!

Im Dorf angekommen, führte mich Tante Siegrid vor ein kleines Haus.

»Hier wohne ich! Komm, lass uns hinein gehen.«

Drinnen sieht es gemütlich aus. Sie hatte für mich ein Zimmer direkt unter dem Dach vorbereitet. Der Blick aus dem Fenster ist befreiend. In geringer Entfernung ist die Giebelseite eines großen Gebäudes zu sehen. Davor stehen zwei alte Linden, die erhaben ihre Kronen in den Himmel strecken. Hier ist alles so frei, so großzügig. Nicht so eingeengt, wie es bei uns zuhause war. Trotzdem, mir fehlte schon jetzt die gewohnte Umgebung und meine Eltern. Ich vermisse es sehr, dass was für mich Heimat ist.

Am 16. April 1912 erreichen die ersten Gerüchte unseren kleinen Ort. Die Titanic sei in der Nacht vom 14. auf den 15. April gesunken sei. Keine näheren Informationen.

Tante Siegrid versucht alles, etwas über meine Eltern in Erfahrung zu bringen. Leider ohne Erfolg. Mit meinen 13 Jahren verstehe ich noch nicht so richtig, was dieses Unglück für meine Zukunft bedeuten kann.

Am 17. April steht in den Zeitungen, dass die Passagiere von anderen Schiffen aufgenommen werden konnten und sich auf dem Weg nach New York befinden. Alle seien gerettet.

Wir fallen uns in die Arme und sind sehr glücklich.

Am 18. April legt die Carpathia mit Überlebenden des Unglücks im Hafen von New York an. Nun gibt es die ersten glaubhaften Berichte. Von vielen Opfern ist die Rede.

Alles was bisher in den Zeitungen stand, war falsch. Die Presse musste ihre Nachrichten berichtigen. Die Angehörigen trifft es hart.

Am 24. April streiken die Heizer der Olympic, die Überlebende des Unglücks nach Southampton bringen sollen. Auslöser des Streiks sind die wenigen Rettungsboote an Bord der Olympic. Die Fahrt wird daraufhin abgesagt.

Am 26. April erhält Tante Siegrid von der Emdener Werft die Nachricht, dass meine Eltern vermutlich unter den Opfern sind.

Tante Siegrid ist völlig fertig. Das Hin und Her, die Ungewissheit der letzten Tage haben sie zermürbt. Mir geht es nicht besser. Trotzdem behalte ich noch Hoffnung. Bislang haben uns im Prinzip nur unbestätigte Gerüchte erreicht.

Die Zeitungen berichteten nun täglich über das Unglück. So erfahren wir, dass seit dem 20. April der Kabelleger Mackay-Bennet, geführt von Kapitän Lardner, vor Ort ist und mit der Bergung der Opfer begonnen hat. Die Opferzahl ist so hoch, dass Kapitän Lardner telegrafisch ein weiteres Schiff anfordert. Es wurde die Minia gechartert.

Beide Schiffe bergen aus der kalten See 306 Opfer. Wegen des Platzmangels an Bord der Schiffe werden 116 Frauen, Männer und Kinder direkt vor Ort seebestattet.

Mitte Mai ist es für uns Gewissheit! In den Zeitungen wurden die Namen der Opfer veröffentlicht. Meine Eltern sind darunter. Man hat ihre Körper der See übergeben. Unglaubliche Trauer überkommt mich. Ich habe alles verloren, Eltern und Heimat. Meine Kindheit war mit einem Schlag ausgelöscht.

Meine Tante nahm mich nun ganz unter ihre Fittiche. Mit den paar Sachen, die ich für die geplanten Tage bei mir hatte, nahm sie mich auf.

Vorerst gab es nicht anderes, zumindest so lange nicht, bis der auch der Amtsschimmel den Tod meiner Eltern bestätigte. Danach kam ich an meine Sachen ran und an das kleine Vermögen meiner Eltern.

Eine große Hilfe waren die Leistungen der Freunde und Kollegen meines Vaters, die für meine Ausbildung einen Beitrag überwiesen. Außerdem wurde mir eine gute Stellung in der Werft in Aussicht gestellt. So war für meine Zukunft gesorgt und natürlich war ich gerne bereit in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, um mindestens ebenso beliebt und geachtet zu sein, wie er es war.

Die gestohlene Jugend

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