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Die Anreise

Mittwoch,10. August.

Ich bestieg den Zug früh morgens um sechs Uhr, und ehe ich es richtig gewahr wurde, hatte ein Taxi mich, meinen dick gefüllten Seesack und einen Karton voller Medikamente zur Air-Base gefahren. Die Antibiotika hatte eine Pharma-Firma gespendet. Das Haltbarkeitsdatum würde im Dezember des Jahres ablaufen. Soviel zum Thema Arzneimittel - Entsorgung und humanitäres Engagement.

Erstaunlich unkompliziert wurde ich mit einigen weiteren Passagieren durch mehrere Gebäude direkt an den Rand einer Landebahn eskortiert und traute meinen Augen nicht. Frachtflugzeug An - 124 - 100: eine alte, vierstrahlige Antonov. Sie sollte das Transportmittel sein für mich, weitere Kolleginnen, Kollegen und Krankenschwestern aus ganz Deutschland, die wir hier wie zusammengewürfelt aufeinander trafen und sprachlos das uralt erscheinende Ungetüm anstarrten, dem wir uns für einen mehr als 6000 Kilometer langen Flug ins Herz von Afrika anvertrauen sollten. Aus welchem vergessenen Hangar hatte man diese Antiquität nur herausgezogen?

Beim Anblick des Monsters rutschte mir zum ersten Mal das Herz in die Hosentasche, und es sollte nicht das letzte Mal sein auf dieser Reise ins Unbekannte. Ich erinnere mich, dass die Gesichter meiner Schicksalsgenossen ebenfalls blasse Ratlosigkeit zeigten.Eine Antonov 124, nicht gerade vertrauenerweckend, aber es war zu spät für einen Protest.

Später erfuhr ich, dass seit ihrer Inbetriebnahme vier Maschinen dieses Typs als Totalverlust abgeschrieben werden mussten, in allen Fällen handelte es sich um tödliche Zwischenfälle, bei denen insgesamt 97 Menschen ums Leben kamen. Die allgegenwärtige Informationsflut des Internets war nicht besonders hilfreich, schon garnicht tröstlich.

6500 km lagen vor uns. Nach einem immerhin problemlosen Start nahm der Flug kein Ende. Einen Service gab es nicht, die einzige Stewardess sprach nur russisch, sie stammte aus Tschernihiw nördlich von Kiew. War sie eine Zugabe der Ukraine beim Kauf der AN 120 gewesen? Sie hatte kein Interesse an ihren Passagieren und ließ sich selten sehen. Wozu auch.

Viel an Lebensmitteln hatte ich nicht mitgenommen, da ich mit einer Verpflegung an Bord gerechnet hatte. Das war äußerst naiv gewesen, wie sich nun herausstellte.

Die Stunden vergingen zäh, das Brummen der Motoren war nicht wirklich einschläfernd, und so drehte ich mich in meinem Sitz hin und her, starrte auf die riesige Menge an Sitzreihen und zählte die Stahlspanten des Innenraumes, die sich in großen Bögen über uns erstreckten. Eine Innenverkleidung war nicht vorhanden, saßen wir doch alle in einem militärischen Transportflugzeug, um die dreißig Ärztinnen, Ärzte und Krankenschwestern, zusammengekommen aus ganz Deutschland, jeder zunächst mit sich selbst beschäftigt. Gespräche und Kontakt ergaben sich erst zögernd nach einigen Stunden.

Irgendwann musste doch eingenickt sein, denn plötzlich hörte ich die herbe, polternde Stimme der Stewardess. Ich verstand kein Wort, aber ihrer Gestik konnte ich entnehmen, daß wir uns anschnallen sollten.

Da die Motoren doch eher vertrauenerweckend rund liefen und ich keine Schlingerbewegungen bemerkte, ließ der erste Schrecken schnell nach, und ich konnte feststellen, dass das Flugzeug in einen Sinkflug übergegangen war.

Wie lange waren wir unterwegs? Es mussten etwa sieben Stunden gewesen sein. „Unglaublich schnell für den alten, behäbigen Vogel“, dachte ich und versuchte durch das trübe, zerkratzte Fenster etwas zu erkennen. Nur blaues Wasser war zu sehen. Das konnte unser Zielflughafen also nicht sein. Der Victoria-See war zwar nicht weit von Goma entfernt, aber der konnte es nicht sein. Seine Wasserfläche war für das, was ich da unter uns sah, viel zu gering, denn ich blickte auf ein endlos weites Meer.

Wo waren wir? Stewardess fragen? Sinnlos! Also was war da los? Zweifellos setzte der Flieger zur Landung an. Niemand wusste etwas. Eine halbe Stunde musste ich mich gedulden, dann war alles klar. Wir waren in Ägypten, auf dem Flughafen von Kairo gelandet.

Erstmals meldete sich der Flugkapitän über den Bordlautsprecher :

„We landed in Cairo International Airport to refuel, then we will continue to Goma.“ Ach so. Wie gut, daß es den Piloten tatsächlich gab. Es hätte mich nicht wirklich gewundert, wenn die Stewardess den Steuerknüppel bedient hätte.

Aussteigen war nicht erlaubt, also auch kein Lebensmittel shopping möglich. Wir Passagiere teilten untereinander, was jeder noch hatte, und so überbrückten wir die sich endlos hinziehende Wartezeit auf dem verödeten Flugfeld.

Währenddessen schluckte die alte Antonov Kerosin. Wir konnten die Pumpen arbeiten hören. Sonst war Stille. Auf dem Flugplatz starteten und landeten wenige Flugzeuge, obwohl es doch Nachmittag war und Sommer- Reisezeit.

Gegen drei Uhr nachmittags brachte der Pilot seine schwerfällige Maschine wieder in die Luft. Erst die Hälfte der Strecke war geschafft, und alle trösteten wir uns mit der Aussicht auf ein wenn auch nicht üppiges, so doch wenigstens exotisches, leckeres afrikanisches Abendessen im Basiscamp von Goma. Im Geiste hörte ich fremde, verlockende Musik, Trommeln und die klagende Melodie eines Saiteninstrumentes. Mit diesen Erwartungen schlief ich erneut ein und erwachte erst wider, als die strenge Stewardess mich an der Schulter rüttelte. Ich verstand sofort: Anschnallen.

In der Stille der frühen Stunde legte sich der monotone, raue Gesang des Viertaktmotors wie verzerrte, gerinnende Musik auf das notdürftig geflickte Asphaltband, das sich bogenförmig an den Hängen des Talgrabens entlangzog. Das Dorf in der Senke erwachte unter steigendem Dunst. In einem Vorgarten kniete bereits ein Mann und schnitt die letzten Rosenblüten des Spätsommers. Sein kleiner Junge saß neben ihm auf der Erde und spielte mit einem Windrad. Die Luft war mild und weich wie an einem Frühlingsmorgen. Bald würde die Sonne das Dorf erreichen. Das Tal, das Paul in jenem Jahr viele Male aufsuchte, erstreckte sich in seiner ganzen Länge zwischen Westen und Osten, was bedeutete, daß dort immer die Sonne schien, von morgens bis abends, vorausgesetzt natürlich, daß der Himmel sich nicht hinter Wolken versteckte. Es war anfangs ungewohnt und schmerzlich für ihn gewesen, dort alleine zu sein, die zahlreichen Besonderheiten und Schönheiten der Natur nicht mit jemandem teilen zu können, sein Empfinden nicht in jemandem wiederzufinden, der ihm nahe war, der seinen Gedanken folgen konnte, und dessen Regungen er ohne Worte erfaßte. So trat er mit der stetig sich wandelnden Landschaft unmittelbar in Kontakt und bemerkte, daß ihm vieles bisher verborgen geblieben war, daß man immer noch mehr entdecken konnte, wenn man genauer hinsah, wenn man länger beobachtete, als das üblicherweise geschah.

Fremde Schicksale, fernes Land

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