Читать книгу Essentielles Sein - A.H. Almaas - Страница 11

Wer bin ich?

Оглавление

Vor einiger Zeit habe ich die Frage gestellt: „Warum seid ihr hier?“ Bei einer anderen Gelegenheit habe ich gefragt: „Seid ihr hier?“ Ich weiß nicht, ob ihr bei diesen Fragen geblieben seid und sie für euch selbst untersucht habt. Heute werde ich eine dritte Frage stellen, die eine natürliche Weiterentwicklung dieser Fragen ist: „Wer seid ihr?“

Die Antwort auf diese Frage ist keine Formulierung. Wenn also euer Kopf eine herbeizaubert, dann beachtet sie nicht. Wir werden erforschen, ob es möglich ist, die Frage zu beantworten: „Wer bin ich?“ Ich werde euch keine Antworten geben, aber ich werde euch helfen, die Untersuchung zu führen, indem ich euch Fragen stelle, und ihr könnt sie erforschen, während wir sprechen.

Man sagt immer: „Ich bin ...“ und „Ich möchte ...“; wir wollen also sehen, was „ich“ ist. Wir setzen nicht von vornherein voraus, daß es so etwas wie ein „Ich“ gibt. Wir wollen nicht mit Annahmen beginnen. Wir gehen also nicht davon aus, daß es eine Antwort gibt oder daß es eine einzige Antwort gibt oder daß es keine Antwort gibt. Wir gehen nicht davon aus, daß die Antwort, wenn es eine gibt, in Worten ausgedrückt werden kann. Wir wollen für alle Möglichkeiten offen sein. Wir wollen die Frage in vollkommener Offenheit stellen, bei einer vollkommenen Abwesenheit von Annahmen. Diese Untersuchung wird allein auf unserer Neugier und auf unserem Interesse beruhen, die Wahrheit zu finden. Was ist die Wahrheit, die es hier für euch gibt?

Wenn ihr fragt: „Wer bin ich?“, dann fällt euch vielleicht etwas ein wie: „Ich bin derjenige, der dies und jenes getan hat.“ Oder: „Ich bin einsfünfundachtzig groß.“ oder: „Ich wiege sechundsiebzig Kilo.“ Feststellungen, Bilder und Wahrnehmungen kommen euch vielleicht in den Sinn. Wir sagen nicht, daß ihr all das nicht seid, wir wollen vielmehr erforschen, ob ihr das seid oder nicht.

Wir gehen nicht von der Annahme aus, daß ein Selbst gefunden werden kann, oder daß man es, wenn es gefunden werden kann, beschreiben kann. Wir wollen untersuchen, wer ihr seid - ob es wirklich so etwas gibt, und wenn es so etwas gibt, was es ist und ob man es kennen kann. Ihr denkt wahrscheinlich: „Natürlich habe ich ein Selbst, und ich weiß, was es ist, oder wenn ich es nicht weiß, dann werde ich es eines Tages wissen.“ Ich sage euch also, geht nicht von dieser Annahme aus. Ihr sagt: „Moment mal, was ist dann noch übrig?“ Nichts ist übrig - das ist der Punkt.

Ihr merkt, wir gebrauchen die Wörter „Ich“ und „Selbst“, und wir denken, fühlen und verhalten uns, als gäbe es hier etwas, daß unser „Selbst“ ist. Wir haben schon ein Gefühl oder eine Ahnung, daß es ein „Selbstsein“ (selfhood) gibt, daß es ein „Ichsein“ (me-ness) gibt. Jetzt wollen wir untersuchen, was es mit diesem Gefühl eines Selbst auf sich hat. Was ist dieses Gefühl, eine Person, ein Selbst, eine Identität zu sein? Worauf bezieht ihr euch, wenn ihr sagt: „Ich bin“, „Ich möchte“, „Ich mag“, „Ich mache“ oder „Ich mache nicht“?

Ihr habt in der Vergangenheit vielleicht eine Erfahrung gehabt und dabei das Gefühl gehabt: „Das bin ich.“ Vielleicht hat das gestimmt, vielleicht nicht. Auch wenn es stimmt ist, daß ihr euch damals selbst erkannt habt, habt ihr jetzt vielleicht ein anderes Selbst. Wir wollen wissen, was eure Erfahrung jetzt ist. Wir wollen genau hier sein, genau in diesem Moment. Laßt uns erforschen, was wir glauben, statt es ungeprüft vorauszusetzen. Wenn ihr erfahren habt, was ihr als euer wahres Selbst wahrnehmt, dann kann es leicht sein, daß ihr denkt: „Ich habe mich selbst erfahren und das ist es. Von jetzt an werde ich immer glücklich sein.“ Gut, das kann sein, aber wir wollen wissen, wie es genau jetzt ist. Könnt ihr die Frage mit Bestimmtheit beantworten, ihr selbst in genau diesem Moment, wenn ihr fragt: „Wer bin ich?“

Etwas, das uns bei unserer Untersuchung helfen kann, ist, das Gefühl von „Ich“, das Gefühl eines Selbst, mit dem zu verbinden, was man „Identität“ oder „Identifikation“ nennt. Herausfinden, wer ihr seid, heißt in erster Linie eure Identität finden. Ihr könnt die Verbindung zwischen Identität und Identifikation sehen, wenn ihr eure Erfahrung irgendeines Augenblicks betrachtet und seht, daß ihr euch genau in dem Moment mit etwas identifiziert, daß ihr euch für etwas Bestimmtes haltet. Ihr seid euch dessen, wofür ihr euch haltet, vielleicht nicht bewußt, aber in jedem Moment haltet ihr euch für etwas oder für jemanden.

Wir wollen also untersuchen, für was oder für wen ihr euch in jedem Moment haltet, und es hinterfragen. Seid ihr das wirklich? In jedem Moment gibt es eine Identifikation, in gewissem Sinn das Empfinden eines Selbst: „Ich schaue zu“ oder „Ich sitze“. Wenn ihr „ich“ sagt, dann ist dieses „Ich“ an etwas gebunden. Ist das, woran ihr das „Ich“ festmacht, das, was ihr wirklich seid?

Wenn ihr zum Beispiel meditiert – wer meditiert dann? Wer sitzt in diesem Moment? Seid eurer Erfahrung gewahr. Schaut, ob ihr diese Frage beantworten könnt. Was ist es, woran ihr das „Ich“ festmacht? Wer bin ich, der sitzt? Mit größter Wahrscheinlichkeit werdet ihr sehen, daß ihr das „Ich“ an eurem Körper festmacht. Es ist der Körper, der sitzt. Wenn ihr also sagt „Ich sitze“, sagt ihr dann damit nicht: „Ich bin der Körper“? Ihr haltet euch nicht für ein Gefühl oder eine Wahrnehmung, weil Gefühle nicht sitzen, weil der Geist (mind) nicht spazierengeht. Der einzige Teil, der sitzt, geht und sich bewegt, ist der Körper.

Wir sehen, daß die Identifikation mit dem Körper mächtig und beständig ist. Sie ist viel subtiler und tiefer, als wir uns gewöhnlich vorstellen. Natürlich können sich manche Menschen nichts anderes vorstellen - „Was könnte ich denn sonst sein?“ Es ist nicht leicht, die Identifikation mit dem Körper aufzulösen, weil wir uns unser ganzes Leben lang für unseren Körper gehalten haben. Ich sage nicht, daß ihr irgendetwas tun müßt, um das zu ändern; ihr sollt euch nur bewußt sein, daß das der Fall ist. Seid ihr euch wirklich bewußt, daß ihr glaubt, euer Körper zu sein?

Wenn wir „mein Körper“ sagen, wem gehört dann der Körper? Wenn ich „ich selbst“ (myself) sage, dann ist das genauer, aber was genau bedeutet das? Wer ist es, der einen Körper hat und ein Selbst hat? Wen meint ihr, wenn ihr sagt: „Ich habe einen Körper“? Was ist das „Ich“? Es macht keinen Sinn zu sagen: „Ich habe ein Ich“ oder „Selbst hat ein Selbst“. Gibt es ein großes Selbst, das ein kleines Selbst hat?

Verwirrt euch das? Das ist gut. Ihr seid verwirrt, und die ganze Zeit habt ihr gedacht, ihr wüßtet. Ein Grund für diese Untersuchung besteht darin, euch zu zeigen, daß ihr nicht wirklich wißt.

Seht euch jetzt selbst, wie ihr da sitzt und schaut. Wer schaut? Beobachtet jetzt einmal nur euch selbst, wie ihr sitzt und schaut. Was schaut? Was erfahrt ihr? Ihr sagt: „Also ich schaue durch meine Augen und denke in meinem Kopf.“ Was schaut mit euren Augen? Was denkt in eurem Kopf? Was glaubt ihr, was ihr seid?

Ihr seid eine Präsenz, die da sitzt. Was ist die Präsenz, die ihr erfahrt? Hat sie eine Form? Sehr wahrscheinlich seht ihr gleich, daß die Form eurer Präsenz die Form eures Körpers zu sein scheint. Auch wenn ihr nicht glaubt, euer Körper zu sein, definiert die Form eures Körpers wenigstens, wer ihr seid. Wir wollen damit nicht sagen, daß diese Identifikation schlecht oder falsch ist. Das wissen wir nicht. Wir wollen einfach erforschen - ist das wahr?

Ihr könnt die Untersuchung weiterverfolgen, indem ihr eure gegenwärtige Erfahrung betrachtet. Was ist für euch „ich“?, Was glaubt ihr in eurer Erfahrung genau dieses Moments was ihr seid? Wenn ihr euch bewußt werdet, daß ihr euch selbst für den Körper haltet, dann führt das Bewußtsein der Identifikation gewöhnlich zu deren Auflösung. Ihr fangt an zu sehen, daß ihr vielleicht doch nicht der Körper seid. Was seid ihr dann?

Wenn ihr euch in diesem Moment nicht für euren Körper haltet, wofür haltet ihr euch dann? Ihr habt vielleicht ein Gefühl von Identität oder das Gefühl, daß ihr ein Wesen (entity) seid. Was ist dieses Gefühl? Ihr assoziiert es vielleicht mit eurem Geist (mind). „Es scheint ein Gefühl von einem Selbst zu geben, und das scheint in meinem Körper zu sein, aber es ist nicht mein Körper selbst.“ Was ist das Ich, das ein Selbst hat? Ist es ein Gefühl? Ist es eine Sinneswahrnehmung? Ist es ein Gedanke oder ein Strom von Gedanken, den ihr „Selbst“ nennt? Ist es eine emotionale oder mentale Reaktion, die ihr „Ich“ nennt? Oder ist es etwas, das mit der Vergangenheit verbunden ist? Haltet ihr euch für all das, was euch in der Vergangenheit widerfahren ist?

Normalerweise definieren wir uns durch Erinnerungen: „Ich bin dann und dann geboren worden, mit diesen Eltern, unter diesem Sternzeichen und so weiter. Meine Mutter ließ mich im Stich; meine Mutter hat mich geliebt. Ich bin zur Schule gegangen, konnte sie nicht leiden und bekam trotzdem lauter Einsen. Ich habe erst mit 21 mit jemandem geschlafen, deshalb war ich frustriert. Ich wurde schwanger und hatte eine Abtreibung. Ich war verheiratet, aber das hat nicht gehalten – und so weiter.“ Stimmt’s? So definiert ihr euch. Könnt ihr euch euch selbst vorstellen, euch beschreiben, ohne solche Erinnerungen zu gebrauchen?

All die Dinge, die geschehen sind, die ganze Sammlung, ist nicht von dem getrennt, wofür ihr euch haltet. Das mentale Gefühl von Identität und das emotionale Gefühl eines Selbst sind von all dem, was ihr erlebt habt, nicht zu unterscheiden. Es ist, als wäre alles, was ihr in eurem Leben erlebt habt - alle Ereignisse, Gefühle, Emotionen, Reaktionen, gute und schlechte Erfahrungen, eure ganze Geschichte -, von dem untrennbar, wofür ihr euch jetzt haltet. Eigentlich ist es das, wodurch ihr euch gewöhnlich kennt.

Aber was hat das, wer und was ihr seid, mit eurer Geschichte zu tun? Eure persönliche Geschichte ist die eures Körpers. Wenn ihr sagt: „Ein Auto hat mich angefahren“ - wer wurde von einem Auto angefahren? Wenn ihr sagt: „Man hat mich im Stich gelassen“ – was ist für euch das, was eure Mutter im Stich gelassen hat? „Ich wurde geboren“ – was wurde geboren? Ihr bezieht all diese Ereignisse, all diese Erinnerungen auf euren Körper. Dieser Körper bewegt sich durch Raum und Zeit, und all diese Dinge sind ihm passiert. Entweder haltet ihr also den Körper für euch selbst, oder ihr nehmt das, was ihm passiert ist, und bildet ein amorphes Konstrukt, eine Art psychologische Identität, die euer gegenwärtiges Identitätsgefühl bestimmt. Und irgendwie habt ihr das Gefühl, daß sie eure Zukunft bestimmt.

Jetzt seid ihr euch vielleicht bewußt, daß ihr euch mit dieser persönlichen Geschichte und ihrem kollektiven Gefühl von Selbstsein (selfhood) identifiziert. All das hat ein Etikett, das man „Ich“ nennt. Was ist dieses Etikett? Wenn man diese persönliche Geschichte nimmt, um sich zu definieren, dann sind alle eigenen Erfahrungen eingeschlossen, auch Erfahrungen von Selbstverwirklichung, Erleuchtung und Essenz. Man nutzt auch diese Erinnerungen, um sich zu definieren. Zum Beispiel erinnert man sich vielleicht an ein Erlebnis, das man vor etwa zwei Monaten hatte, bei dem man sein wahres Selbst erfahren hat, und jetzt glaubt man, das man das ist. Diese Erfahrung wurde zu Nahrung für die eigene persönliche Geschichte. Man versucht, jetzt eine Identität zu erzeugen, indem man sich daran erinnert. Wer sagt, daß es das ist, was man jetzt ist? Seid ihr immer dasselbe? Wenn ihr eine Erinnerung nehmt, um euch zu definieren, dann spielt es keine Rolle, woran ihr euch erinnert - Gutes, Schlechtes, Grundlegendes, Oberflächliches, Wahres oder Falsches. Alles sammelt sich in eurer persönlichen Geschichte an. Sogar eine Erfahrung eures wahren Selbst kann erinnert und der Sammlung hinzugefügt werden. Aber euer wahres Selbst ist keine Anhäufung oder Sammlung.

Geheimnisvoll, nicht wahr? Jetzt sagt ihr vielleicht: „Moment mal. Wenn ich nicht der Körper bin und wenn ich nicht mein Gefühl meiner persönlichen Geschichte bin – wer bin ich dann? Ich stehe vor etwas Neuem.“ Wenn ihr sagt: „Ich stehe vor etwas Neuem,“ dann fragt ihr euch: „Soll ich davor Angst haben oder mich danach sehnen? Soll ich darauf hoffen oder sollte ich mich davor fürchten? Sollte ich darauf zugehen oder mich dagegen wehren?“ Wer seid ihr also in diesem Moment? Identifiziert ihr euch nicht mit eurer persönlichen Geschichte? Und will diese persönliche Geschichte nicht eine weitere Erfahrung haben, um mit Sicherheit zu wissen, wer sie ist?

Angenommen ich könnte euch sagen, wer ihr wirklich seid. Was würde das ändern? Wenn ich sagte: „Ja, du hast ein Selbst, und es fühlt sich so und so an und es macht das und das.“ Na und? Es ist einfach ein weiteres Stück Information, das ihr in eurem Kopf (mind) speichern und eurer persönlichen Geschichte hinzufügen könnt. Es ist nicht einmal eine Erfahrung - es ist eine Erinnerung, die nicht einmal euch selbst gehört.

Ist es möglich, nicht nur euren Körper zu betrachten und eure Identifikation mit ihm zu sehen, sondern auch eure persönliche Geschichte objektiv zu betrachten, ohne daß ihr euch mit ihr identifizieren müßt? Ist es möglich, die Totalität eurer Persönlichkeit auf einmal anzuschauen? Meistens identifiziert ihr euch mit dieser Totalität. Ihr seid mitten darin, wie in einem Medium, zum Beispiel einer Wolke, und ihr laßt euch von der Atmosphäre dieser Wolke definieren. Ist es möglich, euch dessen bewußt zu werden, daß ihr das tut? Könnt ihr eure Erfahrung in diesem Moment betrachten und sehen, wie ihr euch mit eurer persönlichen Geschichte identifiziert? Seid ihr euch bewußt, wie schwer es ist, sich von solchen Gedanken und Erinnerungen und Vorstellungen von euch selbst loszulösen?

Versucht nicht, euch loszulösen. Seid nur gewahr, daß ihr euch nicht loslöst. Wir versuchen nicht, irgendetwas zu machen, wir versuchen nur zu sehen. Wir wollen nur sehen, was wirklich da ist. Und alles, was ich tue, ist, euch anzuleiten, hierhin und hierhin und hierhin zu schauen. Das ist alles. Wie gesagt, wir forschen. Wir gehen nicht notwendigerweise von der Annahme aus, daß es eine bestimmte Antwort gibt oder daß die Antwort auch nur gefunden werden kann. Wir forschen einfach, und bisher habe ich euch nichts verraten.

Wenn ihr die Totalität auf diese Weise betrachtet, werdet ihr sehen, daß es Muster gibt, die sich nicht zu verändern scheinen. Ihr habt euch immer für dieselbe Person gehalten. Ihr habt euch vielleicht ein wenig verändert - vielleicht mögt ihr jetzt andere Dinge, vielleicht seid ihr jetzt glücklicher, aber im allgemeinen seid ihr dieselben geblieben. Ihr denkt immer noch genauso wie früher. Ihr habt immer noch ähnliche Gefühle, oder ihr reagiert auf Dinge genauso, wie ihr früher auf sie reagiert habt. Persönliche Geschichte hat eine verschwommene Art von Konsistenz und Kontinuität, die uns ein Gefühl von Identität vermittelt. Das Identitätsgefühl ist nichts als ein Etikett, ein Gefühl, das auf einer Sammlung von Erinnerungen beruht.

Es ist ein bißchen wie ein Film. Wenn ihr euch einen Film anschaut, dann scheint er etwas Kontinuierliches zu sein, aber wenn ihr ihn anhaltet, dann seht ihr, daß es hier ein Bild gibt und ein Bild hier und so weiter. Eure Erinnerungen sind eine Serie von Bildern, genau wie ein Film. Sie sind Bilder, die zusammengesetzt eine Bewegung ergeben, so daß man ein Gefühl von Kontinuität hat, das man für die Definition seiner selbst benutzt. Eure persönliche Geschichte definiert, wer ihr seid, worum es bei euch geht. Eigentlich definiert sie, wie es euch jetzt geht und was ihr tut, wenn ihr mit dieser Untersuchung aufhört.

Seht ihr, wie schwer es ist, sich davon zu lösen? Ihr könnt euch nicht erlauben zu sagen: „Vielleicht muß ich ja gar nicht durch diese Dinge definiert sein. Vielleicht muß ich gar nicht wissen, wohin ich gehe, wenn ich diesen Raum verlasse.“ Denn dann denkt ihr gleich: „Moment mal. Ich werde total aufgeschmissen sein. Ich verliere mein Gedächtnis und man wird mich ins Krankenhaus bringen und man wird mir Medikamente geben müssen, damit ich mich daran erinnere, wer ich bin. Also halte ich mich besser an meine Erinnerungen, an meine Identität. Jetzt habe ich eine Orientierung. Ich weiß, wer ich bin, und deshalb bin ich sicher.“ Aber wie kann so irgendetwas Neues geschehen? Was immer auch passiert, es ist schon von diesen Dingen vorherbestimmt.

Vielleicht seid ihr schlau und sagt: „Ich weiß, daß ich das tue, aber ich weiß es zugleich besser. Ich weiß, daß ich nicht wirklich meine persönliche Geschichte bin. Ich erfahre jetzt einen essentiellen Zustand. Er fühlt sich wunderbar an, wie eine Art Liebe. Das bin doch ich, oder?“ Wenn ihr diese Zustände für euch selbst haltet, dann gebt Acht. Seid euch bewußt, wofür ihr euch haltet. Ist dieser essentielle Zustand das, was ihr vor einer Stunde gefühlt habt? Wenn er nicht da war, wer wart ihr damals? Essenz manifestiert sich auf verschiedene Weise. Vor einer Stunde wart ihr vielleicht ein anderer Aspekt. Das Einzige, was ihr wirklich wißt ist, daß ihr euch an eine Erfahrung erinnert, und jetzt ist da eine andere Erfahrung. Was läßt euch denken, daß sie das ist, was ihr seid? In ein paar Augenblicken werdet ihr wieder etwas anderes erfahren.

Zum Beispiel sagt ihr vielleicht: „Ich bin zur Zeit wirklich unglücklich“ oder „Ich bin wütend“. Was meint ihr? Sind diese Aussagen korrekt? Gibt es ein „Ich“, das diese Dinge fühlt? Ja, euer Körper hat Gefühle und Empfindungen von Unglücklichsein, und euer Kopf (mind) hat Vorstellungen und Assoziationen von Unglücklichsein, aber warum glaubt ihr, daß ihr selbst unglücklich seid? Vielleicht denkt ihr, daß ihr eure Gefühle seid. Seid ihr wirklich wütend oder seid ihr einfach einer Wut im Körper und in eurem Geist (mind) gewahr? Spekuliert nicht, schaut einfach das an, was da ist.

Wir sehen also, daß ihr zu verschiedenen Zeiten einmal euren Körper, dann ein Gefühl, dann einen essentiellen Aspekt für euch selbst haltet. Euer Identitätsgefühl verändert dauernd sein Etikett. Wofür ihr euch haltet, verändert sich dauernd. Der Inhalt verändert sich, aber ihr sagt immer „ich“, als wäre das „Ich“ ein einziges Ding.

Ist es möglich, des ganzen Prozesses gewahr zu sein? Ist es möglich, der Tatsache gewahr zu sein, daß ich jetzt mit meinem Körper identifiziert bin, jetzt mit einem Gedanken, jetzt mit einer Erinnerung, jetzt mit meinem Gefühl - des Prozesses der Verschiebung des Festmachens der Identität mal an diesem und mal an jenem gewahr zu sein? Wenn es das ist, was wir tun, warum es dann nicht erforschen?

Bedeutet das, daß es kein „Ich“ gibt, daß es kein wirkliches Selbst gibt? Ist es nur eine Sache von Identifikation, von Festhalten an einer Sache nach der anderen ohne Kontinuität? Wenn das so ist, dann gibt es kein Selbst, kein Du und kein „Ich“, sondern nur Reihen von Ereignissen, von Sachen, an denen wir uns festmachen, und von Identifikationen. Das könnte die Antwort sein. Aber schauen wir, ob es andere Möglichkeiten gibt. Wir sehen, daß unser Gewahrsein, unser Bewußtsein sich ausdehnen und mehr und mehr umfassen kann.

Wenn ihr euer Identitätsgefühl an etwas Bestimmtem festmacht – wie macht ihr das? Was geschieht dann wirklich? Wenn ihr das Gefühl habt, der Körper zu sein, dann durchdringt dieses Gefühl. Was tut ihr, das euch dazu bringt zu glauben, ihr selbst wäret der Körper? Warum nicht einfach empfinden, daß da ein Körper ist? Warum sagen „Ich bin mein Körper“? Was geschieht, wenn ihr sagt „Ich sitze und spreche“ statt „Ich bin eines Körpers gewahr, der sitzt und spricht“. Was geschieht da? Und ihr macht dasselbe mit eurer persönlichen Geschichte, mit eurem psychologischen Gefühl von Identität. Warum nicht sagen „Ja, da ist eine Wahrnehmung“ oder „Da ist eine Erinnerung“ statt zu sagen „Das bin ich“?

Wie vollzieht sich diese Identifikation? Wir müssen den Prozeß des Anhaftens an etwas (attachment) beobachten. Wir müssen den Prozeß des Etikettierens beobachten. Wenn wir diese Fragen untersuchen, dann finden wir einen gedanklichen Prozeß, der mit Konzepten arbeitet. Es gibt ein Konzept eines Selbst, einer Identität, und wir meinen, daß wir das brauchen. Es gibt auch Spannungen im Körper, die diesen gedanklichen Prozeß begleiten. Und die Spannungen in unserem Körper, der gedankliche Prozeß und die Empfindung des Anhaftens an unserer Identität gehören zusammen; sie sind untrennbar.

Nun ist es möglich, dieses gedanklichen Prozesses und des Prozesses des Festhaltens und damit des Spannungsmusters im Körper gewahr zu sein, ohne irgendetwas ändern zu müssen. Statt uns durch diese Gedanken, Spannungen und Empfindungen zu definieren, warum sie nicht als eine Totalität, als ein Bewußtsein (awareness) anschauen, statt als eine Begrenzung oder Selbstdefinition? So daß ein Bewußtsein da ist, das die Gedankenprozesse und Assoziationen – physische wie emotionale – beobachtet, aber nicht notwendigerweise in sie verwickelt ist. Was kann die Totalität unserer gedanklichen Prozesse, die Spannungen im Körper, die Emotionen, den Körper an sich, die persönliche Geschichte, einfach alles anschauen? Was ist das, was schauen kann? Was kann all das umfassen?

Es geht nicht darum, darüber nachzudenken. Wenn ihr darüber nachdenkt, dann seid dessen gewahr, daß ihr darüber nachdenkt. Es geht nicht darum, es zu visualisieren. Wenn ihr anfangt zu visualisieren, dann seid des Versuchs zu visualisieren gewahr. Und indem ihr so eurem Gewahrsein (awareness) folgt, werdet ihr sehen, daß es euch deshalb nicht möglich ist, der Totalität gewahr zu sein, weil es Gedanken gibt, mit denen ihr beschäftigt seid. Ihr steckt in bestimmten Gedanken, in bestimmten Spannungen fest, die euch mitten in der ganzen Sache festhalten. Ich fordere euch nicht auf, das anzuschauen, was schaut, sondern euch einfach aller Dinge auf einmal gewahr zu sein - der Totalität. Auch des Teiles, der schauen möchte - ist es ein Gedanke, eine Spannung im Körper, eine Erinnerung?

Ist es möglich, nicht nur euch selbst zum gegenwärtigen Zeitpunkt anzuschauen, sondern die gesamte Zeitspanne, euer ganzes Leben? Ist es möglich eine allgemeines Empfinden davon zu haben, daß es ein ganzes Leben gibt, das vom Anfang bis jetzt Kontinuität hat? Was ist das, das all das umfaßt?

Könnt ihr euch aus dieser Geschichte lösen, aus eurer Identifikation, welche das auch gerade sein mag, indem ihr der Identifikation gewahr seid? Identifiziert ihr euch in diesem Moment mit dem Teil von euch, der wissen möchte, was ich sage? Wenn ihr dessen gewahr seid, kommt euer Gewahrsein der gesamten Situation aus dem Inneren eures Körpers? Gibt es etwas in eurem Körper, das hinausschaut? Wenn eure Aufmerksamkeit aus dem Inneren eures Körpers schaut, ist es dann möglich, euch davon zu lösen, gewahr zu sein, daß ihr daran festhaltet, in eurem Körper zu sein?

Wenn wir diese Untersuchung fortsetzen, dann sehen wir, daß manche unserer Identifikationen durch unsere Vorstellungen von Zeit begrenzt sind und manche durch unsere Vorstellungen von Raum. Wir benutzen Raum und Zeit, um uns zu definieren. Muß das so sein? Was geschieht, wenn ihr nicht Raum und Zeit benutzt, um euch zu definieren? Wenn ihr nicht eure persönliche Geschichte benutzt? Wenn ihr nicht eure Vorstellungen von Innen, Außen, Groß, Klein und so weiter benutzt? Was wenn ihr einfach der Bewegung gewahr seid, die darin besteht, euch auf etwas innerhalb eures Körpers einzuschränken, wenn ihr gewahr seid, wie ihr euch groß oder klein macht, innerhalb oder außerhalb eures Körpers ansiedelt?

Eure Gedanken rasen jetzt vielleicht. Seid des gedanklichen Prozesses gewahr. Dies ist keine Sache des Denkens; der Gedankenprozeß wird von eurer persönlichen Geschichte bestimmt. Aber es ist möglich, dessen gewahr zu sein, worüber wir sprechen. Wenn ihr also nicht versucht, eine Identität zu erfinden, indem ihr euren Körper benutzt, indem ihr eure Gefühle, Gedanken, Erinnerungen oder die Vorstellung von Raum und Zeit benutzt, was geschieht dann?

Es geht hier nicht darum, etwas dadurch zu wissen, daß man in der Lage ist, es zu benennen. Es geht darum, einfach dessen gewahr zu sein, worüber wir sprechen. Ihr braucht keine Entscheidungen zu treffen, ihr braucht euch an nichts zu erinnern. Ihr braucht nichts von der Arbeit, die ihr in der Vergangenheit getan habt. Ihr braucht gar nichts. Wir betrachten einfach die Situation in diesem Moment. Es geht nicht darum, euch von etwas zu befreien, es geht nicht darum etwas zu tun. Es geht nicht darum, eine bestimmte Erfahrung zu machen. Wir untersuchen, was ihr meint, wenn ihr „ich“ sagt.

Wenn wir dies alles jetzt sehen, bleibt dann immer noch ein Empfinden von „ich“ übrig? Woran macht ihr das „Ich“ in diesem Moment fest? Und wenn ihr das „Ich“ an nichts festmacht, könnt ihr dann die Totalität eures Universums sehen - alles was ihr jemals gedacht, gefühlt, erfahren, euch vorgestellt habt, all das zusammen und auf einmal? Könnt ihr das ganze Universum sehen, für das ihr euch haltet?

Ihr steckt euch selbst in eine Form, in eine Schachtel, und die begrenzt euch. Wenn ihr die Schachtel von allen Seiten betrachten könnt, dann seid ihr offensichtlich nicht das, was in der Schachtel ist. Vermögt ihr diese Wahrnehmung zuzulassen, dann könntet ihr vielleicht sehen, daß ihr mehr seid als all das, daß ihr über all das hinausgeht. Ihr seht dann vielleicht, daß euer Universum euch nicht definiert und euch nicht definieren darf. In dem Moment, in dem ihr von diesem Universum oder von einem Inhalt darin definiert seid, sitzt ihr in der Falle. Ihr seid mittendrin, ihr seid in ihm. Ihr seid all den Kräften innerhalb dieses persönlichen Universums ausgeliefert. Erlaubt ihr euch, das Ganze zu sehen, dann vermögt ihr zu sehen, daß ihr tatsächlich nichts davon seid. Es ist nicht nötig, an diesem Universum oder einem Teil davon festzuhalten oder euch durch dieses Universum oder einen Teil davon zu definieren. Und dieses Universum kann weiter bestehen, auf welche Weise auch immer, ohne daß ihr es für euch selbst halten müßt.

Allein schon die Tatsache, daß ein vollständiges Gewahrsein der Totalität möglich ist, weist darauf hin, daß sie euch nicht definieren muß. Allein die Tatsache, daß ihr das Ganze umfassen könnt und damit eure Kapazität immer noch nicht ausgeschöpft ist, weist daraufhin, daß ihr größer seid als all das. Der Augenblick, in dem ihr einer Sache gewahr werdet, ist der Moment, in dem ihr über sie hinausgeht. In dem Moment, wo ihr sagt „Ich bin das“, seid ihr bereits darüber hinaus.

Wenn wir unseren Etiketten glauben, wenn unsere Identität irgendein Inhalt ist, dann definieren wir uns und lassen keine Ausdehnung über diese Vorstellung von uns hinaus zu. In dem Moment, in dem ich sage: „Ich wurde zu dem und dem Zeitpunkt geboren.“, definiere ich mich mit dem Körper. Aber wenn mir klar wird, daß ich meine Geburt benutze, um den Beginn meines Lebens zu bezeichnen, kann ich erkennen, daß das „Ich“ überhaupt nicht geboren wurde. Wie kann etwas, daß dieser ganzen Totalität gewahr sein kann, geboren werden? Wie kann es sterben? Was hat es mit Zeit zu tun?

Finden wir also eine Antwort? Finden wir die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“? Oder sehen wir, daß wir jedesmal, wenn wir sagen „Das bin ich“, das eben nicht sind, weil unser Gewahrsein (awareness) es umfassen kann? Was wir finden, ist eine paradoxe, widersprüchliche Art von Antwort. Es ist weder Finden noch Nichtfinden einer Antwort.

Wir legen nur Dinge bloß, von denen ihr denkt, daß ihr sie wißt. Wenn euch das verwirrt, dann ist das gut, weil die Verwirrung sowieso schon da ist. Ihr habt sie durch den Glauben überdeckt, ihr wüßtet. In diesem Augenblick wißt ihr wahrscheinlich nicht, wer ihr seid.

Seit langem sagt ihr aus Gewohnheit: „Ich sitze oder stehe auf, ich spreche, ich bin traurig.“ Aber sind solche Aussagen korrekt? Wenn ihr diese Annahmen in Frage stellt, dann fragt ihr euch vielleicht, warum ihr diese Dinge immer wieder sagt. Warum sage ich das immer wieder? Wer sagt das? Was ist dieses „Ich“? Ihr seht, daß solche Aussagen nicht korrekt sein können. Betrachtet ihr die Dinge so, dann seht ihr, daß ihr schon seit Jahren verwirrt gewesen seid.

Ihr fragt euch vielleicht: „Was habe ich nur die ganze Zeit gemacht?“ Ihr habt vielleicht das Gefühl, daß ihr eure Zeit verschwendet habt. Aber für wen denn haltet ihr euch, der eure Zeit vergeudet hat? In dem Moment, in dem ihr sagt, daß „ich“ etwas getan habe, dann macht ihr Annahmen über ein „Ich“. Es ist nicht nötig, über das nachzudenken, was ihr getan und nicht getan habt, da das, wovon ihr denkt, daß „ihr“ es getan habt, davon abhängt, wofür ihr euch gehalten habt. Die Vergangenheit ist vollkommen irrelevant. Vollkommen.

Das Wissen der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich nur im Augenblick ein. Die Antwort hat nichts mit der Vergangenheit zu tun. Wenn die Vergangenheit die Antwort im gegenwärtigen Augenblick bestimmt, dann ist es offensichtlich keine korrekte Antwort, da die Vergangenheit nicht mehr existiert. Um die Frage wirklich beantworten zu können, müssen wir sehen, daß wir die Antwort nicht wissen, und auch, daß wir nicht wissen, wie wir sie finden können. Ist es möglich, euch selbst einzugestehen, daß ihr die Antwort nicht kennt und auch nicht wißt, wie ihr sie finden könnt, und dabei die Frage „Wer bin ich?“ doch in euch brennen zu lassen?

„Wer bin ich?“

Können wir es uns erlauben zu sehen, daß wir nicht wissen? Wenn wir annehmen, wir wüßten, dann beenden wir die Untersuchung. Wenn wir annehmen, wir wüßten, wie wir diese Frage anzugehen haben, dann nehmen wir an, daß wir die Antwort bereits kennen und wissen, wonach wir suchen. Vielleicht besteht das wirkliche Wissen darin, nicht zu wissen. Wenn ihr euch erlaubt zu sehen, daß ihr nicht wirklich wißt, und daß ihr nicht wißt, wie ihr wissen könnt, dann kann etwas geschehen. Vielleicht ist das eure erste Chance, wirklich etwas zu wissen. Die Annahmen, daß ihr wißt, und daß ihr wißt, was zu tun ist, sind Barrieren für wahres Wissen. Wenn ihr schließlich wißt, daß ihr nicht wißt, dann habt ihr endlich absolutes Wissen. Vollkommene Unwissenheit ist das, was zu wahrem Wissen führen wird.

Ihr seht, der Verstand (mind) hat hier keine Funktion. Diese Untersuchung hat nichts mit eurem Verstand zu tun. Euer Verstand kann nur die Frage beantworten und feststellen, daß manche der Antworten nicht die Antworten sind. Das einzige, was wir tun können, ist zu eliminieren, was wir zu wissen glauben, und sehen, daß wir in Wirklichkeit nicht wissen. Das ist alles, was wir tun können. Wir können nichts Positives tun, um zu beginnen, etwas herauszufinden, weil wir in dem Moment, in dem wir das tun, bereits annehmen, daß wir wissen, wohin wir gehen. Woher wißt ihr, was geschehen sollte? Dieses Wissen ist aus der Erinnerung, aus vergangener Erfahrung abgeleitet.

Wenn ihr seht, daß ihr nicht wißt und auch nicht wißt, wie ihr wissen könnt, dann könnt ihr mit all den Aktivitäten aufhören, durch die ihr zu wissen sucht, und dann wird vielleicht etwas geschehen. Vielleicht ist eine andere Art von Wissen möglich, ein Wissen, das vollkommen frisch ist. Es ist auch möglich, daß das Wissen nur im Nichtwissen besteht. Vielleicht werdet ihr nur wissen, daß ihr nicht durch etwas von dem definiert seid, wodurch ihr euch gewöhnlich definiert, und daß es keine andere Weise gibt, euch zu definieren. Ihr wißt vielleicht nur, daß ihr undefinierbar seid und das Wissen, daß ihr undefinierbar seid, Freiheit ist. Vielleicht ist das also die endgültige Definition von euch. Aber das ist eine Erfahrung, eine Einsicht, und nicht nur eine logische Schlußfolgerung.

„Wer bin ich?“ ist eine sehr persönliche Frage. Sie ist auf ganz intime Weise eure Frage. Sie ist nicht theoretisch, und sie ist auch nicht etwas, das ihr nur durch Nachdenken beantworten könnt. Niemand anders kann sie für euch beantworten. Sie muß zu eurem eigenen persönlichen Problem werden. Und was immer geschieht, während ihr die Frage untersucht, ihr müßt ihrer nur gewahr sein. Ihr müßt nicht zu Schlußfolgerungen gelangen. Es ist ein Forschen mit offenem Ende. Und was immer ihr findet, braucht ihr nicht in Worte zu fassen.

Gibt es Fragen?

Schüler: Es klingt so, als wolltest du sagen, daß du das Gefühl hast, Freiheit sei umgekehrt proportional zur eigenen Selbstdefinition.

A.H. Almaas: Ja. Wenn du dich definierst, dann schränkst du dich ein. Die Tatsache, daß du dich definierst, weist darauf hin, daß es etwas Größeres als die Definition gibt.

S: Ich merke, daß ich alle paar Jahre den Wunsch verspüre, mit ganz wenig Gepäck in ein fremdes Land zu reisen. Es ist so, als nähme ich eine Pause von mir selbst, und das fühlt sich sehr frei an.

AH: Das ist ein Versuch, einen gewissen Abstand von deiner persönlichen Geschichte zu bekommen. Viele Menschen haben das Gefühl, daß sie eine Pause von sich selbst brauchen. Viele Leute fahren deshalb in Urlaub. Aber du siehst, Veränderung des physischen Raums kann zwar ein wenig helfen, das Wichtige aber ist, aus der persönliche Geschichte herauszukommen, und die nimmst du in deinem Geist (mind) mit.

Viele Menschen fühlen dieses Bedürfnis und versuchen auf vielerlei Weise, Abstand von ihrem persönlichen Leben zu gewinnen. Eine solche Möglichkeit ist ins Kino gehen oder in einen Roman eintauchen. Warum gehen Menschen ins Kino? Um zu fliehen, um einen Miniurlaub von sich selbst zu nehmen. Ihr geht in einen dramatischen Film, laßt euch ganz mitreißen und vergeßt euer Leben. Ihr seid ganz jemand anders. Das ist der Urlaub, und wenn der Film dann vorbei ist, kommt ihr gleich wieder zurück.

Das, wovon wir hier sprechen, ist viel radikaler. Diese Frage wirklich zu beantworten, heißt vollkommen außerhalb eurer persönlichen Geschichte und unbeeinflußt von ihr zu sein. Das kann nur durch eine radikale Transformation im Inneren geschehen – dadurch, daß ihr wirklich unmittelbar seht, daß ihr nicht diese Geschichte seid, nicht dadurch, daß ihr versucht, aus ihr herauszukommen.

S: Ich nehme an, das kleine Muster meiner Probleme ist eine andere Definition meiner selbst; also reise ich in ein fremdes Land, um eine Pause von ihnen zu machen, und bekomme stattdessen eine ganze Reihe neuer Probleme, mit denen ich umzugehen habe.

AH: Richtig. Du definierst dich als ein Mensch, der Probleme hat und Urlaub von seinen Problemen machen muß. Du tauschst also eine persönliche Geschichte gegen eine andere aus. Das löst die Probleme nicht, führt aber im Moment zu einer gewisse Erleichterung.

All diese Versuche, einschließlich der inneren Arbeit, sind einfach ein Neuordnen persönlicher Geschichte, damit wir sie als eine Totalität sehen können. Meistens ist unsere persönliche Geschichte so arrangiert, daß wir vollkommen in sie verwickelt sind. Wenn wir die innere Arbeit tun, ordnen wir die Teile neu, damit wir sie anschauen können. Wenn ihr sie anschaut, dann ist es möglich, über sie hinaus zu schauen.

Die innere Arbeit hilft euch, die Teile zu sehen, und je mehr ihr das tut, desto größer werden die Teile, die ihr seht, desto größer ist das Bild, das ihr seht – bis ihr die ganze Sache sehen könnt. Wenn das geschieht, dann ist es möglich zu sehen, daß es etwas jenseits all dieser Dinge gibt.

S: Ich denke, ich bin zu der inneren Arbeit gekommen, um meiner Klaustrophobie und meiner Festgefahrenheit zu entkommen.

AH: Du möchtest wieder freikommen, oder? Aber wenn du freikommen willst, dann definierst du dich als Mensch, der festgefahren ist. Wenn du dich selbst als jemanden siehst, der feststeckt, dann bewirkt vielleicht gerade das, daß du feststeckst. Es ist Teil der persönlichen Geschichte - jemand zu sein, der feststeckt. Ich behaupte nicht, daß du dich nicht so fühlst. Ich sage nur, betrachte es anders.

S: Meinst du, daß immer, wenn man eine Totalität sieht, diese zu einem weiteren Teil wird, und daß immer, wenn man diesen Teil sieht, er sich wieder ausdehnt?

AH: Nein, nicht unbedingt. Ich sage, daß du immer, wenn du eine Totalität definierst, über sie hinausgehst. Wenn du das, was darüber hinaus ist, definierst, dann kannst darüber hinausgehen; aber „darüber hinaus“ bedeutet nicht definiert.

S: Ich kann mir nicht vorstellen, „darüber hinauszugehen“, solange ich nicht sterbe. Für mich geschieht all das, wovon du sprichst, Menschen, wenn sie sterben und ihren Körper verlassen.

AH: Das heißt, du identifizierst dich mit deinem Körper, oder? Weil du sagst: „... solange ich nicht sterbe.“ Aber was ist das, was stirbt? Verstehst du? Sieh also einfach, daß du dich mit deinem Körper identifizierst, und deshalb hast du das Gefühl, nicht darüber hinausgehen zu können. Ich behaupte, daß es möglich ist, die Identifizierung zu lösen, ohne zu sterben.

Mit der Rede ist das so eine Sache. Ihr müßt auf eure Rede achten, weil sie eine Falle sein kann. Wenn ihr glaubt, was ihr sagt, dann sitzt ihr in der Falle. In dem Moment, in dem ihr sagt „... solange ich nicht sterbe“ und das glaubt, seid ihr gefangen. Ihr denkt vom Körper aus. Natürlich müßt ihr euren Namen, euer Geburtsdatum und so weiter benutzen – aus praktischen Gründen. Aber das ist der einzige Grund, aus dem ihr eine Identität braucht. Man braucht sie nicht psychologisch. Und ihr braucht sie nicht für eure Existenz.

S: Wozu ist es gut, wenn ich herausfinde, wer ich bin? Warum auch nur den Versuch machen, das zu tun?

AH: Das wirkliche Selbst hat nichts davon; es ändert das wirkliche Selbst nicht. Aber für den Verstand spielt es eine große Rolle, weil der nicht ruhen kann, bis er die Antwort hat. Für mich spielt es keine Rolle, ob ich mich kenne, weil das wirkliche Selbst immer da ist. Aber für meinen Körper und meinen Geist (mind) gibt es mehr Ruhe, gibt es mehr Frieden, gibt es mehr Lust und mehr Entspannung, wenn ein Wissen (knowingness) da ist, daß ich jenseits von all dem bin.

Ob es für irgendetwas gut ist, ist vollkommen irrelevant. Die Frage stellt sich aufgrund der einfachen Tatsache, daß ihr nicht wißt. Diese Frage ist eine Aussage, und die Aussage lautet, daß ihr nicht wißt, wer ihr seid. Ihr könnt nicht nicht wissen, wer ihr seid, und nicht diese Frage stellen. Es ist unmöglich. Ihr könnt so tun, als wüßtet ihr, um die Frage für eine Weile zum Schweigen zu bringen, aber solange ihr nicht wißt, ist die Frage immer da. Wir versuchen oft, uns gegenüber der Unausgefülltheit, die mit der Frage verbunden ist, abzustumpfen. Aber das kann man nur um einen hohen Preis tun – eine Verminderung des Lebens.

Die Leute würden die Frage abwürgen, sie zum Schweigen bringen. Es gibt zwei Motive hinter diesem Begehren: nicht leiden wollen, und das tiefere Motiv, daß die Frage beantwortet werden muß. Die Frage stellt sich, weil ihr die Antwort nicht wißt. Und sie wird sich weiter stellen, sie wird euch begleiten, bis sie beantwortet ist. Sie hat eine eigene Kraft. Das ist eine Tatsache, ein Naturgesetz. Das Fragen ist immer da, bis es schließlich keine Frage mehr gibt.

Essentielles Sein

Подняться наверх