Читать книгу Löwentatze - Albert Hurny Mady L. Hurny - Страница 6

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Kapitel IV

Der Herbst in Greenley hatte einem Nachsommer geglichen, wie ihn Adam von zu Hause her nicht kannte: trocken, mit seltsamen Farbtönen und erregenden Gerüchen, die der Wind vom Gebirge herantrug. Flirrendes Licht wehte zitternd über die Ebene, lockend und sinnverwirrend, als wolle die Natur noch einmal aufstrahlen und tanzen, bevor sie durch den Grimm des Winters erstarrte.

Der kam über Nacht, ohne die an der Ostsee üblichen Präliminarien, war morgens da und rührte sich nicht mehr weg, ein Dauergast, der nur gelegentlich das Kostüm wechselte. Mal gab er sich dunkel, mit Wolken aus Eisdunst auf der dicken Schneedecke lastend, die Welt auf dutzende Geviertmeter reduzierend, mal gefiel er sich in kristallener Klarheit, rückte die wie Diamantberge funkelnden Gipfel der Mountains nahe und bot sie den Blicken unverschleiert dar. Ein Anblick, der Adam jeden Tag, an dem er ihm geschenkt ward, faszinierte.

Er machte die ihm neue Erfahrung, dass auch Eisköniginnen betörende Reize besitzen, sofern man sie aus sicherem Abstand bewundern darf.

An seinem Tagesablauf änderte sich nichts. Er musste sich lediglich warm anziehen, wenn er morgens zum Archiv wollte. Die Winter-Servanten beräumten Schnee und Wehen, vom scharfen Nachtwind aufgetürmt, bevor sie zum Verkehrshindernis werden konnten.

Vor der Gewalt des Blizzards, der Anfang Februar den Weltuntergang einzuleiten schien, mussten allerdings auch sie kapitulieren. Dante hatte sich die tiefste, furchtbarste Hölle als einen Ort des Feuers, der quälenden Glut und dampfenden Kessel vorgestellt. Vor den Schrecken der kalten Variante versagte selbst seine ausschweifende Fantasie.

Unmöglich, einen Schritt ins Freie zu wagen.

Im Eisorkan draußen brüllte der weiße Tod nach Opfern.

Adam erlebte ein derart elementares Naturereignis zum ersten Mal; die doch gewiss heftigen Stürme an der Ostseeküste erschienen ihm im Vergleich zu dem, was da von Norden herantobte, wie das Fauchen einer gereizten Hauskatze neben Tigergebrüll.

Er fühlte sich müde und abgeschlagen und doch auf unerklärliche Weise erregt und vermochte sich nur mit größter Willensanstrengung zur Arbeit zu zwingen. Er saß mit dem Gesicht zum Fenster, und wenn er aufblickte, war ihm, als schwebe er eingeschlossen in einer Druckzelle, in kochendem Plasma, das jeden Augenblick durchzubrechen drohte. Erst als er die Licht-Lärm-Blende auf „voll“ stellte, wich dieser Albdruck so weit, dass er sich darauf zu konzentrieren vermochte, die Beziehungen zwischen den historischen Personen, die ihm für seine Dissertation wichtig dünkten, grafisch zu fixieren. Einem visuellen Typen wie ihm wurden sie so fasslicher.

Während der Wochenenden war es ungewohnt still im Haus. Wer aus der Umgebung stammte, die meisten, fuhr am Sonnabend - sofern das Wetter es erlaubte - gleich nach den Vorlesungen nach Hause. Wer entweder anhangslos oder so weit entfernt beheimatet war, dass die Heimfahrt außerhalb der Semesterferien nur an mehreren zusammenhängenden Feiertagen lohnte, suchte den Sonntag so angenehm wie möglich hinzubringen.

Lily Jane O’Brien hatte länger als sonst geschlafen und sich dann ausgiebig vom Bad-Servanten massieren lassen. In der Woche ging es husch husch ... kurz unter die Dusche, die Haare gebürstet und etwas Make up. Dazu reichten ihr zehn Minuten. Nach zwei Jahren im Internat saß jeder Griff wie antrainiert.

Dafür gönnte sie sich sonntags das volle Programm und genoss es, sich zu pflegen. Nicht, dass es dann dringend nötig gewesen wäre, die Haare, na gut; sie hatte einfach Freude daran, ihren Körper zu spüren.

Komisch, dachte sie, als sie sich vor dem Spiegel drehte, dieser Körper ist also der meine … nicht schlecht ... man merkte an den Blicken der Jungs, dass es ein schöner sein musste. Lily Jane warf ihrem Spiegelbild zufrieden ein Kusshändchen zu.

Sie war im September zwanzig geworden.

Im Speisesaal, nun schon fast leer, traf sie auf ihre Kommilitoninnen Dory und Giona.

„Ich dachte schon, du willst heute fasten“, sagte Dory, nachdem sie sich begrüßt hatten.

„Ach, sehe ich aus, als hätte ich es nötig?“

„Mach Striptease, und ich sag’s dir“, witzelte Giona. „Du musst Dory verstehen. Sie will immer, aber nie macht einer mit, und allein bringt sie es nicht fertig.“

„Ist ja nicht wahr! Wenn ich es wollte, würde ich schon, aber ich sehe nicht ein, warum ich es wollen wollte. Dürr hungern läuft nicht bei mir, ich würde krank davon. Mein Typ ist eben so: klein und stramm. Wer mich liebt, findet mich kernig - eben drum.“

Sie lachten alle drei.

Während sie das Frühstück checkten, sagte Lilly Jane entschuldigend, dass sie länger geschlafen und dann getrödelt habe. Aber sie beide seien ja auch gerade erst runter gekommen.

„Hast du eine Ahnung“, Giona verdrehte die Augen gen Himmel wie in stummer Klage, „wir sind schon seit sieben auf Achse. Dory musste mich unbedingt mitschleppen zu einer Kirche ... ich dachte, mich ... nein, ich sag es lieber nicht. Zuerst wollte sie dich hochklingeln, das hat nicht geklappt, die Leitung war still.“

„Ich hatte mich ausgeklinkt, wollte ausschlafen.“

„Du kannst wohl hellsehen? Na, und dann hat sie mich ... mitten in der Nacht, noch nicht mal halb sieben ... ließ nicht nach, bis ich ... du kennst sie ja ... man könnte denken, dass eine ihrer beiden Großmütter mal mit einem Roboter fehlgetreten hat. Wir müssen blind gewesen sein, als wir sie zur Heimratsvorsitzenden wählten; wir hätten sehen müssen, dass sie die Power-Lieschen-Krankheit hat - power feminalis - die schon ganze Völkerstämme auf den Hund gebracht hat. Du wirst sehen, Lily Jane, sie schafft uns, einen nach dem anderen.“

Sie mussten wieder lachen.

Dory puffte Giona in die Seite. „Kusch, du schwarzhaarige Bestie! Ich würdige dich der Ehre, mich begleiten zu dürfen, verschaffe dir ein nicht alltägliches Erlebnis, und du dankst es mir so.“

Dann erklärte sie, was sie zu dem morgendlichen Gang bewogen hatte.

Sie habe gestern Nachmittag alten Kram sortiert und sei dabei auf die Aufzeichnung eines Vortrages gestoßen, den jemand vor sehr langer Zeit gehalten habe. Danach sei dieses Internat als Stiftung sämtlicher Religionsgemeinschaften am Ort entstanden aus Anlass irgendeiner Katastrophe auf dem Mond vor nun beinahe zweihundert Jahren, der fast ausschließlich Frauen zum Opfer gefallen seien.

Anscheinend eine schlimme Sache, wenn sich alle religiösen Eiferer, an dreißig damals wohl, sonst heftig konkurrierend beim Seelenretten, in dieser Sache einmal einig waren. Ursprünglich ein reines Mädcheninternat, habe die Hochschule nach hartem Kampf erreichen können, dass schließlich auch Jungen aufgenommen wurden. Aber nur unter bestimmten Bedingungen. Lange Zeit seien die Heimplätze von den Kirchenvorständen vergeben worden ... nur an sittsame und glaubenseifrige Bewerber selbstverständlich, die sich überdies zu einer von Selbstverwaltung und freiwilligen Selbstkontrolle gekennzeichneten Heimordnung hätten verpflichten müssen.

Dergleichen, auf die sie sich noch heute jedes Jahr erneut einschwüren nach alter Tradition.

Sie fände es übrigens durchaus richtig, dass die Wohnetagen der Mädchen für die Jungen tabu seien und umgekehrt. Wer hier wohne - praktisch umsonst, mit allem Komfort und Vollpension - habe nicht rumzusexen, sondern zu lernen, dazu sei er hergekommen.

„Huh“, lästerte Giona, „prinzipienfest wie Ritter Lancelot. Tristan war nicht so blöde.“

„Und wie ist es ausgegangen mit ihm und Isolde ...?“, konterte Dory, „du siehst, es hat schon seinen Grund, wenn gebetet wird: Und führe uns nicht in Versuchung ... um zum Ende zu kommen ... ich begriff plötzlich Zusammenhänge und war beeindruckt und dachte, es sähe gut aus, wäre pietätvoll, wenn wir Nachkommen der Wohltäter von damals zu ihren opferwilligen Vorgängern beglückwünschten. Die nächste Kirche, die geöffnet war, gehörte Katholiken; ich war überrascht, dass es hier, unter all den Baptisten, Antibaptisten, Methodisten, Lutheranern, Mormonen, Presbyterianern und wie sie alle heißen, auch die noch gibt. Pfarrer im Ornat, Kerzen auf dem Altar, ein Dutzend Andächtige auf den Knien beim Beten. Wir fielen natürlich auf, und der Pfarrer hat uns hinterher gefragt, wer wir wären und warum wir gekommen seien. Ich hab’s ihm erklärt, und da hat er den Kopf geschüttelt und gesagt, davon wüsste er nichts, aber unser Besuch freue ihn trotzdem - er hat uns kein Wort geglaubt.“

Der Servant brachte ihr Frühstück.

„Endlich“, murrte Giona, „mein Gott, hab ich einen Hunger. Das hat ja gedauert, als hätten sie es erst machen müssen.“

„Werden sie wohl auch“, meinte Lilly Jane. „Wahrscheinlich haben sie nicht vermutet, dass noch jemand käme.“ Sie sah sich um. „Wir sind wirklich die Letzten.“

„Das klingt, als fehlte dir was“, stichelte Giona mit vollem Munde.

„Verschluck dich nicht ... ich wüsste nicht was...“

„Na, das Augenspiel jeden Morgen ... er sieht her und wenn du aufsiehst, schaut er schnell weg. Ich spanne jedes Mal, ob er es wieder tut ... und tatsächlich ... warum wirst du rot?“

„Unsinn...!“ Scheußlich, wenn man so leicht errötet. Sie hatte natürlich sofort gewusst, worauf Giona anspielte.

„Wir sitzen uns gegenüber; soll er sich den Hals verrenken, bloß, um mich nicht ansehen zu müssen ...?“

„Kein Unsinn“, beharrte Giona. „Ich bin doch nicht blind. Irgendwas an dir törnt ihn an, darauf könnte ich schwören.“

„Du mit deiner verdorbenen Fantasie!“

Dory, die inzwischen nach der zweiten Schale Haferbrei gelangt hatte, unterbrach ihr Geplänkel.

„Sprecht ihr von dem Herrn aus Europa? Also, mir ist er ein Rätsel. Mein Gott, der Mann kommt von weit her, von einem anderen Kontinent, aus einem ganz anderen Milieu, er müsste sich doch selber sagen, dass alle neugierig sind, was über ihn, über seine Arbeit hier, seine Eindrücke, über das Leben bei ihm zu Hause, zu erfahren. Aber anscheinend kommt ihm das gar nicht in den Sinn. Er lebt wie ein Hotelgast zwischen uns: Fremder unter ihm gleichgültigen Fremden. Die Jungs laden ihn jedes Mal ein, wenn bei uns abends gehopst oder sonst was Nettes gemacht wird, doch er ... tut mir leid, ich habe zu arbeiten ... und Tür zu. Wie findet ihr das? Abgesehen davon, dass sein Verhalten viele vor den Kopf stößt - mich auch, so was gehört sich einfach nicht - er muss doch allmählich rapplig werden, wenn er sich ewig in seiner Bude vergräbt. Ich denke, es wird Zeit, was zu unternehmen, damit er endlich merkt, dass wir ihn für die Dauer seines Hierseins als einen der Unsrigen betrachten.“

„Wie es aussieht, sind wir ihm nicht zünftig“, wandte Giona ein. „Er wirkt viel älter als wir, bestimmt bald dreißig und bildet selber Studenten aus ... dreißig, wenn ich mir das vorstelle ... ich käme mir vor wie meine eigene Mutter.“

„Den Eindruck habe ich nicht. Ich meine, dass er überheblich und eingebildet ist ... eher dürfte er von Natur aus ungesellig sein ... oder er ist in festen Händen und ein ganz Braver. Stell euch vor, er schreibt und bekommt selber Briefe ... wie im Mittelalter. Ist das nicht ... romantisch? Denkbar auch, dass man ihn mit unserer Heimordnung so geschockt hat, dass er sich zu strengster Zurückhaltung verpflichtet fühlt. Diese Europäer, das weiß man doch, haben einen unheimlichen Horror davor, gegen jede Art von Vorschriften zu verstoßen. Doch was immer der Grund sein mag, wir müssen einen Weg finden, ihn aus der Reserve zu locken. Das Problem ist, dass er niemanden an sich heran lässt.“

„Und wenn der Heimrat ihn offiziell aufforderte, einen Vortrag zu halten?“

„Das habe ich auch schon erwogen. Aber da ist das Argument, mit dem er die Jungs immer abfrühstückt. Es sähe aus, als respektierten wir seine Arbeit nicht, nachdem er so oft und nachdrücklich auf sie verwiesen hat, wenn wir ihn trotzdem nötigten, sie unseretwegen zu unterbrechen. Besser wäre, wir könnten ihn irgendwie bewegen, selber die Initiative zu ergreifen.“

„Wie wäre es, wenn wir ihm einen Paten verordneten, der ihm mit dem gebotenen Fingerspitzengefühl beibiegt, dass er hier auch Pflichten hat?“

Dory überlegte und nickte dann.

„Kein schlechter Gedanke ... ja, hört sich gut an. Es müsste jemand vom Heimrat sein, das gibt ihm eine gewisse Autorität ... vor allem aber jemand, bei dem unser Sorgenkind nicht gleich den Vorhang fallen lässt. Ich weiß auch schon, wen ... klar, Lily Jane, dich meine ich. Die morgendliche Äugelei prädestiniert dich doch geradezu zum Paten dieses schwierigen Herrn.“

Lily Jane, die dem Hin und Her der beiden aufmerksam zugehört hatte, fühlte ihr Herz plötzlich stärker klopfen. Nicht, dass die ihr von Dory zugedachte Aufgabe sie geschreckt hätte, sie war natürlich ebenfalls neugierig auf den interessanten Mann und würde ihm gern mal den Puls fühlen, aber wie nähme er es auf? Und das Gerede ... zumindest sollten Dory und Giona nicht denken, dass sie drauf flöge.

„Nein, nein“, sie hob abwehrend beide Hände. „Das schlage dir aus dem Kopf. So was liegt mir nicht. Ich wüsste auch gar nicht ... soll ich ihn im Lift abfangen? Pardon, Kumpel, wir müssen mal ernsthaft reden? Der würde mich schön abfahren lassen.“

„Glaube ich nicht. Andere ja, dich nicht. Du musst dir einfach ein Herz fassen. Er wird dich schon nicht auffressen.“

„Hätte ich dir gleich sagen können, dass sich Fräulein Zimperlich nicht traut“, stichelte Giona. „Ich wette, wenn er sie anspräche, kriegte sie einen roten Kopf und liefe davon.“

Lily Jane tat, als ärgere sie sich, in Wirklichkeit kam ihr Gionas Spott ganz gelegen. Das durfte sie keinesfalls auf sich sitzen lassen.

„Ich mich nicht trauen? Lächerlich! Wetten, dass er ...?“

„Worum?“ Gionas Augen glänzten.

„Um zwei Flaschen vom dem herrlichen Kribbelwasser! Dass ich es schaffe, ihn zum nächsten Ball mitzulotsen!“

„Abgemacht!“ Giona streckte die Hand hin. „Dory schlägt durch!“

Lily Jane hatte Mühe, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken; die kindische Wette legitimierte sie, zu tun, was sie sich längst heimlich gewünscht hatte. Sie wusste noch nicht, wie sie es anfangen könnte, doch was sie auch unternähme, Dory und Giona mussten jetzt bestätigen, dass sie sie trotz heftigen Widerstands dazu genötigt hatten.

Sicherheitshalber vergewisserte sie sich: „Ich hab also freie Hand? Und keiner knurrt mich an, wenn der Typ sauer reagiert?“

„Hast du“, bestätigte Dory, „Hauptsache, du schaffst es. Wenn nicht, wird’s teuer ...“

Als Adam eben begann, Kreise und Verbindungslinien zu beschriften, pochte jemand an seine Tür. Unwillig über die Störung, er glaubte, der Servant wolle irgendwelche Veranstaltungen anbieten, rief er ohne sich umzuwenden: „Schon in Ordnung, Mathilde, ich hab sowieso keine Zeit für deinen Tinnef ... zieh ab!“

Dennoch rollte hinter ihm die Tür, er sperrte sie nur selten zu, und Lily Jane trat vorsichtig näher.

„Du hast aber eine originelle Art, Gäste zu begrüßen. Störe ich?“

Er fuhr herum und sprang auf. Das Mädchen, das Wanda ähnlich sah, stand vor ihm.

„Nein ... nein ...“, log er verwirrt.

Besuche auf den Zimmern waren verpönt, wusste sie das nicht?

„Bitte, wenn du Platz nehmen möchtest, hier ....“, er wies auf einen kleinen Sessel neben seinem Arbeitstisch.

„Danke, lohnt nicht“, wehrte sie ab, offenbar ebenso befangen wie er, „ich will ja nur ...“, und setzte sich nach kurzem Zögern doch, als er ihr den Sessel zurecht schob.

Er sah sie erwartungsvoll an.

„Na ja“, sie räusperte sich und errötete, was ihr reizend stand, „eigentlich, es gehört sich nicht und wenn es jemand merkt ..., aber du kommst abends nie nach unten ... ich dachte, das müsste ich dir persönlich sagen ... und wir ... ich möchte dich dazu einladen ... als mein Partner, verstehst du?“

Stumm blinzelte Adam sie an.

„Ein Ball ... kommst du ...?“, fuhr Lily Jane zögerlich fort.

„Ein Ball ...?“ Er fühlte sich überrumpelt, eher erschreckt als erfreut. Ich kann doch nicht einfach ... seit ich hier wohne, habe ich nur ein paar oberflächliche Redensarten gewechselt ... und überhaupt, ich habe andere Sorgen.

„Ich danke dir für deine Einladung. Natürlich schmeichelt es mir, dass du mich als Partner für den Ball wünschst, obwohl, ehrlich gesagt, es mich wundert, dass deine Wahl gerade auf mich gefallen ist. Wir sind uns doch völlig unbekannt.“ Er wies auf den Monitor und die Unterlagen auf seinem Tisch. „Leider bin ich stark beschäftigt, du siehst ja.“

Sie knabberte an ihrer Unterlippe, unschlüssig anscheinend, ob sie sich verletzt fühlen oder ihn als Trottel einstufen sollte.

„Du bist aber schwierig“, bemerkte sie schließlich und blickte ihn finster an. Musternd glitten ihre Blicke an ihm herab, sie kniff die Augen zusammen und platzte heraus: „Bin ich dir zuwider? Wäre ja möglich, du magst keine Frauen. So wie du lebst. Unbekannt, sagst du? Ach ja? Du musterst mich doch jeden Morgen ziemlich gründlich, als ob ich dir ... na eben so ... sag es jetzt, vielleicht lässt sich darüber reden, wenn du was auf dem Herzen hast und dich bisher nicht trautest ... also, was ist los?“

Ihm war, als habe sie ihn mit kaltem Wasser übergossen. Steif erwiderte er: „Du irrst dich ... sowohl als auch ... tut mir leid, wenn ich dich durch Blicke oder sonst wie belästigt haben sollte. Du siehst jemandem ähnlich, den ich gut kenne, das ist es ... mehr nicht ... entschuldige ...“ Er verschluckte sich an den Worten, hastete zur Bar und goss sich klares Wasser in ein Glas. Erst jetzt blickte er auf. „Du auch ..?“

„Oh je ... nein ... oh, wie peinlich. Ich bin ein Trampel. Aber ich dachte wirklich ... entschuldige bitte ... und nun?“

Sein Ärger war verraucht. Die Situation begann ihn zu belustigen. Er schmunzelte verstohlen: „Ja, und nun?“

Sie erhob sich ebenfalls und nahm sich doch ein Glas, füllte es zur Hälfte und prostete ihm mit blitzenden Augen zu.

„Gut. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder du wirfst mich raus, weil ich dir zu nahe getreten bin, dir lästig falle, du mich kein bisschen leiden kannst oder wir lernen uns kennen, damit so eine Panne nicht noch einmal passiert und kommen dann in nächster Zeit vielleicht auf den Ball zurück ...?“ Verschmitzt lächelte sie ihn an.

Adam gestand sich ein, dass ihm ihre Gesellschaft keineswegs unangenehm war. Die Arbeit läuft mir nicht weg, dachte er und staunte über sich selbst, wie leicht ihm dieser Gedanke fiel. Ich habe mir doch schon von Anfang an gewünscht, mit der Kleinen zu reden. Ich mag zwar ein Stiesel sein, wie Wanda immer behauptet, aber kein Blödian, der verscheucht, was ihm unverhofft zuflattert.

Er streckte sich, dann verbeugte er sich zeremoniell.

„Ich heiße Adam Zumstein, bin Historiker und arbeite hier an meiner Dissertation. Daheim bin ich ...“

„In Europa, ich weiß“, unterbrach sie ihn lachend, sie schien seine formelle Art komisch zu finden, „du schiebst jeden Morgen ins Archiv und sollst dich dort den ganzen Tag über mit Papiermumien amüsieren. Wie du das aushältst! Ich meine, so immerzu ... mich würde das schaffen. Ach ja ... ich bin Lily Jane O’Brien, viertes Semester Landwirtschaft und wohne fünf Etagen unter dir, nicht ganz so feudal wie du.“

Sie wirkte aufgekratzt, wie erleichtert, dass er sie nicht fortgeschickt hatte.

„Ich hatte immer gedacht, die Leute in Europa wären anders, nicht im Aussehen, natürlich, aber im Verhalten, in der Kleidung ... irgendwie exotisch, man sähe es ihnen gleich an. Und dann kamst du und warst genau so wie wir, bloß älter und gesetzter und ziemlich unnahbar. Was glaubst du, wie genau wir dich beobachtet haben, bis wir einsehen mussten, dass nichts Aufregendes an dir ist? Komisch, was ...?“

Sie sprach schnell, fast ohne Pause, wie in Hektik und ließ ihm keine Gelegenheit zu einem Einwurf, als treibe sie ein zwanghaftes Mitteilungsbedürfnis. Er verglich sie mit Wanda. Beide verkörpern diese zarte Schräge, wenn sie lachten, beide hatten den schlanken Hals und neigten den Kopf beim Sprechen etwas nach links. Und dann trugen sie merkwürdigerweise eine ähnliche Frisur: kurz, kleiner Stirnpony, ohrenfrei und betonter Hinterkopf. So aus der Nähe wirkten sie aber doch recht verschieden. Lily Jane war größer, kräftiger in den Schultern, stabiler im Ganzen, weniger rundlich, aber wunderbar proportioniert und hatte längere Beine, eine klassische Figur, wie eine Showtänzerin, doch nicht deren Gang. Der erinnerte eher an den einer Kugelstoßerin, ausgreifend und fest auftretend in unbewusstem Kraftgefühl. Wanda bewegte sich leichter, graziöser, weicher, mädchenhafter.

Immerhin, stünden sie beide nebeneinander, gab es beträchtliche Unterschiede, mutmaßte er. Wanda war älter, wahrscheinlich gebildeter, aber unausgeglichen im Wesen. Sie suchte immer geistige Ebenbürtigkeit oder gar Überlegenheit zu beweisen. Bei ihr hatte er nie das Gefühl verloren, sie fürchte, sich etwas zu vergeben, wenn sie ihren Empfindungen nachgäbe. Als hindere ein Kontrollmechanismus in ihrem Kopf - bei aller Zuneigung und Anteilnahme und Lebenslust - eine bestimmte Grenze zu überschreiten.

Von dieser Lily Jane wusste er noch nicht viel, doch sie schien nicht nur jünger zu sein, sondern auch wesentlich unkomplizierter, impulsiver, ihrem Gerede nach zu urteilen, sogar ziemlich naiv. Der Gedanke drängte sich ihm auf, mit dem frischen, unverbildeten Schätzchen ließe sich die Zeit hier angenehm vertreiben.

Er verwies sich die aufsteigende Begehrlichkeit.

Du hast zu arbeiten, alter Schwede, rumpoussieren ist nicht drin! Hör lieber zu, was sie sagt!

Ihm wurde bewusst, dass ihm mehrere Passagen ihres Monologs entgangen waren. Sie sprach über sich.

„Es ist natürlich höchst unziemlich, einen Mann auf seinem Zimmer zu besuchen. Wenn jemand das spitz kriegt, zieht mir der Heimrat die Ohren lang. Keine Sorge, ich hab aufgepasst. Und dich keifen sie sowieso nicht an, du bist honoriger Gast. Die Ratsbeschlüsse sind nur für uns Studenten bindend. Damit du nichts Falsches denkst ... weißt du, das Wetter erschlägt einen geradezu, der veränderte Luftdruck macht viele fertig, ich muss mich ablenken. So hab ich mir einfach ein Herz gefasst und bin zu dir hoch. Weil ich mir dich als Partner für den Ball heute Abend gewünscht hatte und so neugierig auf dich war, und weil ... ich hätte dich ja auch unten im Speiseraum einladen können, aber da wären die anderen dabei gewesen, und wo du so scheu bist ...“

Sie sprach und sprach, hastig, wie gejagt. Unsortiert, frei und offen.

Nachdem er ihr versichert hatte, dass er sich über ihren Besuch freue und ihre Einladung annähme und keinesfalls Falsches von ihr denke, beruhigte sie sich und begann ihn nun über Europa auszufragen, wollte wissen, ob die Winter dort auch so streng wären, ob in seiner Heimat noch Landwirtschaft betrieben werde, wie man dort lebe, die Zeit verbringe, welchen Interessen man nachgehe und dergleichen.

Zuerst glaubte er, sie wolle mit ihren läppischen Fragen nur das Gespräch in Gang halten, doch ihre Einwürfe und Zwischenfragen machten ihm bald klar, dass sie trotz ausgezeichneten Schulwissens tatsächlich nur sehr allgemeine Vorstellungen von Europa hatte. Gewöhnt an die kontinentale Weite ihrer Heimat und daran, dass sich die Lebensgewohnheiten ihrer Landsleute überall glichen, wenn auch die großräumigen Klimazonen kleinere Abwandlungen bedingten, fiel es ihr schwer zu verstehen, dass in Gebieten, oftmals kleiner als ein Verwaltungsdistrikt hierzulande, in den Familien und im Kulturleben noch lokale Sprachen gebräuchlich waren.

Nur wenige Kilometer entfernt lebende Leute verstanden einander nicht mehr, waren gezwungen, Interling zu benutzen, um sich zu verständigen, pflegten ungeachtet dessen eifrig ihre regionalen Bräuche zu bewahren, ganz bewusst, um der Nivellierung durch die moderne Technik, die viel an Schönem und Einmaligem schon verdrängt hatte, zu entgehen.

Er sah sich genötigt, ihr Ursache und Bedeutung der Weckbewegung zu erklären, Initiator dieses Sichbesinnens auf überkommene Werte. Sie sei keineswegs, wie man hier zu meinen scheine, ein Häuflein überspannter interlektueller Typen, die sich interessant machen wollen, sondern eine einflussreiche Masseninitiative, die auch schon Asien und Afrika erfasst habe. Ihr Ziel sei, dem Glauben an die Omnipotenz der Technik - Konfession doch geradezu früherer Generationen - auf jede geeignete Weise entgegenzuwirken. Es gehe darum, das reiche Erbe der Vorfahren wieder zum Allgemeinbesitz zu machen, um so die erschreckend um sich greifende Verflachung und Verarmung in allen Lebensbereichen aufzuhalten und ein neues Wertebewusstsein zu entwickeln. Das habe nichts mit Maschinenstürmerei zu tun, niemand denke auch nur daran, die Errungenschaften der Moderne zu negieren, doch müsse diese auf den ihr zukommenden Platz verwiesen werden: auf den des Dieners und Helfers des Menschen. Es gehe nicht länger an, sich von Automaten abhängig zu machen und das als normal zu empfinden. Vereinfacht ausgedrückt, rege die Weckbewegung an, verloren gegangene Erfahrungen und Fertigkeiten der Vorfahren, manifestiert in der kulturellen Erbmasse im weitesten Sinne, neu zu erwerben und solcherweise das Gefühl latenter Unabhängigkeit zurückzugewinnen, eben das Bewusstsein der Priorität des Menschen.

Er merkte, dass er ins Dozieren verfallen war und sagte mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln: „Ich langweile dich sicher.“

„Nein, nein ... im Gegenteil, es war mir sehr interessant. Bei uns ist wenig über eure Weckbewegung bekannt, in Zusammenhang mit ihr ist immer von Nostalgie die Rede im Sinne von altmodisch, den guten alten Zeiten nachtrauernd, und das wirkt auf die meisten von uns wie ein rotes Tuch, weil es in den Nestern, aus denen wir kommen, Normalzustand ist. Die Leute dort, weißt du, haben die Ehrbarkeit gepachtet. Nur nicht aus der Reihe tanzen, ja nichts tun, worüber die Nachbarn die Nase rümpfen könnten, immer brav im Kreise gehen, sonst verfällst du der Acht, sogar in der eigenen Familie. Manchmal denke ich, sie wollen damit ein unterschwelliges Schuldbewusstsein kompensieren. Warum, weiß ich nicht. So lange man jung ist und nichts anderes erlebt hat, meint man, es müsse so sein, aber dann kommt man raus und merkt, dass man als lebensfremder Hinterwäldler belächelt wird. Zuerst wehrt man sich dagegen, fühlt sich abgestoßen, kann nicht begreifen, was die von einem wollen, bis es schließlich bei dir zündet. Manche flippen dann aus, wollen alles auf einmal nachholen und werden ganz schlimm, doch die meisten - ich auch - tun nur so als ob, sie möchten wohl, aber sie sind schon zu sehr auf brav und sittsam geprägt. Das ist wie ein niedriger Zaun vor einem Vorgarten, man könnte ihn leicht überspringen, doch man tut’s nicht, irgendwas im Hinterkopf lässt es nicht zu.“ Sie senkte die Lider und sah ihn unsicher von unten her an.

„Du hast uns natürlich gleich durchschaut und auf Distanz zu uns spießigen Provinzlern gehalten. Kein Wunder, wo du doch aus der großen Welt kommst und anderen Umgang gewöhnt bist. Mal ehrlich, findest uns sehr lächerlich?“

Adam hatte Mühe, ernst zu bleiben.

Ausgerechnet mich halten sie für einen blasierten Weltmann. Wanda, wenn ich ihr es später mal erzähle, bekäme Leibschmerzen vor Lachen. Offenbar resultieren Urteile über andere häufiger als man denkt aus Missverständnissen. Er nahm sich zusammen und versuchte, ihr seine Lage verständlich zu machen. Dass sein Verhalten ganz andere Ursachen habe, dass ihm nur ein Jahr Zeit zur Verfügung stünde für wissenschaftliche Forschungsarbeit und dass er daher gezwungen sei, mit jeder Stunde zu geizen, sich völlig auf seine Arbeit zu konzentrieren, weil von deren Gelingen seine Zukunft abhänge.

„Wirklich ...?“ Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte.

„Mancher verschanzt sich auch hinter seiner Arbeit ... um Leuten aus dem Weg zu gehen, die ihn langweilen, die ihm zu primitiv sind.“

„Unsinn!“, fuhr er grob auf. Die Hartnäckigkeit, mit der sie an ihrer Version festhielt, begann ihn zu grämen. „Es ist, wie ich sage. Wenn ich mal lüge, dann bestimmt nicht aus Höflichkeit. Ich weiß doch so gut wie nichts von euch, wie könnte ich mir da ein Urteil über euch erlauben? Du bist die erste, mit der ich mehr als ein paar Redensarten wechsele. Und, ganz ehrlich, ich bedaure, dass es erst jetzt geschieht. Ich finde dich nämlich sehr sympathisch und könnte mir gut vorstellen.“ Er verstummte mitten im Satz. Ihm war bewusst geworden, dass er sich hatte hinreißen lassen, Dinge zu sagen, die sie als Annäherungsversuch auffassen musste.

Sie sah ihn denn auch groß an, überlegte und sagte dann mit dem aufmerksam forschenden Blick und in dem sachlichen Ton einer Medizinerin bei der Anamnese: „Ist das wahr? Ich meine, dass ich dir gefalle ...? Das sagst du sicher nur, weil du lange keine Frau gehabt hast und dich meine Anwesenheit erregt.“

Adam, perplex zuerst - will die Kleine etwa mein Eingeständnis, dass ich mit ihr schlafen möchte? - fühlte sich provoziert, in gleich direkter Weise zu antworten.

„Wäre das unnatürlich bei einem normal veranlagten Mann?“

Sie hatte … absichtlich ...? oder in aller Naivität? … das Gespräch in eine verfängliche Richtung gelenkt.

„Nein“, gab sie zu, „es ist nur ...“ Sie suchte nach Worten, doch nicht aus Verlegenheit, sondern im Bemühen, sich verständlich auszudrücken. „Also, sieh mal, es ist doch so, dass sich starkes sexuelles Begehren auf jedes beliebige Objekt des anderen Geschlechts richten kann ... wie einer eurer Klassiker sagt: ... sieht Helene in jedem Weibe ... dabei geht es um Stillung eines Bedürfnisses, nicht um Partnerschaft. Ich finde, das ist ein großer Unterschied, der an die Achtung vor der Persönlichkeit rührt.“

Das klang recht lehrbuchhaft, als habe sie noch kein tieferes Erlebnis gehabt, beschäftige sich aber mit Wunschvorstellungen, begreiflich in ihrem Alter. Es reizte ihn, ihr vorzuhalten, dass die Dinge nicht ganz so einfach lägen.

„Gewiss, das lässt sich nicht abstreiten. Nur steht eben mehr oder weniger bewusstes Begehren am Anfang jeder Liebesbeziehung, und niemand weiß vorher, wie viel der andere zu geben in der Lage ist. Es ändert auch nichts, wenn man es wüsste. Wo Gefühle im Spiel sind, hängt es nur von deren Stärke ab, ob sie den Verstand überrennen, selbst wenn beiden klar ist, dass es eine Episode bleiben kann. Das macht die in jedem Menschen schlummernde Sehnsucht nach Glück, denke ich mir. Währt es nur kurz, bleibt sicher Bitterkeit zurück, das Gefühl, um das volle Maß an Glück betrogen worden zu sein, doch weitaus quälender ist ungestillte Sehnsucht, glaub mir, besonders, wenn man sich vorwerfen muss, aus Zaghaftigkeit, aus Furcht vor Tadel oder was weiß ich, auf dieses Minimum an Glückserfüllung verzichtet zu haben. Das klingt vielleicht nicht sehr moralisch, ist aber eine Erfahrung, die schon viele machen mussten, wie der Platz beweist, den sie in der Kunst einnimmt.“

Er blickte sie unsicher an, befürchtend, zu weit gegangen zu sein. Jede halbwegs erfahrene Frau sähe darin ein kaum verhülltes Angebot; das war es natürlich auch, obwohl unbeabsichtigt im Moment.

Zu seiner Erleichterung schien sie es nicht so empfunden zu haben. Sie erwiderte unbefangen, sie fände seine Ansicht interessant, obgleich ziemlich subjektiv, aber diskutierenswert. Denn sicher ... im Einzelfall ... besonders in Europa ... doch vielleicht könne es sich auch um ein allgemein-menschliches Problem handeln, dem man sich nur nicht überall in gleich offener Weise stelle. Jedenfalls mache es ihr Mut, ihn etwas zu fragen, was eigentlich ungehörig sei, sie aber sehr beschäftige.

Sie neigte den Kopf noch ein wenig schräger und suchte seinen Blick, als wolle sie in ihm lesen. Dabei errötete sie wieder.

„Sag ehrlich, hast du nie gedacht, es wäre schön mit uns beiden ...? Bitte, lach nicht! Ich, das dumme Putchen, das dich anzumachen versucht ... ich möchte es einfach wissen ... weil, na ja ... man fühlt sich irritiert, wenn einer immer mit den Augen an einem hängt, aber niemals Anstalten macht ... das erwartet man doch irgendwann mal.“

Er rang um Fassung.

Verdammt, dachte er, die Kleine liebt wahrhaftig keine Umwege. Sie hat also doch verstanden. Der Mann hat Recht, der mal gesagt hat, man brauche nur zu sagen, was man denkt, um die Leute zu schocken.

„Nun ja“, gestand er widerwillig ein, „wenn du mich so direkt fragst, warum soll ich’s leugnen. So was habe ich wirklich gedacht ... und denk es immer noch. Ist ja wohl kein Verbrechen.“

„Dann begreife ich aber nicht ... du hättest doch ... war es, weil ich nie allein war? Oder ...“, sie zögerte, ehe sie sagte, als falle es ihr eben erst ein: „Ach ja, ich sehe jemandem ähnlich ... das wird es sein, du bist nicht frei.“

Er fühlte sich unbehaglich unter ihrem fragenden Blick. Was sollte er darauf erwidern? Doch da er nun einmal Wandas Existenz angedeutet hatte, musste er wohl so was wie eine Erklärung versuchen.

„In gewisser Weise ... der erste Eindruck, tatsächlich ... und auch wieder nicht.“ Er suchte nach den treffenden Worten. Wie soll man jemandem begreiflich machen, was einem selbst noch Kopfschmerzen bereitet?

„Wir kennen uns schon lange, sind gute Freunde und mehr, ohne indes ... es ist mehr sporadisch, obwohl ich gehofft hatte ... kompliziert, was ...? Wanda hat einen ziemlich eigenwilligen Charakter.“

„Ah, dachte ich’s mir, es musste einen Grund haben. Wanda heißt sie also ... ist es die, von der du manchmal Briefe erhältst?“

„Das weißt du?“

„Wie jeder im Hause. Wer schreibt sich heutzutage noch Briefe? Ist wie eine Art Sensation, über die geredet wird, na klar. Denkst du, sie nimmt es auch so genau mit der Treue wie du?“

Unmerklich zuckte er zusammen. Dieses Mädchen hat ein merkwürdiges Talent, an wunden Stellen zu kratzen, dachte er. Sie trifft immer dorthin, wo es schmerzt.

„Ich habe kein Recht, das von ihr zu fordern“, sagte er abweisend. „Was ich hoffe, ist meine Sache.“

„Entschuldige, wenn ich indiskret war. Es geht mich nichts an. Es ist nur, du interessierst mich eben. Da wir gerade darüber reden, möchte ich dir doch noch gern sagen, was ich davon halte. Darf ich? Nun ja, ich finde, Liebe ist eine Sache auf Gegenseitigkeit. Wenn sich deine Freundin nicht zur Treue verpflichtet fühlt, kann sie auch nicht erwarten, dass du es bist. Ganz ehrlich, ich glaube, ich wäre da nicht so penibel. Möchte mich einer und ich möchte ihn auch ... sag selbst, soll man wegen einer Hoffnung davor zurückschrecken? Von der man nicht weiß, ob sie sich jemals erfüllt? Und vielleicht erweist sich gerade das, was zuerst wie ein Abenteuer aussieht, als große Erfüllung ... wäre doch möglich?“

Sie sprach mit gerunzelter Stirn, wie jemand, der ein schwieriges Problem sachlich zu analysieren versucht, und sah hinreißend aus.

Beim großen Manitou, dachte er, nun dreht sie den Spieß um und fasst mich bei meinen eigenen Gedanken. Ob sie mir damit tatsächlich was annoncieren will? Sie sieht nicht so aus, aber wo Theorie raucht, flammt für gewöhnlich bald das Feuer der Praxis. Und lodert es erst mal ...ich weiß Bescheid, ich hab noch Brandblasen an den Fingern und anderswo. Dennoch, an d e r Glut würde ich mich ganz gern einige Zeit wärmen, obwohl es Irrsinn wäre. Wohin sollte das wohl führen? Angeblasen ist leicht, macht Spaß, löschen weniger, dabei sengt man sich oft selber an. Aber in dem Punkt muss der Mensch was von einer Motte haben, es zieht ihn mit magischer Gewalt zur Flamme, alle Erfahrungen sind für die Katz’. Ich fürchte, ich fürchte ... wenn sie wirklich mal A rufen sollte, bin ich zu schwach, nicht B zu flüstern.

„Was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich ist da was dran, es ist nur, ein schwerfälliger Typ wie ich kann sein Beharrungsvermögen nicht so leicht überwinden … vielleicht, wenn ein kräftiger Anstoß käme ... von dir zum Beispiel. Ich meine das natürlich rein theoretisch, bitte, versteh mich nicht falsch“, fügte er hastig hinzu, in Sorge, sie könne es als Aufforderung auffassen und sich verletzt fühlen.

„Wie sollte ich“, sagte sie mit Unschuldsmiene, in ihren Augen blinkten Schalkfunken. „Wir sitzen doch nur zusammen, brav wie im Warteraum des Med-Centers und reden miteinander über dies und das, wie sich’s eben ergibt, wenn die Zeit lang ist. Was anderes wär es, du hättest wirklich was für mich übrig ... dann müsste ich ernsthaft über deinen Vorschlag nachdenken und ihn zumindest wohlwollend in Erwägung ziehen. Aber so ... du sagst doch selbst, es ist rein theoretisch gemeint.“

Sie lachte ihn an.

„Ich muss jetzt gehen. Also dann erwarte ich dich an meinem Tisch. Du bist heute Abend mein Partner, so ist es abgemacht, ja?“

„Nur heute Abend?“, fragte er kurzatmig und fühlte sich als Draufgänger.

„Ist das auch theoretisch gemeint?“ Sie lächelte spitzbübisch und schenkte ihm einen verheißungsvollen Augenaufschlag, der seinen Puls merklich beschleunigte. „Bis dann.“

Sie standen schon an der Tür, als das Licht erlosch. Das Unwetter hatte offenbar eine Havarie ausgelöst. Lily Jane schrie auf, krallte ihre Hände in seine Arme und presste sich schutzsuchend an ihn. Er roch den Duft ihres Haares.

„Ich hab’s geahnt“, stammelte sie verstört, „irgendwas musste passieren.“

Er wollte sie beruhigen, doch da ging das Licht schon wieder an. Die Havarieautomatik hatte prompt reagiert.

Augenblicklich löste sie sich von ihm. „Ich bin unmöglich ... der Blizzard, verstehst du ... entschuldige...“ Bevor er noch etwas sagen konnte, schob sie die Tür zurück, schaute nach links und nach rechts und huschte zum Lift.

Danach fiel es ihm schwer, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um das Mädchen Lily Jane, das so überraschend in sein Zimmer und, wie er deutlich empfand, in sein Leben getreten war. Er gestand sich ein, dass ihn nicht nur ihre Ähnlichkeit mit Wanda anzog. Die war ja wirklich nur oberflächlich. Ihr natürliches Wesen, ihr Körper, ihre ganze weibliche Ausstrahlung, hatten Gefühle in ihm geweckt, die er sich eigentlich nicht gestatten durfte, weil sie sein inneres Gleichgewicht in Gefahr brachten. Aber es war nun einmal geschehen, er spürte ein heftiges Verlangen. Wenn er nur wüsste, ob sie auch ... ihre kessen, halb tiefsinnigen, provozierenden Redereien schienen es anzudeuten, doch sie war in dem Alter, in dem man gerne spielt, wenngleich ... bei Frauen ist das vielleicht anders, wer kennt sich da schon aus. Er seufzte tief. Wie es aussieht, hat sie mich im Käscher. Sie hat sich meiner bemächtigt, auf raffiniert unraffinierte Weise.

Der alte lebenskluge Heinrich Heine hat schon den Nagel auf den Kopf getroffen: „Ein Tor ist immer willig, wenn eine Törin will ...“. So war es, so ist es, und so wird es bleiben. Die Erbsünde der Mythologie. Nicht übel formuliert - was kann man dafür, wenn einem die Begierde nach dem anderen Geschlecht als Erbteil im Blut liegt? Wanda mag mir verzeihen, die kleine Lily Jane ist ein zu harter Prüfstein für meine Enthaltsamkeit.

Er ließ die Arbeit liegen und musterte seine Garderobe.

Lily Jane erwartete ihn bereits im großen Saal. Sie strahlte auf, als sie ihn erblickte und winkte ihn an ihren Tisch. Ihm war ein wenig beklommen zumute, alle schienen ihn verwundert anzusehen, nicht nur, weil er unkostümiert den Ball besuchte, es waren seine beachtlichen Körpermaße, die unter all den Kostümierten nun besonders auffielen. Verlegen griff er sich an sein Ohrläppchen, knetete es durch, zupfte schließlich mit den Fingern sein kinnlanges, leicht gewelltes Haar zurecht, und war froh, als er sich endlich zu ihr durchgedrängt und neben ihr Platz genommen hatte.

„Du bist gekommen! Wenn du wüsstest, wie ich mich freue. Sieh mal, die neidischen Blicke ... ich gebe es zu, ganz sicher war ich mir nicht ... ihr Europäer ... wir sind gewöhnt, direkt und unverblümt auf unser Ziel loszugehen, aber ihr ...“, sprudelte sie los.

„Wie du siehst, pflege ich im Allgemeinen zu halten, was ich verspreche. Dein Kostüm kleidet dich übrigens gut.“

Sie hatte sich als Indianerin aus dem neunzehnten Jahrhundert ausstaffiert, mit weitem, braunen Kittel und einer bunten Feder in der schwarzen Perücke, die sie fremd erscheinen ließ, wenigstens anfangs, bis er sich daran gewöhnt hatte.

„Schau an, du kannst ja sogar Komplimente machen. Komm, stoßen wir erst mal an.“ Sie hob ihm ihr Glas entgegen. „Auf uns ...! Dass wir Freunde werden, falls du es auch willst ...!“

„Oh, was das anbetrifft, will ich mir schon Mühe geben. Manitu sei mein Zeuge, edle Squaw. Alsdann: Cheerio!“

Der Sekt aus der Retorte, echten konnten sie sich hier selten leisten, prickelte auf der Zunge und war durchaus trinkbar. Wider Erwarten hatten sie wenig voneinander. Die Mädchen drängten sich danach, mit ihm zu tanzen. Lily Jane musste sich jeden Tanz mit ihm regelrecht erkämpfen. Er fühlte sich ein bisschen wie ein Hahn im Korbe und wohl wie lange nicht und verstand nicht mehr, warum er die Gesellschaft der jungen Leute gemieden hatte. Sie waren reizend und himmelten ihn an.

Nach dem Ende des Balls war er allerdings restlos erschöpft. Er begleitete Lily Jane zu ihrem Zimmer. Mehr als einen Kuss erlaubte sie ihm aber nicht. Auch das Liebesspiel hat seine Regeln und kluge Mädchen beachten sie instinktiv. Das wusste er nicht und fühlte sich deshalb enttäuscht.

Löwentatze

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