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UND DANN WURDE ALLES SCHWARZ

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»Das ist nicht wahr! Ich glaube euch kein Wort! Das muss ein Irrtum sein!« – Das waren die ersten Gedanken, die mir durch den Kopf rauschten, als ich die Mitteilung erhielt, die mein Leben für immer verändern sollte.


Der 26. April 2002 begann wie ein ganz normaler Freitag. Wie so oft verließ ich das Haus viel zu spät und hastete ohne Frühstück zur ersten Stunde. Vierzehn war ein hartes Alter. Die Frage nach der BH-Größe war gefühlt genauso wichtig wie die nach dem Sinn des Lebens. Die Schule war anstrengend und machte mir schon lange keinen Spaß mehr. Und auch sonst war alles eher so lala.

Ich saß in der Physikstunde und dachte an die Party, die am Abend stattfinden sollte, als plötzlich das Handy der Lehrerin klingelte. Sichtlich überrascht nahm sie ihr Telefon auf. »Das ist komisch. Meine Tochter ruft an. Das scheint wichtig zu sein.« Sie nahm den Anruf an und verließ den Raum mit einem besorgten Blick. In diesem Moment überkam mich ein Gefühl, das ich bis heute nur sehr schwer beschreiben kann. Es war eine Mischung aus Übelkeit und böser Vorahnung. Wie in einem Horrorfilm, wenn das Kind allein die dunkle Kellertreppe hinabgeht. Man spürt, dass etwas passieren wird, weiß nur nicht, was und wann.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Lehrerin zurück in den Raum. »Am Gutenberg-Gymnasium wird geschossen.« In diesem Moment fiel mein Magen in sich zusammen. Das merkwürdige Gefühl wandelte sich zur absoluten Gewissheit. Ich sah meine Banknachbarin an und sprach den Satz aus, den eine unbekannte Stimme in mir schrie: »Mein Papa ist tot. Er ist Lehrer da.«

Es war ein Moment absoluter Klarheit. In der Psychologie wird das als Intuition bezeichnet. Es war das erste Mal, dass ich dies so stark spürte. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich bis heute so genau daran erinnern kann.

Wie ich nach Hause kam, weiß ich hingegen nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich dort mit meiner Mutter – die direkt zum Ort des Geschehens gefahren war – und meiner besten Freundin telefonierte. Ich versuchte auch meinen Vater zu erreichen. Sein Handy klingelte, doch niemand nahm ab. Hektisch schaltete ich den Fernseher ein und durchsuchte die Programme nach Informationen. »Schießerei am Gutenberg-Gymnasium«, »Schüsse auf dem Schulhof« – die Nachrichten überschlugen sich.

Was wir zu diesem Zeitpunkt wussten, war nicht viel. Es hatte Schüsse gegeben und die Erfurter Polizei sperrte das Gelände weiträumig ab. Ich versuchte mir einzureden, dass das alles nur ein Missverständnis sei. Vielleicht ein perfider Abistreich, der aus dem Ruder gelaufen war. Doch dann kam es: das erste Bild eines Opfers. Ein Körper, der regungslos auf dem Boden lag. Das Gesicht konnte man nicht erkennen. Die TV-Kamera zoomte jedoch auf die braunen Lederschuhe der Person. Ich wurde von Minute zu Minute unruhiger. Aus Minuten wurden Stunden. Und aus einem Opfer drei. Dann fünf. Dann sechzehn. Die Bilder schienen so unwirklich und fern. Besorgte Eltern, die um das Leben ihrer Kinder bangten, schwarz gekleidete SEK-Beamte, die das Gebäude umstellten, und völlig aufgelöste Schulkinder, die sich in den Armen hielten und weinten.

Ich weiß nicht, wie spät es war, als sich die Tür öffnete und meine Mutter in Begleitung eines dunkel gekleideten Mannes das Wohnzimmer betrat. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist ihr erster Satz: »Anika, dein Papa ist tot.« Mein Magen riss in tausend Stücke. »Das ist nicht wahr! Ich glaube dir kein Wort! Das muss ein Irrtum sein!« Und dann wurde alles schwarz.

Der Tod meines Vaters riss mir den Boden unter den Füßen weg. Wie ein Tsunami verschluckte er mich und zog mich in den dunklen Abgrund. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so, wie es war. Mein Vertrauen in die Welt wurde gemeinsam mit ihm beerdigt. Die Angst wurde zu meinem ständigen Begleiter. Ich hatte Angst um meine Mutter und davor, auch sie zu verlieren. Fast jede Nacht hatte ich Albträume. Und dann war da noch die stetig wachsende Angst davor, meinen Vater zu vergessen. Allein der Gedanke daran, sich nicht mehr an seine Stimme und seinen Geruch zu erinnern, machte mich kaputt. Ich wollte meinen Papa auf keinen Fall loslassen. Und deshalb sammelte ich alles, was ich mit ihm in Verbindung bringen konnte und was mich an ihn erinnerte. Nach ein paar Wochen hatte ich einen riesigen Berg Zeitungsartikel über den Amoklauf angehäuft.

Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, kann ich heute sagen, dass mein Verhalten ganz normal war. Doch damals fühlte ich mich alles andere als normal. So viele Menschen hatten kein Verständnis für meine Art und Weise zu trauern. Ich erinnere mich noch an Sätze wie: »Ist es nicht langsam mal gut mit dem Geheule? Das mit deinem Vater ist jetzt schon ein halbes Jahr her. Irgendwann muss man doch wieder nach vorne schauen.«

Vielleicht liest einer von euch dieses Buch und versteht, dass man Trauern und Loslassen nicht timen kann.

Räum dich glücklich!

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