Читать книгу So oder so ist es Mord - Anja Gust - Страница 14

Der Auftakt

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Kaum draußen, brüllte Alex sie an, ob sie noch alle Tassen im Schrank habe. Er nannte ihr Verhalten in höchstem Maße leichtfertig und dumm und kündigte Konsequenzen an. Dabei war er so erregt, dass er sich ein paar Mal verschluckte. Am Ende gab er ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er von ihrem Spleen genug habe und so schnell wie möglich zurückwolle. Hoffentlich könnte man noch Schlimmeres verhindern. Was er damit meinte, ließ er allerdings offen.

Sie begaben sich zur Schleuse, wo er ihr die Besucherkarte entriss und sie wütend zurückgab. Unweit des Parkplatzes flatterte schwerfällig eine Krähe auf der angrenzenden Grünfläche auf und ließ sich weiter hinten krächzend nieder, symptomatisch für seine Laune.

Während der Rückfahrt sprachen sie kein Wort. Sobald Kathi ihn mit einem kurzen Seitenblick streifte, stierte er mit finsterem Gesicht auf die Fahrbahn und umklammerte das Lenkrad.

Wie konnte sie ihn nur so enttäuschen? Ausgerechnet nachdem er sich solche Mühe gemacht hatte, seine Praktikantin auf die Situation einzustimmen, blieb ihr Verhalten eine einzige Provokation.

Gewiss mochte sie der Idealismus und Übereifer eines Anfängers getrieben haben, wogegen normalerweise nichts einzuwenden war. Hier stand die Sache aber anders. Namhafte Sachverständige hatten über einen Patienten befunden und durch ihren Namen ein Urteil bestätigt, das, nach mehrjährigem Rechtsstreit, allgemeine Anerkennung fand.

Folglich lag es im allgemeinen Interesse, daran nichts zu ändern, nicht einmal in dem des Beschuldigten. Der hatte sein Urteil ohnehin längst akzeptiert. Jede erneute Anfechtung käme einer Brüskierung der Justiz gleich, ganz zu schweigen vom Imageschaden für die Behörde. Somit arbeitete man für die Akte und nicht gegen sie. Das sollte sie eigentlich längst begriffen haben. Doch irgendwie musste das nicht angekommen sein.

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken bei der Vorstellung, sie könnte noch weiter wühlen und irgendwelchen Müll zutage fördern, der nur dumme Fragen provozierte und die Presse aufscheuchte. Das wäre das Letzte, was er gebrauchen konnte und das kurz vor einer A 124.

Stedekinn verstand da keinen Spaß. Und Alex, als erster Sachbearbeiter (und verantwortlicher Mentor), verspürte nur wenig Lust, ihretwegen bei ihm auf der Matte zu stehen.

Nur gut, dass sie bisher nur einen ‚kontrollierten‘ Aktenzugang hatte, das hieß unter seiner Aufsicht und lediglich passagenweise. Und das genügte auch. Dieses Mädchen war noch unreif und voller Flausen. Es war unverantwortlich, sie noch tiefer eindringen zu lassen.

Aber auch Kathi fühlte sich nicht besonders wohl. Zweifellos war sie zu weit gegangen. Schon bereute sie ihren Leichtsinn, womit sie sich in ein schlechtes Licht gerückt hatte. Ob sie jetzt noch eine zweite Chance bekäme, wenigstens mit einem Pillepalle-Fall, schien fraglich. Vielmehr befürchtete sie eine Relegation mit entsprechender Beurteilung.

Welcher Teufel hatte sie geritten, ausgerechnet ihren ersten Einsatz derart zu verpatzen? Aber dieser Professor hatte sie provoziert. Die Tücke bestand darin, dass es schleichend geschah, als wüsste er genau, wo ihre Schwäche lag. So etwas vertrug sie nicht. Vor allem seine Bemerkung mit ‚dem übers Knie legen‘ weckte unangenehme Erinnerungen an ihren Vater.

Dieser hatte, als gebildeter, feinfühliger Pedant, stets danach getrachtet, seiner ‚sperrigen‘ Tochter die Etikette und Contenance einer Aristokratin einzubläuen. Die Mutter war schwach und wagte nicht, dagegen zu opponieren, da sie seinen Zorn fürchtete. Folglich hatte er in diesen Dingen freie Hand.

Wenn er Kathi lobte, küsste er sie zärtlich und strich ihr über das rotbraune Haar. Bei Bestrafungen hingegen legte er sie übers Knie, wo er dann mit einem feinen Lederriemen auf ihren nackten Hintern klatschte, den er zuvor sorgsam eingecremt hatte. Danach begutachtete er akribisch die Wirkung, indem er die entstandenen Schwellungen betastete.

Dabei biss sie sich vor Abscheu in die Hand, vor allem, wenn sein warmer Atem ihren Nacken streifte. Noch heute stieg bei jeder Erinnerung daran ein Gefühl von Scham und Ekel in ihr auf, gefolgt von Hitzewallungen und Atemnot.

Das alles konnte Alex freilich nicht wissen und musste es auch nicht, wie sie überhaupt dieses Geheimnis tief im Dunkel ihres Herzens verbarg. Umso mehr verwunderte sie die unerwartete Bemerkung des Professors.

Dabei war es weniger der Inhalt als die Form, die sie irritierte. Es geschah mit demselben Unterton und bewirkte somit das gleiche Brennen auf ihrer Haut.

„Es tut mir leid“, gestand sie schließlich mit tränenschwerer Stimme, den Kopf lethargisch gegen die Scheibe gelehnt. „Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.“

„Da gibt es nichts zu versprechen“, wehrte Alex ab. „Du hast mein Vertrauen missbraucht und mich in eine schwierige Situation gebracht. Wir können von Glück reden, dass es zu keinem Übergriff gekommen ist.“

„Gibt es denn dort keine Sicherheitskameras“, fragte sie kleinlaut. „Oder Pfleger, die über Monitore …“

„Schon mal was von Menschenwürde gehört? Wir leben doch in keinem Überwachungsstaat!“

Ihr war nach Heulen zumute. Verbittert betrachtete sie die vorüberfliegende Landschaft, ohne davon etwas zu erfassen. An der Scheibe bildeten sich Tröpfchen und perlten langsam herab. Das sonore Brummen des Motors und das Schweigen ihres Partners potenzierten die beklemmende Szenerie.

Natürlich würde Alex die Sache sofort melden und von allen Seiten kollegiales Verständnis ernten. Ihr hingegen wäre eine allgemeine Ächtung sicher.

Für einen Moment dachte sie daran, ihm alles zu eröffnen, was sie zu ihrem Handeln bewogen hatte, verwarf es aber wieder. Es würde nichts nützen. Außerdem ging ihn das nichts an. Jedes weitere Wort in dieser Sache wäre zu viel. Es war ohnehin frustrierend genug, erledigt zu sein, bevor man begonnen hatte und das alles nur wegen eines Moments der Unbeherrschtheit. Das musste sie erst mal verdauen.

Schweigend durchfuhren sie ein Industriegebiet. Beim Halt an einer roten Ampel registrierte Kathi eine Ansammlung von Demonstranten mit Plakaten in ver.di - Warnwesten vor dem Eingang der Völker + Sohn GmbH & Co. KG. Einige hatten ein Megafon in der Hand und skandierten lauthals ihre Forderungen.

Auf einmal kam sie ins Grübeln. War ein Leben als Staatsbeamter wirklich besser als eines in der freien Marktwirtschaft? Angesichts der hier erlebten Praxis kamen ihr plötzlich Bedenken. „Was wirst du tun? Ich meine, gleich zum Chef gehen, oder es erst morgen melden?“, fragte sie unsinnigerweise.

„Nun werde mal nicht noch albern!“, schnauzte Alex sie an. „Ist das vielleicht meine Schuld? Soll ich dir mal was verraten? Du bist nichts weiter als eine dumme, exzentrische Rotzgöre! Das hätte man dir schon längst mal in aller Deutlichkeit sagen sollen! Disziplin und Selbstbeherrschung sind bei uns oberstes Gebot! Ein guter Vernehmer hat die Situation jederzeit im Griff! Er legt bereits im Vorgespräch die Linie fest und zerstört sie nicht! Vor allem aber bestimmt er, wo es langgeht und nicht der Vernommene! Sonst wäre das ja eine Farce!“

„Verstehe.“

„Das bezweifle ich! Merke dir eines – ich bin nicht der Typ, der Versager fördert, nur weil sie ein schönes Gesicht haben! Ich werde dafür bezahlt, Wissen zu vermitteln! Man muss dieses Wissen aber auch annehmen und nicht besser wissen! … Ja, guck du nur! Das hat dir wohl noch keiner gesagt! Aber da bin ich unerbittlich! Bei mir zählt nur Leistung! Gewiss gebe ich Hinweise und Anleitungen, korrigiere mich auch mal! Doch niemand nimmt mir das Heft aus der Hand! Niemand, verstehst du! Und wenn dieser verdammte Irre versucht, mich zu provozieren, ist es deine Pflicht, mir beizustehen und nicht ihm! Ist das klar?“

„Das wollte ich doch gar nicht! Es hat sich so ergeben!“

„Blödsinn! Nichts ergibt sich so! … Wieso, verdammt noch mal, musstest du ihn nur so reizen? Die Situation hätte eskalieren können! Wir wissen doch nie, wie der drauf ist! So etwas kann man sich in diesem Job nicht leisten! Oder willst du, dass man dir auch das Ohr abbeißt?“

„Aber der Notfallknopf …“

„Notfallknopf. Notfallknopf“, lärmte er. „Wie naiv bist du eigentlich!“

„Ja, du hast recht. Dieser Wittenburg ist nichts weiter als ein mieses, kleines Schwein. Ich werde ihn in meiner Abschlussarbeit als negatives Beispiel anführen. Hat er eigentlich Kinder?“

„Kinder?“ Alex‘ Miene verzog sich bis zur Unmöglichkeit. „Ja, eine Tochter, Solveig. Sie hat aber keinen Kontakt zu ihm. Ist ja auch verständlich. Wie kommst du darauf?“

„Nur so.“

„Du meinst, ob er auch mal ein normales Leben geführt hat?“, folgerte Alex weiter. „Natürlich hat er das. Er war mal eine anerkannte Kapazität seines Fachgebietes, hat Vorlesungen gehalten und wurde von der Presse und von Politikern hofiert. Sein Urteil hatte Gewicht. Er soll sogar schon mal für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen worden sein. Nun stellt sich die Frage, wie es zu diesem Bruch kommen konnte, nicht wahr? Das ist ganz einfach: Er hat ‚sich vergessen‘, ist durchgedreht oder ‚überschnappt‘. Wie man es auch nennen mag. Über die genauen Ursachen lässt sich nur spekulieren. Ob es wirklich am Tod seiner Frau oder am Zerwürfnis mit seiner Tochter lag, lässt sich nicht sagen. In jedem Fall hat er seitdem eine Meise. Das ist amtlich bestätigt. Und er ist es verdammt nicht wert, seinetwegen alles aufs Spiel zu setzen!“

„Es tut mir leid. Ich habe mich unmöglich benommen“, erwiderte Kathi halblaut. „Du hast eine bessere Referendarin verdient. Sag dem Oberrat, dass ich die Verantwortung übernehme.“

Alex johlte vergnügt auf, verfiel jedoch sogleich in ein sarkastisches Selbstmitleid. „Oje, wie großzügig von dir! Danke sehr! Er wird sich freuen! Vor allem, wenn er mir Unfähigkeit unterstellt, dich anzuleiten – schon mal darüber nachgedacht? Natürlich nicht, wie solltest du auch! Aber dein Bock ist leider auch meiner! Immerhin bin ich für dich verantwortlich!“

„Dann werde ich noch einmal mit ihm reden und alles klarstellen. Dich trifft jedenfalls keine Schuld.“

Ihr Mentor drohte zu platzen. „Du bist wohl verrückt geworden! Das wirst du gefälligst bleiben lassen! Bei dem muss man jedes Wort abwägen! Du würdest dich um Kopf und Kragen reden!“

„Und …“, wagte sie sich kleinlaut hervor, „wenn das unser Geheimnis bleibt?“

„Du meinst, dass wir alles unter den Teppich kehren?“

Zögerlich nickte sie.

„Also, das ist doch … Jetzt ist aber mal Schluss. Hier wird nichts verschleiert. Bei uns kommt alles auf den Tisch. Punkt. Ende der Diskussion. Ich regele das auf meine Weise!“

Kathi wagte keine Widerrede. Es folgte ein längeres Schweigen, unterbrochen von einigen tiefen Seufzern ihres Partners, der darüber offenbar nicht zur Ruhe kam.

„Nun ja, die Kiste ist zwar verfahren, aber wir werden versuchen, das Beste daraus zu machen“, grummelte er nach einer Weile. „Du bist jung und voller Idealismus, glaubst noch an die Gerechtigkeit, wie ich einst, bis nach und nach die Ernüchterung einsetzt. Das ist ganz normal und geht jedem so, der in die Praxis kommt. Das wirst du jetzt noch nicht verstehen. Aber mach das erst mal ein paar Jahre. Dann weißt du, wovon ich rede. Dann kommen dir alle Normative und Rechtsvorschriften so was von lächerlich vor, nicht, weil man sie nicht umsetzen kann, sondern weil man gar nicht will. Das wirst du jetzt noch nicht verstehen. Aber glaube mir, es kommt die Zeit, da wirst du es!“

Seine plötzliche Vertraulichkeit machte ihr neue Hoffnung. Vor allem aber schaute er sie endlich wieder an. Ob es an ihrem zufällig aufgesprungenen Blusenknopf lag oder ihrem angelehnten Bein, hätte sie kaum sagen können. In jedem Fall zeigte es Wirkung.

„Hast du öfter mit solchen Typen zu tun?“, wollte Kathi jetzt wissen und lächelte ihn das erste Mal an. Dabei belebte sich ihr Gesicht recht angenehm und wurde überraschend ausdrucksvoll.

Mit offenem Haar und ohne diese blöde Brille wärst du glatt ‘ne Granate, schoss es ihm spontan durch den Kopf und betäubte seinen Groll für einen Moment. „Ja natürlich, was denkst du denn?“ Souverän sah er sie an. „Dafür bin ich schließlich Spezialist – je gefährlicher, desto besser.“

„Hast du denn keine Angst?“

„Angst?“ Kurz lachte er auf. „Dann dürfte ich diesen Job nicht machen.“

„Ich beneide dich.“

„Worum?“

„Um alles.“

„Ach, so toll ist das gar nicht“, winkte er in aller Bescheidenheit ab. Dann nannte er sich bisweilen etwas träge, dafür aber solide und offenherzig, manchmal etwas vorschnell, im Grunde aber verträglich. Kurzum, jemand, mit dem man Pferde stehlen könne. Allerdings verstehe er keinen Spaß, was die Spielregeln betreffe.

„Einer von den Guten also“, konnte Kathi sich nicht verkneifen.

„Ja, spotte nur. Dafür weiß ich, wo ich stehe. Ich hoffe, du weißt das jetzt auch.“

„Ich arbeite daran … Was meinst du, bekomme ich noch eine Chance?“

„Schwer zu sagen“, erwiderte Alex, ohne sie anzusehen.

„Wovon hängt das ab?“

„Das musst du schon selbst herausfinden. Dafür gibt es kein Rezept.“

„Wirklich nicht?“, fragte Kathi jetzt mit einem seltsamen Augenaufschlag.

Das machte seine Verwirrung komplett. „Na, sag mal? Was soll das denn jetzt werden?“

Kathi schwieg und schien seine Reaktion zu erwarten. Als nichts geschah, flüsterte sie ihm zu, da noch etwas anderes zu wissen.

„Wie jetzt? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Wer weiß?“

Alex war plötzlich wie vor den Kopf geschlagen. Hatte er richtig verstanden? Sein Herz raste und die Gedanken schlugen Kapriolen. Als dann auch noch ihre Finger über seine Wange glitten, bekam er Gänsehaut.

Ungläubig sah er sie an, sodass er für einen Moment das Gas- mit dem Bremspedal verwechselte. Dann aber brachte er die Kiste abrupt zum Stehen.

Draußen hatte es zu regnen begonnen und die Tropfen prasselten aufs Dach. Und da er den Scheibenwischer ausstellte, war von draußen nichts mehr zu erkennen. Darüber hinaus beschlugen die Scheiben von innen.

Irgendwie glaubte er sich im falschen Film. Für einen Moment huschten seine glänzenden Augen über ihren Hals und blieben in ihrem Ausschnitt haften. Aber nein, das war nicht wirklich. Sie spielte mit ihm.

Und tatsächlich. Plötzlich straffte sich ihre Haltung und verhärteten sich ihre Züge. Nun betrachtete sie ihn überaus kalt und wechselte die Tonlage. „Hör zu, Alex. Ich würde dir empfehlen, meinen Fehltritt ganz schnell zu vergessen. Anderenfalls werde ich unseren Oberrat Dr. Stedekinn über den kleinen Zettel informieren, den ich gestern in deinem Rollschrank gefunden habe.“

Alex durchfuhr ein Ruck. „Welchen Zettel?“

„Worauf dir unser werter Herr Doktor einige Empfehlungen gegeben hat, wie weit du in der Sache gehen sollst und was unbedingt zu vermeiden ist. Unter anderem auch einige Verbote, die im Gegensatz zur Diversität und Unvoreingenommenheit einer Untersuchung stehen. Weißt du, wie man so etwas nennt? Aktenmanipulation, Urkundenunterdrückung und Prozessbetrug, strafbar nach § 274 Absatz 1, zweite Alternative de jure, nachzulesen im StGB!“

Für einen Moment war ihm, als schlüge ihm jemand auf den Kopf. „Du spinnst doch!“, entfuhr es ihm spontan.

„Was wird er wohl sagen, wenn er erfährt, wie leichtfertig du mit einem solch vertraulichen Hinweis umgehst?“, fuhr sie unbeeindruckt fort.

„Er wird sagen, dass du nicht ganz bei Trost bist.“

„Ach, wirklich? Ich habe es leider fotografiert und sogar abgespeichert. Nur weiß ich jetzt nicht mehr, wo! Ich hoffe nicht in einem öffentlichen Ordner, den morgen jeder lesen kann.“

Allmählich begann er zu begreifen. „Du verdammtes Luder! Meinst du wirklich, du kommst damit durch? Stedekinn wird behaupten, es sei eine unverbindliche Empfehlung gewesen, eine Art Denkstütze. So etwas ist durchaus erlaubt.“

„Aber nicht mit der Zielstellung, bestimmte Fakten zu unterdrücken.“

„Blödsinn! Nichts als haltlose Unterstellungen! Das bildest du dir doch alles nur ein!“, protestierte Alex sofort.

„Dann ist ja alles gut und wir können es riskieren“, entgegnete sie unbeeindruckt.

„Wie willst du das beweisen? Einen solchen Zettel kann doch jeder geschrieben haben, womöglich gar du selbst, haha“, gab Alex zu bedenken und lächelte spitzfindig.

„Wohl kaum, denn es handelt sich um einen offiziellen Kopfbogen. Außerdem gehe ich jede Wette ein, dass ein grafologisches Gutachten unzweifelhaft Stedekinns Schrift identifizieren würde.“

Der Hauptkommissar bebte. Plötzlich steckte ihm ein riesiger Kloß im Rachen. Für einen Moment wog er seine Möglichkeiten ab und war sich nicht sicher, welche Gangart er wählen sollte. Aber wie er es auch drehte – er hätte niemals damit gerechnet, dass sie es wagte, in seinem Schrank herumzuschnüffeln. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein!

Aber noch weniger würde er dem Oberrat diese Peinlichkeit erklären können. Zu dumm aber auch, dass ihm so etwas ausgerechnet jetzt passieren musste, so kurz vor einer möglichen Beförderung. Zweifellos hatte er sie unterschätzt und er begann, seine Freimütigkeit zu bedauern, in welcher er ihr in seinem Überschwang so manches erzählt hatte, was er doch besser hätte lassen sollen.

Falls ihre Behauptung zutraf und keineswegs eine leere Drohung war (leider hatte er die betreffende Rechtsnorm nicht im Kopf), könnte sein Schützling ihm tatsächlich ernsthaften Ärger machen. Zugegebenermaßen gab es in der Behörde so einen widerlichen Justiziar namens Oliver Knolle, der für das interne Controlling zuständig war. Und gerade dieser Stiesel war so ein krümelkackender Besserwisser und Paragrafenhengst, der sich in alles einmischte und gern mal für Aufsehen sorgte. Für den wäre das ein gefundenes Fressen, denn er kannte eine Menge Leute von der Presse. Alex wagte gar nicht erst, diese Gedanken durchzugehen. Stedekinn würde ihn zerreißen.

„Eines muss ich dir lassen. Du hast ein verdammt dickes Fell! So etwas ist mir noch nicht passiert. Was soll jetzt werden?“, war das Einzige, was ihm daraufhin einfiel.

„Das liegt ganz an dir.“

„Verstehe. In Ordnung. Ich habe alles vergessen. Es ist nichts passiert. Zufrieden?“

„Das wäre ja schon mal ein Anfang.“

„Und welche Garantie habe ich, dass du diesen Zettel vergisst?“

„Gar keine.“

„Hey, das kannst du nicht machen! Damit ruinierst du uns beide!“

„Wir werden sehen.“

Auf dem ganzen Rückweg verloren beide kein weiteres Wort mehr und Alex wagte auch nicht, noch einmal daran anzuknüpfen. Er war noch immer wie vor den Kopf geschlagen und fürchtete bereits ernste Konsequenzen.

Kathi hingegen zweifelte plötzlich, ob es nicht ein Fehler war, damit so unverblümt herauszukommen. Dabei hatte sie das gar nicht sagen wollen. Es war ihr mehr herausgerutscht, weil sie sich über seine blasierte Art maßlos geärgert hatte.

Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war seine Feindschaft, zumal sie im Grunde gar nichts gegen ihn hatte. Er war nur das letzte Glied einer Kette, an deren Spitze ganz andere standen.

Nachdem sie ausgestiegen waren, folgte keinerlei Verabschiedung. Nicht mal ein ‚Tschüss‘. Beide kamen sich gleichermaßen abgewatscht vor, wobei niemand hätte sagen können, ob dieser Riss jetzt noch zu kitten war.

Kaum war Kathi in ihrer Wohnung, musste sie sich erst mal sammeln. Dabei versuchte sie, jeden Gedanken an den morgigen Tag zu verdrängen. Vielmehr betrachtete sie noch einmal die Aufnahmen auf ihrem Smartphone und musste bald feststellen, dass die auf diesem Zettel ersichtlichen Hinweise und Empfehlungen doch sehr vage gehalten waren. Niemals würden sie einer strafrechtlichen Würdigung standhalten. Aber das wusste Alex ja nicht und darauf setzte sie.

Noch am selben Abend ging sie am Laptop die Fotokopien der Akte Bertold Wittenburg durch, die sie ebenfalls heimlich gefertigt hatte.

In ihrer Eigenschaft als Referendarin bekam sie keinen ungehinderten Zugriff, da ihr jede Beamteneigenschaft fehlte und eine tiefere Untersuchung auch nicht ihrem Aufgabenbereich oblag.

Dennoch hatte sie sich eigenmächtig darüber hinweggesetzt, wohlwissend, welches Fehlverhalten sie damit beging. Doch wenn sie schon etwas tat, sollte es mit aller Konsequenz geschehen.

Dazu hatte sie Alex‘ morgendliche Kaffeepause genutzt, die für gewöhnlich immer ziemlich lang ausfiel, und dabei jedes einzelne Blatt abgelichtet, selbst das, was als ‚vertraulich‘ gekennzeichnet war. Aber gerade dort war sehr viel Interessantes zu finden gewesen.

Demnach hatte das Opfer, Frau Luise Wittenburg, wegen angeblicher Depressionen in ihrem Zuhause Suizid begangen und das alles zu einer untypischen Zeit und in einer unmöglichen Situation. Aber was hieß schon untypisch und unmöglich – das blieb relativ, wie sie sogleich anmerkte.

Das war sehr interessant, zumal die atypische Fundsituation an einem Fensterkreuz nicht mit den ‚Strangmarken‘ übereinstimmte – das Hauptindiz der Anklage. Es sei somit unmöglich, sich so zu erhängen, so das Fazit. Hinzu kam der unklare Verschlusszustand der Wohnungstür. Die nachfolgende Obduktion konnte ein Fremdverschulden ebenfalls nicht zweifelsfrei ausschließen.

Mit höchster Konzentration sichtete Kathi die Tatortfotos: Bieder eingerichtetes Wohnzimmer, die Küche in Eiche ‚rustikal‘, auf der Anrichte neben dem Telefon stand ein Blutdruckmessgerät. Diverse Schuhe waren akkurat im Schuhregal aufgereiht.

Der Briefkastenschlüssel, nebst weiteren beschrifteten Schlüsseln für Garagentor, Keller und Gartenhaus hingen am Schlüsselbord – kurzum, alles ohne besondere Auffälligkeiten. Ein Haushalt wie überall. Die damals fast achtzehnjährige Tochter Solveig bewohnte zum Tatzeitpunkt das Zimmer unterm Dach.

Fiebernd überflog Kathi die nächsten Zeilen: ‚Bertold Wittenburg zeigte schon zuvor einige psychische Auffälligkeiten mit Neigungen zu leichter Schizophrenie‘. Weiter hieß es auf Seite 26: ‚Nachbarn berichten wiederholt von lautstarken Streitereien zwischen den Eheleuten, obgleich der Ehemann als ruhig und ausgeglichen galt‘. „Warum wurde das bei der späteren Beweiswürdigung unterschlagen?“, fragte sie sich. Zudem wurde er als cholerisch und unberechenbar hingestellt.

Hastig scrollte sie weiter. „Ach ja hier“, ‚die Familie pflegte ein besonders freundschaftliches Verhältnis zu einem Politiker – einem gewissen Uwe Lindholm‘. „Ach, sieh an! War das nicht der politische Schreihals von der DVA, der erst jüngst durch ‘ne Menge Phrasen auf sich aufmerksam gemacht hatte?“ Sie zog die Stirn in Falten.

„Natürlich!“, schlussfolgerte sie. „Irgendetwas musste dieser Kerl damit zu tun haben, wurde aber nur lückenhaft dazu gehört. Interessant! Und was bedeutete ‚besonders freundschaftlich‘? Kein Wunder, dass die Sache von besonderer Brisanz war. Es musste also ein Bauernopfer her, da solche Fälle nicht ungelöst bleiben dürfen“, dachte sie. „Moment mal – wer hat den Artikel geschrieben? René Schulze-Bierbach. Komischer Name – schon notiert.

Hier steht es dann auch im nächsten Artikel: ‚Wittenburg schuldig des brutalen Mordes an seiner kranken Ehefrau‘. In der Tat eine reißerische Aufmachung, steigerte sicher die Umsatzzahlen, wie Alex bereits bemerkt hatte. Aber halt – kranke Ehefrau? Wo kommt das denn her? Muss ich noch herausfinden.

Dann aber weiter: ‚Wittenburg in Nervenheilanstalt, wiegelt Mitinhaftierte auf, lehnt sich gegen Aufseher auf. Soziologieprofessor tritt in den Hungerstreik. Wittenburg legt Geständnis ab‘. Blödsinn! Was hat er denn gestanden? Doch nur das, was bereits bekannt war.

Zudem war die Vernehmung sehr schwach geführt, voller Suggestivfragen und Unterstellungen. Es wurde keinerlei Rücksicht auf den desolaten psychischen Zustand des Beschuldigten genommen. Und hier – keine Belehrung, jedenfalls fehlte die Unterschrift. Das war ja ein Skandal!“

Kathi kochte sich bereits den dritten Kaffee und kam von der Akte nicht mehr los. Und jetzt nach zwei Jahren plötzlich die verblüffende These, wie die unstimmigen Strangmarken plausibel zu erklären waren.

Demnach konnte das Opfer, wie die Rekonstruktion ergab, durchaus nach der Strangulation durch sein Eigengewicht vom Sims herabgerutscht sein, selbst noch lange nach dem Todeseintritt, bedingt durch die einsetzende Starre.

„Hier steht es ja auch: ‚Dieser Einwand war damals bereits vorgebracht, doch schon in erster Instanz als unbewiesen und konstruiert abgeschmettert worden, gefolgt von einem Beweisverwertungsverbot‘. Und von wem? Aja, von Dr. Stirner, dem damaligen Gerichtsmediziner“, stellte sie fest.

„Alles klar! Jeder wusste, dass der seit Urzeiten mit der DVA sympathisierte. Also, Lindholms Parteifreund! So einen bestimmt man doch nicht zum Sachverständigen! Der war doch befangen!

Wenn nur dieses verdammte Geständnis nicht wäre! Es war in höchstem Maße zweifelhaft und wer weiß, wie es zustande gekommen war. Vor allem aber, warum musste der Professor, verdammt noch mal, seine erste Aussage widerrufen?

Man hatte ihn unter Druck gesetzt. Das war’s! Also der nächste Rechtsbruch, denn niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten.“ So ein Zufall, aber genau dazu hatte sie vor kurzem ein längeres Exzerpt verfasst.

Aber noch etwas anderes begann sie zunehmend zu beunruhigen: Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, die Tat könnte womöglich durch eine andere Person begangen worden sein, welche nur die Umstände nutzte. Der Professor hatte seine Frau gewürgt. Das war unstrittig. Doch wirklich bis zum Todeseintritt?

Danach war Wittenburg in einem Zustand völliger Apathie in unmittelbarer Nachbarschaft aufgegriffen und festgenommen worden. Dennoch soll er den Leichnam noch nach Tatausführung ans Fensterkreuz gehängt haben? Wie hätte das gehen sollen? In einem solchen Zustand war kein Mensch dazu imstande. Warum nur – in aller Welt – hakte hier niemand nach?

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So oder so ist es Mord

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