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Einleitung

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„Gewissen extremen Versionen zufolge

soll ‚Lem‘ sogar ein Mensch sein.“

Stanisław Lem

Noch heute zählt Stanisław Lem zu den weltweit am meisten gelesenen Autoren der Science-Fiction, dessen Werke der internationalen Öffentlichkeit nicht zuletzt mit zahlreichen Verfilmungen bekannt sind. Lem hat freilich zeit seines Lebens ein ambivalentes Verhältnis zur Science-Fiction gezeigt: „Ich kenne, gestehe ich, keine Literaturgattung, die mir so zuwider ist.“ (Lem über Lem, S. 181). Und trotzdem, ohne sein Werk ist die Geschichte dieser literarischen Gattung nicht zu schreiben. Der angedeutete Zwiespalt hat Lems Arbeit als Autor von den Anfängen bis zu seinem Tod geprägt. Bei kaum einem anderen Genre mag man sich aber mit mehr Recht fragen, welchen Sinn es hat, sich mit der Lebensgeschichte von Autoren zu befassen. Wie kann – geht es einem vielleicht durch den Kopf – der Blick auf die biographischen Hintergründe von Schreibenden für ein besseres Verständnis von deren Texten sorgen, die ferne Welten und künftige Realitäten entwerfen, also von gegebenen und bekannten Zuständen abgekoppelt sind oder zumindest zu sein scheinen?

Lem hat für seine schriftstellerische Arbeit, sei es in belletristischen Texten oder theoretischen Abhandlungen, stets eine aufklärerische Wirkung im Blick gehabt. Sie sollte sich aus dem Zusammenspiel von literarischer Imagination und wissenschaftlich-technischem Wissen ergeben. Mit Nachdruck hielt er für sein Schreiben fest, dass es Literatur mit Wissenschaft vermittle und als „wissenschaftliche Phantastik“ zu betrachten sei. Wissenschaftliche Phantastik: so kann man Science-Fiction auch begreifen und zugleich überschreiten.

Mit Wissenschaft ist ein außerliterarischer Bereich gegeben, der sich mit Lems Biographie berührt. Ein Blick auf die Lebensgeschichte kann die für Lem ausschlaggebenden wissenschaftlichen oder technischen Zusammenhänge erhellen und so vielfältige Anlehnungskontexte für die literarische Arbeit sichtbar machen. Als Autor sah sich Lem jedenfalls untrennbar mit Wissenschaft und Technik verbunden, insbesondere dann, wenn er sich mit der Darstellung künftiger Zivilisationen befasste. Aus dieser Verschränkung von Wissenschaft, Literatur und Zukunftsentwurf ergab sich für ihn auch wohl oder übel die Wahl für das Genre der Science-Fiction:

Als ich die verzweigten Äste des Baums der Naturwissenschaften zum Leitstern wählte, habe ich mich zugleich ungewollt für die sogenannte Science Fiction als unangenehme Nachbarschaft entschieden. (Lem, Philosophie des Zufalls, Bd. 2, S. 159)

Lem hat in seinem Schreiben in Gestalt der wissenschaftlichen Phantastik Implikationen und Konsequenzen einer naturwissenschaftlich begriffenen sowie gestalteten Realität in mannigfaltig differenzierten literarischen Ausformungen zum Ausdruck gebracht und dabei weit in die Zukunft ausgreifende Szenarien entwickelt. Im Zentrum stehen dabei die Widersprüche und Verwerfungen der technologischen Zivilisation, deren Eigentümlichkeiten sich bereits in Lems Gegenwart abzeichneten und vom Autor in kritischer Absicht für die Darstellung künftiger Entwicklungen genutzt werden. Mit technologischer Zivilisation ist dabei eine soziale Ordnung gemeint, in der Gesellschaft und Technik „wechselseitig ineinander enthalten“ sind (Klagenfurt, Technologische Zivilisation und transklassische Logik, S. 19). Aus dem Zusammenspiel von industrieller Produktion als angewandter Wissenschaft und Technologie als um Wissenschaft erweiterte Technik ergibt sich eine spezifische, besonders für die Moderne charakteristische Zivilisation. Die politisch-gesellschaftliche Verfasstheit dieser Zivilisation wirkt sich ihrerseits auf Wissenschaft, Technologie und Produktion aus. Aus dem Gesamtgefüge dieser Bewirkungs- und Prägungsverhältnisse ergibt sich das Profil dieser Zivilisation. In ihr wird Technologie als gesellschaftliches Projekt verwirklicht. Und umgekehrt prägt Technologie das Erscheinungsbild der Gesellschaft. Die wechselseitige Verschränkung von Technologie und Gesellschaft in Gestalt der technologischen Zivilisation hat Lem in seinem Schreiben ausgelotet, indem er künftige Zustände entwarf und diese, oft implizit oder in tarnender Einkleidung, auf zeitgenössische politische Verhältnisse zurückbezog. Ganz besonders hat ihn dabei die Stellung des Individuums interessiert.

Lem hat mit diesem allgemeinen Ansatz ein umfangreiches Œuvre geschaffen, das er in späteren Jahren dezidiert von der Science-Fiction abgrenzte, einer Gattung, in der ihm zu viel haltloses Spektakel, ausufernde Beliebigkeit und farbenprächtige Trivialität zu herrschen schienen: „In der Tat halte ich mich nicht für einen Science-Fiction-Autor.“ (so gegenüber Raymond Federman in Science Fiction Studies 1983, Nr. 1, S. 3, Übers. AG). Lems Literatur ist Science-Fiction im wörtlichen Sinne: Als wissenschaftliche Phantastik leistet sie eine kritische Auseinandersetzung mit der technologischen Zivilisation. Darin ist sie über viele Kanäle mit wissenschaftlichen und technologischen, aber auch politischen und gesellschaftlichen Fragen verknüpft. Lems Schreiben ist eine in ihrer Fülle und Differenziertheit einzigartige literarische Entfaltung von Leben in der Zukunft.

Im Folgenden soll daher in einer einführenden und damit auch zwangsläufig selektiven Gesamtbetrachtung das Profil von Lems Schreiben vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte herausgearbeitet werden. Mit diesem biographischen Zugang ergeben sich aufschlussreiche, wenn auch hier eher orientierend umrissene als bereits in allen Details abschließend ausgeführte Einblicke in die literarische Verarbeitung von Wissenschaft, Technologie und historisch-politischen Konstellationen im Œuvre des polnischen Schriftstellers. Denn in der Tat: Lem war auch ein Mensch.

Stanislaw Lem

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