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Der Abgrund

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Jeder von uns hat ein zentrales Bedürfnis: in seinem Leben einen Sinn zu finden. Dieser Trieb liegt vielleicht nicht offen zutage, er ist vielleicht nicht einmal bewußt. Aber wenn ihr die Situation untersucht, dann werdet ihr den Einfluß dieses Triebes bei den meisten Aktivitäten und Sorgen in eurem Lebens erkennen. Philosophie, besonders die Philosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts in Form des Existentialismus und der Phänomenologie, befaßt sich zum großen Teil mit der Frage der Leere und der Sinnlosigkeit des Lebens. Ich glaube, daß dieses Interesse in der Philosophie – wie auch in der Literatur und den Künsten – ein zunehmendes allgemeines Bewußtsein des Sinnthemas widerspiegelt.

Manchmal stellt ein Mensch den Sinn des Lebens ausdrücklich in Frage. Meistens aber sind die Menschen mit den Aktivitäten und Unternehmungen beschäftigt, die ihrem Leben vermeintlich Sinn und Bedeutung geben. Selten gelangen wir zu dem Punkt, in Frage zu stellen, weil wir gewöhnlich versuchen so zu tun, als wüßten wir die Antwort bereits. In der Hoffnung, daß sie ihrem Leben Sinn geben, kreieren die Menschen alle möglichen Ziele. Zu diesen Zielen gehören im allgemeinen Pläne, in der Zukunft etwas zu erreichen, wie zum Beispiel kreativ, erfolgreich und reich sein, reisen können, gewinnen und so weiter. Denkt an die Liedzeile: „What’s it all about, Alfie? Is it just for the moment we live?“ (“Und wozu das alles, Alfie? Ist das alles nur für den Moment, den wir leben?“) Vielleicht. Vielleicht leben wir nur für den Augenblick. Philosophie ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten. Letztlich kann man Philosophie als die Wissenschaft vom Sinn sehen. Doch die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht nur eine intellektuelle Übung. Wenn ein Mensch wirklich sein Leben in Frage stellt, dann fühlt sich das nicht intellektuell an. Es fühlt sich an, als hätte das Leben keinen Wert, keinen Sinn. Auch wenn wir uns dieses Themas nicht bewußt sind, haben wir dauernd damit zu tun, selbst bei unseren alltäglichen Aktivitäten. Auch wenn wir andere Sorgen haben, ist dieses Thema zentral und liegt unseren offensichtlicheren Sorgen oft zugrunde.

Eine andere Möglichkeit, die Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“ zu betrachten, könnte sein: „Was ist die Bedeutung des Lebens? Warum tue ich das, was ich jeden Tag tue? Wozu morgens aufwachen, auf die Toilette gehen, meine Zähne putzen, mich waschen, frühstücken, zur Arbeit gehen, mit Menschen sprechen, nachhause kommen, zu Abend essen, mich gut unterhalten, schlafen gehen? Jeden Tag mache ich diese Dinge. Wozu das alles? Ein Tag reicht, wenn ich diese Dinge kennenlernen will. Ich brauche nur einmal zu essen, um zu wissen, wie essen ist. Warum mache ich dann immer weiter? Was habe ich davon?“

Ich stelle eine fundamentale Frage, damit ihr darüber nachdenkt und – wenn dieses Thema für euch aktuell wird – bei der Frage bleiben könnt, ohne sie mit einer oberflächlichen Antwort abzutun. Damit ein Mensch zu diesem Thema des Sinns gelangt, muß er in seinem Leben schon enttäuscht worden sein, entweder dadurch, daß er seine Ziele erreicht hat oder dadurch, daß er in seinen Träumen enttäuscht worden ist. „Meine Mutter wollte, daß ich einen Arzt heirate, und mein Vater wollte, daß ich Erfolg habe, und das habe ich erreicht. Ich habe zwei Kinder und alles, wovon ich geglaubt habe, daß ich es will. Aber nichts ist gelöst, ich fühle mich immer noch genauso. Ich warte immer noch, ich suche etwas. Ich habe die Dinge erreicht, die ich mir vorgenommen habe, und ich bin nicht zufrieden.“

Das ist oft der Punkt, an dem ein Mensch anfängt, Fragen zu stellen – wenn die Träume verwirklicht sind, sich aber keine Zufriedenheit einstellt. Vielleicht habt ihr über diese Fragen ja auch in der Schule nachgedacht, als eure Lehrer oder eure Eltern das durchgemacht haben und desillusioniert wurden. Euer Lehrer wirft also diese Frage auf, und ihr fangt an, euch intellektuell dafür zu interessieren. Klingt interessant. Ihr seid jung, ihr wollt alles in Erfahrung bringen – oder vielleicht wollt ihr nur eine Eins im Fach „Sinn des Lebens“.

Ihr schließt also die Schule ab, beginnt eine Familie zu gründen und eure Karriere aufzubauen, auf eure Erfolge hinzuarbeiten und eure Ideale zu verwirklichen, was immer sie sind. Manche Menschen erreichen ihre Ideale oder verwirklichen ihre Pläne niemals; dann hoffen sie immer noch, daß der große Triumph noch kommt. Vielleicht schieben sie den Erfolg sogar hinaus, damit sie sich dem Bewußtsein nicht stellen müssen, daß er ihnen keine Erfüllung bringt. Wenn sie ihre Ziele niemals erreichen, brauchen sie den Sinn ihres Lebens nicht zu hinterfragen. Ein paar glückliche Menschen verwirklichen ihre Träume, und diese Frage stellt sich für sie ganz natürlich. Wenn sie empfindsam sind, lassen sie sich dann nicht mehr so leicht von dieser Frage ablenken.

Es ist nicht leicht, jemanden, der noch Träume, Pläne und Ideale hat, die noch nicht verwirklicht wurden, davon zu überzeugen, daß die Frage des Sinns wichtig ist und daß sie nichts mit all diesen Dingen zu tun hat, ganz gleich ob sie verwirklicht wurden oder nicht. Aus diesem Grund wurden in Schulen innerer Arbeit früher nur Menschen in reiferem Alter angenommen. Jüngere Menschen hielt man nicht für fähig, die Hoffnung darauf aufzugeben, daß die Verwirklichung ihrer Träume sie befriedigen würde, außer sie waren vielleicht schon sehr früh enttäuscht worden.

Wie ihr wahrscheinlich beobachtet habt, sind die meisten von uns noch so gestrickt, hoffen wir immer noch, daß dieser oder jener Plan es bringen wird. Es ist völlig in Ordnung, Kinder, einen Job, bestimmte Ideale zu haben, nach denen man leben will. Aber diese Dinge beantworten die Sinnfrage nicht. Sie haben eine anderen Zweck: sie unterhalten euch, füllen euch den Bauch, wärmen euer Bett, leisten euch Gesellschaft und schenken euch Intimität, liefern etwas, womit man sich beschäftigen kann. Aber sie liefern euch nicht den Sinn des Lebens.

Es hängt von vielen Dingen ab, ob man sich dieser essentiellen Frage stellt. Es hängt davon ab, wie intelligent man ist, wieviel Erfahrung man in seinem Leben gesammelt hat, von der Erziehung in den frühen Jahren der Kindheit, von vielen Faktoren. Und Menschen benutzen viele Tricks und Ablenkungen, um die Konfrontation mit dieser Frage zu vermeiden.

Manchmal strengt sich ein Mensch aus ganzem Herzen und mit seiner ganzen Energie zwanzig oder vierzig Jahre lang an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Etwas treibt ihn dazu, seine Ideale zu verwirklichen. Er braucht dieses Ziel nicht zu erreichen, um zu überleben oder um seine aktuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Was bedeutet ihm dann sein Erfolg? Vielleicht ein wenig mehr Geld, als er vorher hatte. Aber ist es das, was ihn antreibt? Ist das der Sinn von Erfolg? „Also, ich werde mich mit mir selbst besser fühlen, es wird mir dann gut gehen, ich werde das Gefühl haben, daß ich wertvoll bin.“ Es gibt seinem Leben also eine Art Bedeutung, Wichtigkeit und Sinn, und das ist die treibende Kraft. Wir idealisieren bestimmte Dinge, und dann glauben wir, daß diese Ideale unseren Aktivitäten Sinn und Bedeutung verleihen. Um zu fühlen, daß das, was wir tun, bedeutsam ist, klammern wir uns an ein Ideal, projizieren Vollkommenheit in die Zukunft und arbeiten darauf hin.

Die Suche nach Bedeutung, nach dem Gefühl, das Leben, das wir leben, lohne sich, ist also die wirkliche Basis all unserer Träume. Wenn ihr euch einer Gruppe innerer Arbeit anschließt, dann macht ihr vielleicht die Selbstverwirklichung zu eurem Ideal. Das ist immer noch etwas, auf das ihr hinarbeitet, um euch Sinn zu geben. Eine Karriere kann für einen Menschen diese Funktion haben, oder es kann eine Beziehung oder eine Geliebte sein. Es kann eine kreative oder künstlerische Tätigkeit oder sonst ein Projekt dieser Art sein. Das Ausüben oder Praktizieren einer jeden Fähigkeit - intellektuelle, physische, kreative Fähigkeiten - können unserer Suche nach Sinn dienen.

Das, wovon ich spreche, ist nicht ungewöhnlich oder verborgen. Wenn ihr jemanden fragt: „Was gibt dir deine Karriere?“, dann wird er wahrscheinlich sagen: „Sie gibt mir ein spannendes, aufregendes Leben, ein Gefühl von Sinn in meinem Leben.“ Das ist das, was die Leute glauben. Es ist das, was in unserer Gesellschaft akzeptiert ist.

Natürlich gibt es andere Möglichkeiten, das Gefühl eines Mangels an Sinn zu vermeiden. Viele Menschen sind von einer Form von Stimulation oder von stimulierenden Aktivitäten abhängig, die ihnen intensive Empfindungen verschaffen. Beispiele dafür sind gefährliche Aktivitäten wie bestimmte Sportarten, Verbrechen und Drogen. Man hat da ein Gefühl intensiven Empfindens, starker Stimulierung, das einem das Gefühl vermitteln kann: „Ja, ich existiere, da ist wirklich etwas, mein Leben ist wirklich, es ist nicht nur leer und sinnlos.“ Andere neigen nicht dazu, sich intensive Empfindungen zu verschaffen, sondern versuchen, das ganze Thema zu vermeiden, indem sie sich betäuben, abstumpfen und einschlafen. Manche Menschen verbringen Jahre, sogar ganze Leben damit, auf der Oberfläche ihrer selbst zu leben.

Jene, die um den Trieb nach Sinn zu befriedigen, verschiedene Ziele und Aktivitäten verfolgen, betäuben eigentlich auch diesen Trieb, indem sie nämlich glauben, daß sie ihn erfüllen oder zumindest dabei sind, ihn zu erfüllen.

Die Aktivitäten, in denen wir Sinn suchen, kann man gewöhnlich nur sehr schwer aufgeben, weil unser tiefes Bedürfnis, etwas zu haben, worüber wir nachdenken können, was wir tun können, so intensiv wird wie der Trieb selbst. Manche Menschen grübeln permanent, weil sie das Gefühl nicht ertragen, nicht zu wissen, was sie tun sollen, wenn die Aktivität aufhörte. Solange wir ein Ziel haben, und sei es auch nur so etwas wie einen Schmerz im Körper zu heilen, gibt es einen Sinn in unserem Leben. Der Sinn meines Lebens besteht vielleicht darin, zu versuchen, mein verletztes Knie zu heilen. Manche Menschen suchen in ihren Kindern nach dem Sinn ihres Lebens. Viele Mütter können in ihrem eigenen Leben keinen Sinn finden und deshalb versuchen sie, durch ihre Kinder zu leben.

Ihr seht wie allgegenwärtig dieses Thema ist. Auch wenn wir mit Aktivitäten beschäftigt sind, die uns wirkliche Lust und Freude machen, hoffen wir immer, daß sie außerdem noch unserem Leben Sinn und Bedeutung verleihen. Wenn ihr auf eine bestimmte Weise lebt, so glaubt ihr, wird euer Leben nicht leer sein. Vielleicht habt ihr das Gefühl, sich der Sinnlosigkeit und Leere wirklich auszusetzen könnte mehr sein, als ihr ertragen könnt. Und es ist wahr, daß wir ohne Sinn in unserem Leben, ohne ein Gefühl von Bedeutung, von Wert und Wichtigkeit, nicht leben können. Wir versuchen also, Ersatz dafür zu finden. Die Aktivitäten sind nicht falsch oder schlecht; es ist nur so, daß sie mit unrealistischen Erwartungen befrachtet sind. Für ein Kind ist das Bedürfnis der Mutter, durch ihr Kind zu leben, eine Last. Eine kreative Unternehmung ist nicht mehr dieselbe, wenn sie dazu benutzt wird, das Bedürfnis nach Bedeutung zu erfüllen. Sie wird durch Ablenkung, Vermeiden und Verdrängung belastet.

Letztlich ist das Verlangen nach Sinn und Bedeutung eine Suche nach Identität. Unsere Aktivitäten sollen uns ein Gefühl dafür geben, wer wir sind. „Was gibt mir Bedeutung?“ Wenn wir das erforschen, dann werden wir finden, daß es etwas mit einem Selbstgefühl zu tun hat. „Wer bin ich? Ich bin der Pfarrer dieser Kirche (oder ein Arzt oder die Frau eines Mannes, der das und das ist, und so weiter).“ Obwohl wir diese Rollen als bloße soziale Konvention und letztlich unwichtig abtun können, spielen diese Identitäten in unserem Kopf doch eine große Rolle. Wir klammern uns an diese Dinge, damit sie uns ein Gefühl von Identität und Sicherheit geben. Sogar unsere Beziehungen zu Menschen geben uns ein Gefühl dafür, wer wir sind, als wären sie Spiegel. Vielleicht ist es auch mein Erfolg, der mir scheinbar meinen Wert widerspiegelt. Ich glaube, wenn ich mein Ziel erreiche, dann bin ich etwas geworden. Wir versuchen alle, jemand zu werden, einem bestimmten Bild oder Image ähnlich zu werden. Manche sehen sich als jemanden, der anderen hilft: als Arzt, als Lehrer, als Anwalt, als ein Führer, als Therapeut, als perfekte Mutter oder ein vollkommener Vater und so weiter. Für andere ist es das Image eines großen, starken, erfolgreichen Geschäftsmannes oder einer solchen Geschäftsfrau, oder das Image eines kultivierten oder brillanten Intellekts. Manche sind sogar stolz auf ihr Selbstbild als demütiger, heiligmäßiger Menschen oder Suchender.

Wir sehen also, daß unsere Bedürfnisse nach Sinn und Bedeutung fast alles durchziehen, was wir tun. Ihr habt das Gefühl, daß ihr euer Leben nicht leben könnt, wenn es nicht sinnvoll ist. Wie kann ich mein Leben leben, wenn ich keinen Sinn in ihm finde, nichts finde, was mir ein gutes Selbstgefühl und eine Identität gibt?

Deshalb nehmen sich manche Menschen, die sehr erfolgreich, berühmt oder reich waren, das Leben, wenn ihnen das entgleitet – als wären Geld oder Schönheit oder Berühmtheit das Leben gewesen. Es ist weg; welchen Sinn hat es dann noch zu leben? Manche Menschen bringen sich um oder sterben bald, nachdem ein Ehepartner gestorben ist, als wäre der andere der Träger des ganzen Lebenssinnes gewesen. Wenn das zentrale Ding, das einem den Antrieb zu leben gibt, nicht mehr da ist, ob das eine Beziehung, eine besondere Fertigkeit oder ein Ideal ist, dann bleibt nur eine große Leere. Viele Menschen sind davon überrascht, was für eine große Bedeutung diese Dinge für sie haben, und hätten bis zu diesem Verlust geleugnet, daß dieser Mensch oder diese Leistung es war, was ihrem Leben Sinn gegeben hat. Aber im Moment des Verlustes wird es offenbar. Sogar wenn Menschen einen Beruf aufgeben, von dem sie gesagt hätten, daß er für sie keinen anderen Sinn als das Geldverdienen hatte, fühlen sie sich oft durch den Verlust der Aktivität oder der Rolle wie zerstört. Was eigentlich verlorenging, ist das Identitätsgefühl. Das, was sie ausgefüllt hat, ist weggenommen worden; deshalb haben sie es nun mit dem Bedürfnis zu tun, dem Gefühl von sinnloser Leere zu entkommen.

Die Leere war die ganze Zeit über da, aber es steckte ein Stopfen darin. Dieser Stopfen war die Karriere oder die Beziehung oder ein Ideal oder Philosophie oder Sex, was auch immer dieser Mensch als stimulierendes oder ablenkendes Mittel benutzte. Unsere ganze Gesellschaft billigt nicht nur den Ersatz inneren Sinnes durch äußere Faktoren, sondern idealisiert diesen sogar. Mit wenigen Ausnahmen, versucht die Gesellschaft als ganze, mit der Suche nach Sinn auf diese Weise umzugehen. Sogar unsere Liebe, unsere Intelligenz und unser Körper vermitteln uns ein Gefühl von Identität.

Setzen wir uns mit diesen Annahmen auseinander, dann kann es gut sein, daß wir uns fragen: „Wenn ich nichts von alledem tue, wenn ich nicht will, daß mein Wert auf so etwas beruht – was bleibt dann übrig?“ Wenn ich ein Gefühl von Sinn aus den intensiven Empfindungen und aus den Identitäten in meinem Leben beziehe, dann liegt der Sinn nicht im Leben selbst. Es geht dann immer noch um Ursache und Wirkung. Was, wenn ich sagte: „Moment mal, ich will nicht, daß die Bedeutung meines Lebens davon abhängt, was ich tue, was Leute von mir denken, nicht einmal davon, was ich selbst von mir denke, und auch nicht von einer Fähigkeit, die ich habe.“ Was gibt es sonst? Woher kommt die Bedeutung dann?

Die Selbsttäuschung, zu der wir fähig sind, selbst indem wir diese Frage stellen, ist erstaunlich. Sogar eure Suche nach der Antwort könnt ihr benutzen, um euch ein Gefühl von Sinn zu geben. Ein Mensch kann in seinem Leben damit beschäftigt sein, nach Sinn zu suchen, und dabei kann diese Suche nur die Funktion einer weiteren Identität haben, die nicht realer oder mehr im Inneren fundiert ist als irgendeine andere Rolle. Die Welt ist voller Sucher, deren Identität in die Suche nach Weisheit, Wahrheit oder Erleuchtung eingekleidet ist. Das ist im Grunde dasselbe wie das Streben nach Reichtum, Schönheit, Berühmtheit, Liebe oder Anerkennung. Der Zweck all dieser Identifikationen ist es, Leere zu füllen. Aber wenn ihr die Situation mit vollkommener Aufrichtigkeit betrachten könntet, wenn ihr einfach nur sehen könntet, was wirklich da ist, ohne die Fassaden, dann würdet ihr euch eine kleine Chance geben, wahren inneren Sinn zu finden.

Es ist nicht leicht, sich selbst klar und aufrichtig anzuschauen. Die meisten von uns wissen nicht einmal, was daran schwierig ist. Wir merken nur, daß unser Verstand (mind) in alle Richtungen ausweicht, um das zu vermeiden. Ich mache mit meinem Freund Schluß, und plötzlich esse ich mehr als sonst. Wenn ich nicht esse, fange ich an, an Bildern weiterzumalen, die ich in zehn Jahren nicht angerührt habe. Oder ich bin gerade geschieden oder pensioniert, also gehe ich für ein Jahr auf reisen, um zu schauen, was es in der Welt so gibt. Das ist vielleicht eine tolle Idee, aber was motiviert euch? Unser Geist (mind) ist sehr geschickt im Vermeiden des Gefühls, das am Ende von irgendetwas aufkommt, weil man davor zurückschreckt, keinen unterstützenden Spiegel zu haben, der uns Sinn gibt. Bloß zu existieren, wie wir sind, löst eine große Angst vor der Leere aus. Da kommt meist die Angst auf, wir könnten nicht wirklich eine Essenz, eine Identität haben. Es kann sein, daß wir glauben, die Leere sei alles, was da ist. Das wird vielleicht von frühkindlichen Erfahrungen verstärkt, zum Beispiel der Panik davor, anders als andere, anders als unsere Eltern zu sein, was eine Art Verunsicherung im Selbstgefühl (self-consciousness) erzeugt.

Kleine Kinder sind vollkommen versunken, wenn sie spielen. Sie versuchen nicht, etwas zu sein oder zu leisten. Sie sind vielleicht glücklich und zufrieden mit dem Augenblick oder weinen aus irgendeinem Grund, aber sie sind vollkommen im Hier und Jetzt. Dann beginnt das Kind Schritt für Schritt, Dinge zu tun, um eine Reaktion oder Aufmerksamkeit von jemandem zu bekommen, oder um „gut“ zu sein oder um Bestätigung zu bekommen. Das Kind fängt an, unecht zu werden, und nach einer gewissen Zeit ist seine Unschuld dahin. Das ist leicht zu beobachten, wenn man mit einem Kind zusammen ist und miterlebt, wie es heranwächst. Wir haben vergessen, daß wir auch so sind, unecht, weil wir gelernt haben, raffiniert zu sein und es zu verbergen, auch vor uns selbst. Wenn das Kind in den frühen Jahren etwas zu euch sagte, was eine Manipulation seiner wirklichen Erfahrung oder Absicht war, so war das oft ganz offensichtlich. Kinder sind auf frühen Entwicklungsstufen nicht sehr raffiniert. Doch wenn sie heranwachsen, werden sie raffinierter und sind stärker gegen ihre Impulse und die Gefühle, die sie im Moment haben, abgeschottet. Schließlich siegt die übliche Identifikation mit der Persönlichkeit, und wir glauben, daß alles, was wir tun, echt ist. Wir haben es so weit gebracht, an unsere eigenen Vorspiegelungen zu glauben.

Am Anfang scheint ein Kind ein Gefühl von Bedeutsamkeit zu besitzen. Das ist nicht eine mentale oder abgeleitete Bedeutsamkeit. Die Identität des Kindes ist nicht von etwas Äußerem abhängig. Kinder sind echt, ehrlich mit sich selbst. Sie besitzen eine Verbundenheit, ein Einssein (oneness), und nicht Disharmonie. Das Kind ist ein Wesen (entity) und antwortet, reagiert und verhält sich als ein Ganzes, nicht mal als dieser Teil und dann als jener Teil. Das passiert später. Es gibt nicht einmal eine Unterscheidung zwischen Essenz und Persönlichkeit. Das Kind ist einfach ein einziges Seiendsein (one beingness). Wenn das Kind älter wird, geht diese Einheit der Erfahrung verloren.

Was verursacht den Übergang? Etwas, das da war, ist verlorengegangen, und etwas, das unecht ist, hat seinen Platz eingenommen. Es ist das, was wir „falsche Persönlichkeit“ nennen. Wenn ihr sehr tief in euch hineingeht, werdet ihr sehen, daß das, was ihr für euch selbst haltet, nicht wirklich ist. Eine Weise, das zu erfahren, ist das Gefühl, eine leere Hülse mit nichts von Bedeutung darin zu sein. Man kann die Ego-Identität, den Kern der Persönlichkeit mit seinem Selbstgefühl, unmittelbar als eine trockene, leere Hülle empfinden. Wenn ihr diese Hülse der Persönlichkeit durchschaut und der Leere darin gewahr werdet, dann werdet ihr des Gefühls von Sinnlosigkeit, Wertlosigkeit und Bedeutungslosigkeit gewahr.

Gewöhnlich fühlen wir diese Leere eher vage als direkt. Aber wenn wir uns in der Tiefe mit dieser Situation auseinandersetzen, fühlen wir uns wie eine Art Eierschale mit nichts darin. Wenn Menschen diese leere Schale wahrnehmen, haben sie oft das Gefühl: „Wozu soll ich eigentlich leben?“ Da ist nichts, keine Bedeutung. Alles in der Welt wird sinnlos. Nichts ist von Interesse. Schnee fällt, und da ist niemand, sich daran zu freuen. In so einem Zustand von Sinnlosigkeit weiß ich nicht einmal, wie es ist, etwas wertzuschätzen. Ich bin nicht da. Wie kann eine als Mangel erfahrene Leere sich an der Schönheit von fallendem Schnee freuen?

Wenn wir dagegen ein Kind beobachten, sehen wir, daß die Gefühle von Fülle, von innewohnender Lebendigkeit, von Freude am Sein nicht abgeleitet sind – das heißt, sie sind nicht das Ergebnis von etwas anderem. Man selbst zu sein ist allein schon wertvoll; man ist nicht erst wertvoll, weil man etwas tut oder nicht tut. Es ist am Anfang da, geht aber allmählich verloren, und die Falschheit tritt einfach an seine Stelle.

Man verliert es, aber nicht einfach so, nicht leicht. Das Kind kämpft einen großen Kampf, einen gewaltigen Kampf, aber an einem bestimmten Punkt gibt es auf. An einem gewissen Punkt haben wir das Gefühl, daß der Konflikt zwischen unserem wirklichen Gefühl von uns selbst und unserer Umwelt nicht auszuhalten ist. Das Kind wird nicht gesehen oder fühlt sich abgelehnt, nicht wertgeschätzt oder nicht in eine Beziehung aufgenommen. Es ist ein sehr einsames Gefühl, inmitten all der normalen Falschheit der Persönlichkeit echt zu sein. Schließlich ist es mehr, als man aushalten kann. Wenn wir wir selbst sind, wird das nicht unterstützt; das wahre Selbst wird von unseren Eltern nicht geschätzt. Sie schätzen vielleicht, was wir tun oder wie süß wir aussehen, aber sie sind ja selbst nicht wirklich anwesend. Vielleicht sind sie mit dem Streben nach Erfolg beschäftigt. Als kleines Kind fühlen wir nicht so. „Komisch, ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll - da bin nur ich, das ist alles. Ich sitze einfach hier und spiele mit meinem Spielzeug – was gibt es sonst noch? Aber schau dir diese Erwachsenen an – was treiben die nur? Ich fühle mich allein, aber ich kann das niemandem in meiner Nähe sagen. Mama will, daß ich dies und das mache, und ich möchte, daß Mama mich im Arm hält, also mache ich lieber, was sie will.“

Das ist der Augenblick des großen Verrats, wenn wir uns selbst aufgeben. Wie der Mensch in der Geschichte „Der Königssohn“ fangen wir an, wie das einfache Volk zu leben. Wir ziehen die Kleider an, und die Kleider sind aus Falschheit gemacht. Diese Unechtheit ist die Hülse, die wir fühlen. Sie ist das Gewebe, das Material der Hülse. Was wirklich und echt in uns ist, wurde weggedrängt, und unser ganzes Leben lang fühlen wir nun die Hülse. Wenn wir sie durchdringen, fühlen wir die Leere. Diese mißliche Lage ist etwas sehr Trauriges, aber sie ist universell. Jeder gerät da hinein, der sich mit dem Egogefühl des Selbst, mit der gewöhnlichen Persönlichkeit identifiziert. Man ist entweder man selbst, als essentielles Wesen oder Sein, oder man ist ein Ego-Selbst, das sich mit der Zeit entwickelt, und das ist eine leere Hülse. Wenn wir uns mit dieser Hülse konfrontieren, dann sind wir an der tiefsten Stelle berührt. Wir sind in tiefer Not, weil das, was das Leben sinnvoll machen sollte, nicht da ist. Man empfindet dann vielleicht: „Ich möchte total hier sein, nichts anderes ist genug. Nichts hat Bedeutung, auch Lust und essentielle Erfahrung nicht, wenn ich nicht hier bin.“ Aber wir wollen uns nicht damit konfrontieren, weil wir jetzt nicht das Verlorensein und die Entfremdung fühlen wollen, die wir als Kind gefühlt haben.“

Das Versagen eurer Eltern, eure wirkliche Natur zu sehen, bedeutet nicht, daß sie euch nicht lieben. Auch wenn sie euch lieben, nett zu euch sind, für euch sorgen und sogar glauben, daß ihr ganz wunderbar seid, ist das nicht dasselbe, wie wenn sie wirklich sähen, wer ihr seid. Auch Menschen, die gute Eltern haben, werden doch diese Hülse aus Falschheit entwickeln. Das was ihr am ursprünglichsten seid, euer Kern, euer Funke, wurde nicht gesehen; es wurde nicht erkannt, ihm wurde nicht geantwortet und oft wurde es mit Mißbilligung behandelt und abgelehnt. Wenn eure Eltern nicht ihr eigenes Zentrum haben, ihr eigenes tiefes Gefühl ihres Selbst, dann können sie euch nicht sehen. Sie können in euch nur sehen, was sie in sich selbst sehen, gleich wie sehr sie das Beste für euch wollen und euch lieben. Auch wenn sie einen Blick auf euer wirkliches Zentrum erhaschen würden, müßten sie sich dieser Wahrnehmung verschließen, weil sie sie ihren eigenen Mangel spüren lassen würde. Wir könnten dieses Phänomen der Identifikation mit der Hülse also eine soziale Krankheit nennen, die durch die Jahrhunderte weitergegeben wurde.

Wenn ihr euch selbst kennt, wenn ihr eure wahre Identität verwirklicht, dann kommt der Sinn des Lebens nicht in Form einer begrifflichen Antwort auf eine Frage zu euch. Er ist keine Antwort in eurem Verstand. Ihr seid die Antwort. Die Präsenz, Fülle und innerliche Kostbarkeit werden direkt und nicht in Beziehung zu irgendetwas anderem erfahren. Es ist vollkommene Autonomie; nur die Erfahrung selbst kann einen Geschmack dieser Befriedigung vermitteln. Diese Erfahrung der Selbstverwirklichung ist insofern die Antwort, als sie das Getriebensein beendet. Sie ist wahre Abwesenheit von Suchen.

Wenn wir unsere wahre Identität untersuchen wollen, müssen wir uns erlauben, darauf zu verzichten, unsere verschiedenen Rollen, Aktivitäten, Ideale und Bilder zum Ausfüllen unseres Gefühls von Leere zu benutzen. Dann können wir uns ansehen, ob irgendetwas davon wirklich unser tiefes Bedürfnis nach Sinn befriedigt. Wenn ihr euch beobachtet, werdet ihr wahrscheinlich entdecken, daß ihr von einer Sache nach der anderen enttäuscht worden seid. Ihr werdet sehen, daß ihr in eurer Karriere, in eurer Beziehung mit eurem Geliebten oder Ehepartner, von eurem Verstand (mind), von allem enttäuscht seid. Ihr seid enttäuscht, weil sie nicht leisten, was ihr euch von ihnen erhofft habt. Von jedem Bereich eures Lebens, der euch enttäuscht, habt ihr das Falsche erwartet. Es gibt eine Enttäuschung nach der anderen, bis ihr euch erlaubt, in den großen Abgrund, diese große Spalte zu fallen. Ihr müßt euch erlauben, in dieser gewaltigen Leere zu existieren. Wir müssen durch diese Nichtexistenz hindurchgehen. Es gibt keine andere Möglichkeit.

Um vereint (unified) zu werden, müssen wir durch die Spalte in uns hindurchgehen, und die ist dasselbe wie der Abgrund. Wir können nicht über ihn hinweggehen oder ihn vermeiden. Wir müssen die Erfahrung des Abgrunds zulassen. Wir müssen uns erlauben, die Bedeutungslosigkeit ganz und gar zu fühlen, ohne uns dagegen zu wehren.

Wenn ihr das Gefühl, unecht zu sein, erkennt, ohne zu versuchen, es zu ändern, und wenn ihr euch nicht dagegen wehrt, dann werdet ihr vollkommenes Nichtssein (nothingness), vollkommene Wertlosigkeit, vollkommenen Mangel an Unterstützung, vollkommene Hilflosigkeit erfahren. Es ist nicht so, daß unser Prozeß das alles hervorbringt. Nein, wir müssen da durch, weil es da ist. Dieses Loch ist da in unserer Tiefe, und wir weichen ihm ständig aus. Wenn wir uns erlauben, es zu erfahren, könnten wir erkennen, daß Leere gar nicht so schlimm ist, nur friedvolle Ruhe, und daß der Abgrund nichts ist als grenzenloser Frieden. Er ist eine Leere und er hat kein Selbstsein (selfhood), aber er ist nicht so furchterregend, wie wir uns vorstellen. Ein Grund, weshalb wir so voller Angst sind, ist, daß man ihn als eine Art Tod erlebt. Auch wenn ihr schreckliche Angst vor dem Tod habt, bevor er eintritt, werdet ihr dann, wenn ihr den Tod erlebt, sehen, daß er ein Ort der Ruhe, ein Übergang ist.

Aber wir konfrontieren uns nur mit ihm, wenn wir müssen; niemand stellt sich diesem Thema zu seinem Vergnügen. Niemand erforscht den Tod, nur weil er ein bißchen neugierig ist. Nein, wir müssen uns diesem Abgrund aus schmerzlicher Unausweichlichkeit stellen, wenn wir wissen, daß das Leben die ganze Mühe nicht lohnt. Das ist der Moment, wo ihr euch total der Erfahrung überlaßt und um den Sinn des Todes wißt. Und wenn ihr um den Sinn des Todes wißt, dann wißt ihr um den Sinn des Lebens. Dieser Tod ist eigentlich der Tod, das Ende des Stopfens, über den wir gesprochen haben. Er ist die Abwesenheit aller Versuche, das Loch zu füllen, aller Phantasien davon, was es wirklich für euch bringen wird. Wenn ihr dieses Loslassen geschehen laßt, dann kommt es zum Anfang einer Wiedergeburt. Ihr fangt an zu entdecken, wer ihr im Innersten seid – eure Bedeutung und den Sinn eures Lebens. Existenz und Kostbarkeit haben jetzt keinerlei Ursache. Wir sind die ursachelose Wirklichkeit, die wir selbst erfahren müssen. Indem wir nur wir selbst sind, hat das Leben Sinn. Ihr werdet der Sinn sein. Eure wahre Kostbarkeit ist der Sinn.

Wenn ihr durch die Leere geht, dann ist es nicht so, daß ihr fühlt: „Oh, jetzt habe ich ein wahres Selbst.“ Die Auffassung, etwas zu haben, ist die Perspektive des abgetrennten Selbst, der Persönlichkeit. Es ist also nicht so, daß ihr ein kleines brillantes Wesen (entity) seid und Liebe, Mitgefühl, Schönheit habt. Nein, zu dieser ganzen Verschiebung kommt es, weil die wahre Identität die Identität mit der gesamten Essenz ist, mit der gesamten Wirklichkeit. Genau dieser Augenblick, ohne Beziehung zu Vergangenheit oder Zukunft, ist die Mitte, der Kern; und von da aus könnt ihr sehen, daß ihr nichts als Gnade seid. Nicht nur hat das Leben einen Sinn, sondern es ist eine Gnade, als ob der Himmel sich öffnete und Gnade in euch gösse.

Ihr werdet sehen, daß eure Natur selbst diese Gnade ist, reine ursprungslose Kostbarkeit, die ihr nicht seht, wenn ihr schaut, sondern indem ihr seid. Es gibt kein Gefühl von Getrenntheit zwischen dem Schauen und dem Sein – sie sind ein Akt. Wenn ihr ihr selbst seid, dann heißt das, daß ihr Essenz seid, ihr seid Sein, ihr seid die Bedeutung, ihr seid der Sinn.

Wir haben gesehen, daß wir immer nach der Kostbarkeit suchen, die verlorenging, und denken, wir könnten sie von außen bekommen. Sie ist aber das Innerste. Sie ist so privat, so tief, so innerlich, daß es nichts Innerlicheres gibt als das. Wer ihr seid, ist so innerlich, so privat, so kostbar, daß es sich wie eine absolute Heiligkeit anfühlt, wenn man es in seiner Tiefe erlebt.

Wirklich man selbst zu sein heißt den Abgrund zu eliminieren, die zwei Seiten seiner selbst zu vereinen, ganz und gar einer zu werden. Es ist nicht so, als wäret ihr jemand, der einen Körper hat, jemand, der dies oder jenes tut, jemand, der eine Essenz hat. Ihr seid sie! Ihr seid all das.

Sinn ist nicht etwas, wohin wir mit unserem Verstand (mind) gelangen können. Er ist keine Antwort, die man im Kopf finden kann. Er ist nicht ein Ideal oder ein Bild, das wir verwirklichen. Er ist nicht ein Resultat von irgendetwas. Er ist nur Hineinfallen in die eigene Natur.

Fähig zu sein, einfach in die eigene Natur hineinzufallen, ist jedoch nicht leicht. Es ist das Schwierigste, was es gibt. Es verlangt Ausdauer, Geduld, Aufrichtigkeit und Mitgefühl mit einem selbst. Und es kann sein, daß man lange Zeit dazu braucht.

Essentielles Sein

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