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‚Marken‘ aus Ton

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Eine Art des Proto-Schreibens hat große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil man aus ihr Aufschlüsse zu erhalten glaubte über den Ursprung des vollen Schreibens. Es handelt sich dabei um die sogenannten ‚Zähl-‘ oder ‚Münzmarken‘ aus Ton. Bei archäologischen Ausgrabungen im Mittleren Osten während des vorigen Jahrhunderts und vorher stieß man außer auf Tontafeln auf große Mengen kleiner Objekte aus Ton, die zunächst keinerlei Eindrücke hinterließen. Die Ausgräber hatten keine Vorstellung, worum es sich bei ihnen handeln könnte, und schenkten ihnen keine weitere Beachtung, weil sie sie für wertlos hielten. Wenn man das Alter der Schichten, auf die sich die Ausgrabungen richteten, zugrunde legt, stammen diese Objekte vornehmlich aus dem Zeitraum von 8000 v. Chr. – dem Beginn des Ackerbaus – bis etwa 1500 v. Chr.; die Anzahl der Fundstücke aus der Zeit nach 3000 v. Chr. nimmt allerdings deutlich ab. Die früheren Objekte haben keinerlei Kennzeichnung; sie sind geometrisch geformt – Kugel, Scheiben, Kegel oder ähnliches. Die späteren sind dagegen häufig eingeritzt und in komplexerer Art gestaltet.

Niemand kann Sicheres über die Funktion dieser Objekte sagen. Die wahrscheinlichste, weithin akzeptierte Erklärung lautet, es handle sich bei ihnen um Einheiten im Rechnungswesen. Verschiedene Formen könnten zur Bestimmung verschiedener Gegenstände benutzt worden sein, wie z.B. eines Schafes einer Herde oder eines festgelegten Maßes eines bestimmten Produkts, wie z.B. einer Getreidegarbe. Die Zahl und die Unterschiedlichkeiten ihrer Form seien nach und nach vergrößert worden, sodass ein Objekt mit seiner besonderen Form stehen konnte, sagen wir, für zehn Schafe oder für hundert Schafe, oder für schwarze Schafe, die man von weißen trennen wollte. Dies würde bedeutet haben, dass man arithmetisch mit großen Zahlen und Beträgen mit Hilfe einer vergleichsweise kleinen Zahl von Ton-Marken hätte umgehen können. Das würde ebenso den sich mit der Zeit deutlich zeigenden Trend zu einer größeren Komplexität dieser Objekte erklären, als die alten Wirtschaftsformen anfingen, sich zu verzweigen und zu differenzieren.

Im Zusammenhang mit diesen Vermutungen hat man diese Objekte generell ‚Marken‘ genannt, weil man davon ausging, sie hätten gedankliche Vorstellungen oder Quantitäten repräsentiert. Dieser Theorie entsprechend handelt es sich bei diesem Zeichensystem um den Entstehungsprozess eines piktographischen Schreibens; die Anzahl der Ton-Marken ging dementsprechend zurück, als sich das Schreiben auf Tontafeln ab etwa 3000 v. Chr. immer mehr verbreitete. Der Übergang von den dreidimensionalen Marken zu den zweidimensionalen, auf Tontafeln eingeritzten Symbolen war vermutlich der erste Schritt zum Schreiben. Allerdings ist diese Theorie, auch wenn sie überaus intensiv diskutiert worden ist, keineswegs überall akzeptiert worden.

Um das zu verstehen, müssen wir uns die interessantesten der aufgefundenen Ton-Marken anschauen. Bei ihnen handelt es sich um tönerne Marken, die ihrerseits wieder von Tonkapseln umgeben sind. Diese haben in der Regel die Form eines hohlen Balls und sind bekannt unter der Bezeichnung bulla (lat. bulla = [Schutz-]Kapsel). Man kennt etwa 80 solcher bullae, die unbeschädigt gebliebene Marken enthalten. Wenn man eine solche bulla schüttelt, klappern die darin enthaltenen Marken; ihre Umrisse werden sichtbar, wenn man sie röntgt. Die geglätteten Oberflächen der bullae weisen bisweilen in den Ton eingedrückte Zeichen auf; sie sollten eigentlich mit dem Inhalt, den Marken innerhalb der Kugel, übereinstimmen. Mitunter ist das der Fall – aber nicht immer.

Der Zweck einer bulla lag möglicherweise darin, bei kommerziellen Transaktionen die Genauigkeit und Echtheit der in ihr untergebrachten Marken zu garantieren. Auf einer Schnur angebrachte oder in einem Beutel weitergegebene Zeichen konnten von Unbefugten verfälscht werden. Betrügereien waren jedoch nicht so leicht möglich, wenn die Marken in einem geradezu versiegelten Behältnis untergebracht waren. Bei dem Versand und der Lieferung von Gütern dürfte eine so verschlossene Tonkapsel als eine Art von Frachtbrief oder Lieferschein gedient haben. In Streitfällen konnte man die bulla aufbrechen und ihren Inhalt mit der gelieferten Ware vergleichen.

Durch eine Kennzeichnung der Oberfläche der Tonkapsel dürfte es möglich geworden sein, ihren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie zertrümmern zu müssen; eine solche Kenntnisnahme bot allerdings keine vollständige Sicherheit vor einem Betrug. Eine Annahme dieser Art lässt jedoch Raum für Zweifel: Man müsste doch wohl davon ausgehen können, dass die Anzahl der außen angebrachten Kennzeichen mit der Zahl der im Inneren enthaltenen Marken übereinstimmt. In manchen Fällen ist das auch so, aber nicht in allen. Man müsste ebenfalls eine Übereinstimmung erwarten können zwischen den Formen der äußeren Kennzeichnungen und den Formen der im Innern enthaltenen Marken. Vermutlich hat man jedoch, wenn die Tonkapsel geglättet war, sich bei den Einritzungen auf ihrer Oberfläche nicht genau derselben Zeichen bedient, welche die in ihrem Inneren verborgenen Marken aufwiesen. Tatsächlich stimmen sie nämlich nicht in jedem Fall überein.

Manche Wissenschaftler sind der Meinung, diese äußeren Kennzeichen auf der Kapseloberfläche seien ein Schritt auf dem Wege, Tontafeln mit komplexeren Zeichen zu versehen, und demzufolge liege hier der Entstehungsbereich des Schreibens. Wenn auch diese Ansicht durchaus diskutabel ist, scheint sie doch die Sache komplizierter zu machen, als sie ist. Warum sollte man das Einritzen einer Kerbe in ein Tontäfelchen für eine hochwertigere Leistung halten als das Auftragen eines Zeichens auf eine Tonkapsel oder, was das anbetrifft, als eine Ton-Marke selbst? Wenn überhaupt etwas hochwertiger sein soll, dann scheint mir das formgebende Modellieren und Eingravieren eines Zeichens höhere Ansprüche zu stellen als das bloße Einritzen einer Markierung. Man vergleiche dazu die Erfindung von Münzen – ihr gingen das Einritzen von Zeichen und das Anbringen von Kerben voraus, die man in ein Kerbholz einschnitt. (Es gibt eiszeitliche Knochen, die mit Kerben versehen sind, die einen Mondkalender darstellen sollen). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Ton-Marken und bullae auch noch lange nach dem Aufkommen der Keilschrift beibehalten wurden. Ihr Gebrauch rief wohl nicht so sehr die Vorstellung des vollen Schreibens hervor, wie man es vermutet hat, sondern sie dienten wahrscheinlich eher als Ergänzung des Geschriebenen, wie es auch bei Kerbhölzern der Fall gewesen sein dürfte.

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