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‚Proto-Schreiben‘ – ‚volles Schreiben‘

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In einer bei Pech Merle in Lot in Südfrankreich gelegenen Höhle stieß man auf eine Felswand, auf der einige merkwürdige Zeichen zu sehen waren: der Abdruck einer rot getönten Hand mit vier gespreizten Fingern und einem deutlich erkennbaren Daumen; in unmittelbarer Nähe befand sich ein wie zufällig angelegt wirkendes Muster von etwa elf roten Tupfern. Was diese Zeichen bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach rund 20.000 Jahre alt sind. Sie stammen, wie viele andere Felszeichnungen Südfrankreichs, aus der letzten Eiszeit und enthalten oft Tierbilder, auf denen oder um die herum Zeichen ‚geschrieben‘ sind. Ein Beispiel aus einer anderen Höhle zeigt die in den Fels eingeritzte Figur eines Pferdes, über das eine Reihe von Zeichen eingraviert ist, die einem P ähneln; eines dieser Zeichen ist um seine vertikale Achse gedreht. In einer in der Nähe liegenden anderen Höhle ist das Bild eines Pferdes umgeben von mehr als 80 dieser ‚P‘-Zeichen; viele von ihnen sind offensichtlich mit unterschiedlichen Werkzeugen hergestellt worden.


1. Über dieses in den Fels eingravierte Pferd, das sich in der Höhle von Les Trois Frères in Südfrankreich befindet, verläuft eine Reihe von Zeichen. Es stammt aus der letzten Eiszeit und ist eines von vielen Beispielen für das Proto-Schreiben.

Sind diese der eingravierten Hand beigefügten Tüpfelchen und die ‚P‘-Zeichen als Ergebnisse des ‚Schreibens‘ zu betrachten? Man ist versucht, sich vorzustellen, dass die Zeichen des ersten Beispiels das paläolithische Bedeutungsäquivalent einer Mitteilung sind, die lauten könnte: „Ich war hier, und zwar mit meinen Pferden“. Dabei würde jedes Tüpfelchen für ein Pferd stehen. Das zweite Beispiel wäre in der Eiszeit hinterlassen worden von jemandem, der sich in einen über einen längeren Zeitraum verlaufenden religiösen oder rituellen Vorgang irgendeiner Art eingefügt hätte. Niemand vermag dazu etwas Sicheres zu sagen. Auf jeden Fall aber waren diese Zeichen dazu bestimmt, jemandem etwas mitzuteilen.

Bezeichnen können wir sie als Ergebnisse einer Vorform des Schreibens, für die die Bezeichnung ‚Proto-Schreiben‘ verwendet wird: Sie sind dauernd sichtbare Zeichen einer einem Teil- oder Spezialbereich dienenden Kommunikation. Manche Wissenschaftler lassen den Begriff des ‚Proto-Schreibens‘ nur für die frühesten Formen des Schreibens gelten; in diesem Buch jedoch wird er für weitaus umfassendere Bereiche verwendet. Dadurch erweitert sich das Proto-Schreiben auf zahllose Varietäten. Es schließt prähistorische Felszeichnungen aus der ganzen Welt ebenso ein wie piktische Symbolsteine aus Schottland, amerindische Piktogramme, mit Einschnitten und eingeritzten Zeichen versehene Kerbhölzer, wie sie noch bis 1834 durch die British Treasury verwendet wurden, und auch die Quippus, faszinierende Knotenschnüre, mit denen man sich im Reich der Inkas über die Bewertung materieller Güter auf dem Laufenden zu halten vermochte. Eine ähnliche Funktion wie das Proto-Schreiben besitzen zeitgenössische Zeichensysteme wie das System der international gültigen Verkehrszeichen, ikonische Bestandteile der Computersprache, elektronische Stromkreisdiagramme, formelhafte mathematische Ausdrucksweisen und das an Notenlinien gebundene Zeichensystem der Musik.

Mit anderen Worten: Das Präfix ‚Proto‘ bezieht sich nicht auf eine historische, sondern auf eine funktionale Entwicklung. Obgleich das Proto-Schreiben weit vor der Entstehung des textorientierten vollen Schreibens praktiziert wurde, wie es etwa das englische Alphabet oder die chinesischen Schriftzeichen repräsentieren, wird es seinen Platz neben diesem textorientierten vollen Schreiben behalten. Denn es ist unter dem Einfluss des textorientierten vollen Schreibens keineswegs verschwunden. Man könnte ja meinen, es hätte als primitive Vorform im Verlauf des evolutionären, auf die angeblich höhere Form unseres Schreibens gerichteten Entwicklungsprozesses wegfallen können. Es ist jedoch im Gegenteil für spezielle Zwecke fortwährend beibehalten worden. Wissenschaftliche Zeitschriften etwa enthalten eine Mixtur aus vollem Schreiben, in der Regel einen in alphabetischer Schrift verfassten Text, und aus Proto-Zeichen wie mathematischen und visuellen Diagrammen. Theoretisch könnten auch mathematische Sachverhalte in Wörtern ausgedrückt werden, wie es früher Naturwissenschaftler wie etwa Newton auch häufig getan haben; das Gegenteil ist allerdings nicht möglich: Wörter können nicht in mathematischen Symbolen geschrieben werden.

Volles Schreiben ist prägnant definiert worden als „ein System graphischer Symbole, das gebraucht werden kann, um jeden Gedanken vollständig wiederzugeben“. Diese Definition stammt von John DeFrancis, einem amerikanischen Studenten des Chinesischen, der mit einem Buch mit dem Titel Visible Speech: The Diverse Oneness of Writing Systems hervorgetreten ist. Nicht alle Gelehrten, die sich mit Schreiben und Schrift beschäftigen, sind jedoch mit dieser Definition einverstanden. Einige von ihnen machen überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Proto-Schreiben und dem vollen Schreiben. Sie betrachten beide Formen als ‚Schreiben‘, obgleich sich mit ihnen unterschiedliche Abstufungen von Bedeutungen vermitteln lassen. Andere stehen der Vorstellung kritisch gegenüber, dass jeder Gedanke sich in der gesprochenen Sprache ausdrücken lasse; sie würden es vorziehen, in die oben genannte Definition statt des Ausdrucks „Gedanken“ die Formulierung „jede Sprache“ aufzunehmen. Die meisten zum Nachdenken anregenden Momente, z.B. in Filmen, sind häufig wortlos, andererseits denken Mathematiker offensichtlich häufiger in visuellen Bildern als in Wörtern. Nichtsdestoweniger lassen sich nahezu alle Gedanken bei ausreichender Übung in Worten ausdrücken. „Zu wissen, wie man gut schreibt, heißt zu wissen, wie man gut denkt“, heißt es bei dem Mathematiker, Physiker und Philosophen Blaise Pascal. Und somit ist die von DeFrancis formulierte Definition nützlich, und zwar um ihrer selbst willen, aber auch deswegen, weil sie eine Möglichkeit enthält, das volle Schreiben vom Proto-Schreiben zu unterscheiden.

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