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Die Karten liegen offen

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In Kiel vereinzelte Schauer, 22 Grad. Von Nordnordost aufziehender stürmischer Wind.

Kathi bekam in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder ging ihr der Fall ‚Wittenburg‘ durch den Kopf. Ihr wollte partout nicht einleuchten, wie man angesichts solcher Zweifel so ein Urteil begründen konnte. Entweder wollte man etwas vertuschen oder es wurde geschlampt. Letzteres erschien ihr unwahrscheinlich.

Dass Alex etwas wusste, stand außer Frage. Von wegen, nur für die Akte! Das konnte er sonst wem erzählen. Ihm fehlte schlichtweg der Mut, gegen offenkundige Missstände anzugehen. Hier zeigte sich der Leisetreter und selbstverliebte Schaumschläger, welcher einknickte, sobald Courage gefragt war.

Nein, er war kein Vorbild und bot nicht mal eine Orientierung. Das Einzige, was ihn auszeichnete, war seine Selbstdarstellung samt Machoposen.

Aus Wut darüber trank sie einen Jim Beam und rauchte einen Joint, wie immer, wenn sie Ablenkung suchte. Rasch verschaffte ihr das mild-süßliche Aroma verbunden mit dem Alkohol die nötige Entspannung. Der Geruch des verlöschenden Streichholzes erinnerte sie an Weihnachten und einen unbedeutenden Moment lang sehnte sie sich danach, noch einmal Kind zu sein.

Sie schloss die Augen und war wieder die Neunjährige, die in den Sommermonaten auf dem maroden Gutshof der Großmutter weilte. Trotz steter Ermahnungen ob ihrer aristokratischen Pflichten, hopste sie unbefangen mit dem Nachbarsjungen – einem sommersprossigen, rotblonden Knirps, der freilich standesgemäß nicht zu ihr passte, was sie aber keineswegs störte – über Pfützen, während ihr jüngster Bruder Roman im Laufstall mit seinen Bauklötzen spielte.

Dahingegen zeigte ihr älterer Bruder Claus-Alfred bereits den gleichen Hochmut wie der Vater und nutzte zu jedem Ausflug aufs Land das Pferd oder eine Kutsche.

Oft sah man ihn in Begleitung des alten Kammerdieners Johann, der auf jeden Fehltritt achtete. Selbstredend kleidete sich ihr Bruder nach der geforderten Fasson. Ebenso sprach er mit den Bediensteten ausnahmslos nasal, manchmal sogar in einer Art verfeinertem Spott, zweifellos, um sich von ihnen abzuheben.

Kathi lehnte so etwas ab, hielt es für dünkelhaft und arrogant. Vor allem aber hasste sie ihren Vater, einen kalten und herzlosen Despoten, der keine andere Meinung als die eigene duldete. Selbst ihre Mutter litt darunter, besaß aber nicht die Kraft, sich dagegen aufzulehnen.

Dafür rückte Kathi bald in seinen Fokus. Spätestens seit ihrer Adoleszenz begann er, sie anders zu betrachten und handelte auch so. Wenn sie bis heute darüber schwieg, dann nicht aus Furcht, sondern aus Ekel.

Aber gerade das hatte sie dahingehend geformt, dass sie mitunter bei den nichtigsten Anlässen sehr emotional werden konnte und dann schnell die Kontrolle verlor.

Noch heute erschien es ihr wie ein Wunder, dass sie daran nicht zerbrochen war. Aber da war so etwas wie Trotz und Widerstand entstanden, was sie stützte und motivierte und sich nicht rational erklären ließ. Vielleicht lag es an der Gewissheit, dass die Zeit für sie arbeitete und sie es ihm einst heimzahlen würde.

In seiner offensichtlichen Leichtfertigkeit, die wohl jeden allein auf den körperlichen Genuss gerichteten Lebemann auszeichnete, hatte er gänzlich übersehen, dass schon seit Längerem in ihrem Wesen eine gefährliche Mischung aus Stolz und Verachtung entstanden war.

Diese hatte schon bald aus dem unbedarften jungen Mädchen eine verschlagene und unberechenbare Person werden lassen, welche keine Sekunde zögern würde, ihn zur Hölle zu jagen, sollte sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu ergeben.

Und das geschah dann auch. Als er Jahre später vom Krebs zerfressen immer hilfloser und letztlich bettlägerig wurde, kam ihre Stunde. Sie erinnerte sich noch genau, wie er an jenem schicksalhaften Sonntagmorgen vor ihr lag und sie mit seinem Blick anflehte, da er aufgrund seiner körperlichen Schwäche die am Bett befestigte Morphinpumpe nicht mehr erreichen konnte.

Nur wenige Zentimeter trennten seine Hand von dem rettenden Knopf. Doch sie schaute nur zu, wie er immer wieder vergeblich danach zu greifen versuchte. Mit welchem Genuss hatte sie ihn leiden sehen und dabei ein eigenartiges Gefühl tiefer Genugtuung empfunden, wie es nur jemand konnte, der jahrelang gedemütigt und verachtet wurde.

Und seltsam, selbst als er sich bald darauf in Krämpfen wand und die zitternde Hand nach ihr ausstreckte, zeigte sie keine Reaktion. Vielmehr empfand sie ein brennendes Kribbeln, als liefe sie barfuß durch Brennnesseln und begann sogar zu lächeln.

Erst als er zusammengesunken war und sich nicht mehr regte, betätigte sie die Notruftaste. Auch wenn niemals jemand von ihrem Verhalten erfuhr, fiel es ihr nicht leicht, damit umzugehen.

Es folgte eine Zeit, in welcher sie die Skrupel drängten, sich ihrer Mutter zu offenbaren. Mehrmals setzte sie dazu an. Doch da diese sich, wie immer, sehr abweisend zeigte und kaum Zeit für sie hatte, kam es nicht dazu. So bedrückte sie die Last der unterlassenen Hilfeleistung bis heute.

Hinzu kam, dass die Trauer der Mutter erstaunlich schnell verflog, denn schon bald darauf heiratete sie einen alten Freund der Familie – einen gewissen Leberecht von Kulmbach.

Kathi war vom ersten Moment an mit diesem Menschen nicht klargekommen und das nicht nur wegen seiner pedantischen Art: Klein und aufgedunsen, etwa Mitte Fünfzig und mit spärlichem Haar, krankhaft penibel und immer darauf bedacht, mit Würde zu beeindrucken, verkörperte er all das, was sie ablehnte. Hinzu kam sein ewig feuchter Händedruck, natürlich mit einem teuren Brillantring am Finger und die beim Reden süßlich gespitzten Lippen. Noch heute jagte ihr die Erinnerung daran einen Schauer über den Rücken.

Zu allem Ärger hatte sich dieser achtbare und wohlgeordnete Mann erdreistet, ungeachtet seiner Ehe mit der Mutter, ihr gegenüber einige anzügliche Bemerkungen zu machen. Kathi glaubte an ein Déjà-vu. Sofort hatte sie sich jeden weiteren Gedanken daran verbeten und mit einem Eklat gedroht, sollte sie ihn noch einmal beim Spannen erwischen, wenn sie unter der Dusche stand.

Auch wenn er sich sogleich darüber mokiert und ihr eine blühende Fantasie unterstellt hatte, waren die Fronten geklärt. Allerdings mit der Folge, dass es zum Bruch mit der Mutter gekommen war. Aber dies hatte Kathis Abneigung gegenüber dem männlichen Geschlecht nur noch mehr beflügelt. Fortan hatte es sie nur noch zu Frauen hingezogen, auch wenn sie sich stets nach männlicher Dominanz sehnte.

Es war eine Zeit der Halt- und Zügellosigkeit gefolgt. Sie hatte in einer WG gelebt, zu kiffen begonnen und war in der autonomen Szene versumpft. Dort hatte sie Passanten um Geld angegangen, linke Parolen gepöbelt und Steine auf Polizisten geworfen.

Ihr Hass auf diese verlogene Gesellschaft war so groß geworden, dass sie mehrmals mit einigen Gleichgesinnten die Worte ‚fuck you‘ auf ein öffentliches Gebäude geschmiert und dafür sogar einen Eintrag bekommen hatte (zum Glück wurde dieser später wieder gelöscht).

Inzwischen enterbt, verstoßen und den Drogen verfallen, drohte sie, im Chaos zu versinken. Als ihre Freundin Jacqueline – der einzige Mensch, für den sie jemals etwas Tieferes empfunden hatte – sich mit einer Überdosis den ‚Goldenen‘ setzte, war Kathis Tiefpunkt erreicht. Sie wollte ihr folgen, stand schon auf einer Brücke, brachte es jedoch nicht fertig.

Da schwor sie allen falschen Idealen ab und besann sich auf ihre alten Stärken. Diese ließen sie zwar berechnend und gefühllos werden, ermöglichten aber für ihr Fortkommen die nüchternsten Kalkulationen.

So war es ihr tatsächlich gelungen, über einen Aushilfsjob eine Festanstellung zu finden. Nun trocknete auch der alte Sumpf erstaunlich schnell. Sie bekam eine Wohnung und stand plötzlich auf eigenen Füßen.

Als sie zudem noch eine Empfehlung für eine Bewerbung zum Jura-Studium ergatterte, indem sie mit dem dafür verantwortlichen Juror eine qualvolle Nacht verbracht hatte, stand ihrer Immatrikulation nichts mehr im Wege.

Das anvisierte Ziel einer Karriere als Anwältin bildete fortan ihren Lebensinhalt. Nie wieder sollte ein gewissenloser Vater ungestraft sein Kind missbrauchen können – und das mit stillschweigender Duldung der Mutter. Seither pflegte sie zu ihr keinen Kontakt mehr. Warum auch? Sie war ohnehin nie da, wenn sie sie brauchte.

Und sie fehlte ihr auch nicht. Kathi störte sich nicht einmal an der Enterbung, auch wenn das ihr Gefühl der Einsamkeit oftmals noch verstärkte.

Aber sie wusste genau, dass die ‚Contessa‘, wie sich ihre Mutter gern anreden ließ, mit ihrem ‚Dicken‘ kaum glücklich werden würde. Diese Verbindung diente nur der Zweckmäßigkeit und öffentlichen Darstellung. Kurzum, genau das, was Kathi selbst stets abstieß.

Umso wichtiger war es ihr, recht bald auf eigenen Füßen zu stehen, und zwar möglichst schnell. Damit befand sie sich wieder einmal im Gegensatz zu Claus-Alfred, der sich auf dem besten Weg zum Snob und Lebemann entwickelte und damit in Vaters Fußstapfen trat.

Nun aber ausgerechnet in ihrem Praktikum bei der Kriminalpolizei (in den Augen von Kathi das uneingeschränkte und alleinige Symbol für Recht und Ordnung) eine solche Enttäuschung zu erleben, war sehr ernüchternd. Trat doch damit genau das zutage, was sie überwunden glaubte – Fadenscheinigkeit und Heuchelei.

Als sie am nächsten Morgen die Dienststelle betrat, wurde sie an der Tür bereits von Hauptkommissar Altnickel erwartet, einem lispelnden Lockenkopf mit abstehenden Ohren und kalten Fischaugen. Er war morgens immer beizeiten da, meist noch vor Marie Fröhlich, Stedekinns Vorzimmerdame, um seinem Chef den Kaffee zu brühen. Selbstverständlich völlig uneigennützig.

Zu Kathis Überraschung warnte er sie, ohne jede Ankündigung, vor ihrem Partner, was sich in diesem Moment reichlich dumm ausnahm. Sie sollte sich von Alex distanzieren, denn er stünde bereits auf der Abschussliste, setzte Altnickel hinzu, ohne das freilich näher zu erläutern. Erst jetzt, und das erschien bemerkenswert, eröffnete er ihr, sie möge sich unverzüglich zum Chef begeben – dieser habe bereits nach ihr gefragt.

Das sollte sie offenbar verschrecken, bewirkte jedoch das Gegenteil. Kathi konnte sich nicht vorstellen, dass Alex geplaudert haben könnte. Und andere Dinge hatte sie nicht verbockt. Also blieb sie zu Altnickels Enttäuschung erstaunlich gelassen und ließ ihn einfach stehen.

Als die Referendarin kurz darauf in Dr. Stedekinns Büro trat – ein großer Raum mit Schreibtisch, gesonderter Beratungstafel und ausgenadelter Lagekarte an der Wand – zeigte sich der Oberrat ganz gentlemanlike. Sein breites Lächeln, zusammen mit der leichten Verbeugung und dem kühl gemessenen Händedruck waren durchaus bühnenreif.

Selbst als er ihr einen Platz anbot, geschah das sehr zuvorkommend – nicht den Hocker am Katzentisch, oh nein, sondern den Sessel in der Gästeecke mit der Keksdose. Das war insofern ungewöhnlich, da eine solche Aufmerksamkeit nicht jedem zukam.

Kathi legte ihre Handtasche beiseite und kam seiner Aufforderung schweigend nach. Nachdem er sich ihr gegenüber platziert hatte, schlug er die Beine elegant übereinander und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

Selbstredend geschah das mehr der Form halber. Gleichzeitig suchte er ihren Blick, in Erwartung ihrer Reaktion. Natürlich hielt sie ihm stand und bemerkte sofort seine Unsicherheit.

Er mochte Ende dreißig sein, keinesfalls älter, war von mittlerer Größe, sportlicher Statur und hatte sonderbar vorstehende Augen. Sein Blick wirkte fest und starr, aber auch eigentümlich unbestimmt.

Seine tadellose Frisur mit dem strengen Scheitel und dem penibel glattrasierten Gesicht gaben ihm etwas Glattes, Kaltes. Kurzum – nicht unbedingt jemand, mit dem man Vertraulichkeiten austauschte.

Wie man sagte, soll er so etwas wie einen Raketenstart hingelegt haben, hatte seine Promotion mit einem „summa cum laude“ gemacht und war sogleich als jüngster Rat in den höheren Dienst aufgerückt. Nun berechtigte er zu großen Hoffnungen und achtete deshalb penibel auf Ordnung in seinem Ressort. Zudem eilte ihm der Ruf eines Pragmatikers voraus, der nicht lange fackelte, wenn es um Schwachstellen ging.

Natürlich beantwortete sie alle Fragen zu Dr. Stedekinns Zufriedenheit, was diesen auch freute. Zumindest tat er so. Dann aber trübte sich sein Gesicht merklich ein und er kam zu einer, wie er es nannte, ‚unerfreulichen Sache‘.

Dabei erklärte er ihr mit süßsaurem Lächeln, dass er sich doch sehr wundern müsse. Aber es wäre schon seltsam, dass eine Referendarin trotz Anweisung eines erfahrenen Kollegen gleich bei ihrem ersten Einsatz derart über die Stränge schlüge und damit die ganze Mission in Gefahr brächte.

„Um es kurz zu machen, Frau von Hardenberg: Ich spreche Ihnen hiermit eine Missbilligung aus“, kam er endlich zur Sache. „Sie haben durch Ihr Verhalten unsinnigerweise eine nicht hinnehmbare Situation provoziert. Glauben Sie etwa, in einem Tagesseminar zu sein? Hier geht es um höhere Dinge und der kleinste Fehler kann schwerwiegende Folgen haben. Offenbar ist Ihnen das nicht bewusst!“

Kathi fiel aus allen Wolken. Also doch! Alex hatte geplappert. Das hätte sie nicht erwartet. Im Nu stieg eine rasende Wut in ihr auf, zumal sich der Doktor auch noch in allerlei Lobhudeleien über die hervorragende Arbeit ‚seines Ersten‘ verlor, dessen Besonnenheit zweifellos Schlimmeres verhindert habe.

Damit nicht genug. Dr. Stedekinn legte auch noch nach, indem er sie wie ein ungezogenes Schulkind mit erhobener Stimme zurechtwies. Dabei sparte er nicht mit Plattitüden wie verschworene Gemeinschaft, Pflichttreue und Verantwortungsbewusstsein. Offenbar glaubte er selbst, was er sagte, denn er zeigte dabei eine durchaus überzeugende Empörung.

„Pflichttreue? Verantwortungsbewusstsein? Aber ich bitte Sie! Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Beweislage sehr zweifelhaft ist und hier möglicherweise ein Fehlurteil vorliegt!“, widersprach Kathi sofort. Woher sie den Mut dazu nahm, wusste sie nicht, aber diese Unterstellungen brachten sie auf die Palme.

Kurz stutzte er, wollte etwas erwidern, verfiel dann aber in ein mildes Lächeln und meinte: „Aber Frau von Hardenberg. Ihr Engagement in Ehren. Nur sollten Sie sich zu Urteilen über Dinge enthalten, die längst entschieden sind.“ Und als sie sich überrascht zeigte, setzte er hinzu: „Es ist nicht immer angebracht, Staub aufzuwirbeln, wo keiner vorhanden ist, wenn Sie verstehen.“

„Wie soll ich etwas verstehen, was nicht zu verstehen ist, oder habe ich mich unklar ausgedrückt? Ich bin einem Justizirrtum auf der Spur und möchte diesen aufklären!“

Ohne es zu wollen, hatte sie sich im Ton vergriffen. Damit riskierte sie sehr viel. Aber sie war nicht nur verstimmt, sondern geradezu schockiert über diese Ignoranz. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht, nahm sich aber zusammen.

Der Umstand, wie kalt dieser so elegante Herr und Übervater eine offenkundige Rechtsbeugung negierte, passte genau zu seiner schriftlichen Anweisung. Dabei war die Sache doch klar und sollte ihn, wenn schon nicht berühren, so doch wenigstens verwundern. Doch nicht einmal das geschah.

Augenblicklich bat der Oberrat um Mäßigung. Nachdem er sich etwas geordnet hatte, erklärte er ihr erneut, dass dies hier kein Wunschkonzert sei und überhaupt, was sie sich erlaube, hier solchen Alarm zu schlagen. Wenn sie sich nicht zusammennehme, hätte das Konsequenzen.

„Aber bitte! Nur zu! Dann aber vollständig!“, forderte sie ihn auf und komplettierte damit seine Verwirrung.

„Was meinen Sie?“ Er schien noch immer nicht zu begreifen.

„Ich meine, dann sollte auch alles auf den Tisch. Auch Ihr schriftlicher Hinweis in Form eines kleinen Ratgebers an Ihren ersten Sachbearbeiter mit der Maßgabe, möglichst mit angezogener Handbremse zu fahren, um bloß nicht zu viel aus dem Professor herauszukitzeln! Wissen Sie, wie man so etwas nennt?“

Dr. Stedekinn, jetzt völlig baff, vergaß darüber selbst allen Zynismus. Er schaute Kathi an, ohne sie zu sehen. Anscheinend brauchte er einen Moment, um das zu verarbeiten. Dann aber wurde ihm die ganze Infamie bewusst und er fragte mit verächtlich geschürzten Lippen, ob sie ihn veralbern wolle.

„Keinesfalls! Mir geht es nur um Unvoreingenommenheit und Einhaltung der Gesetzlichkeit!“

Der Oberrat erblasste. Wie komisch er jetzt anzusehen war, gar nicht mehr so glatt und überheblich. Plötzlich zeigte sich in seinem Gesicht eine unbestimmte, aber heftige Unruhe. Er wusste also, wovon sie redete.

„Hören Sie, Frau von Hardenberg. Damit wir uns richtig verstehen. Wenn ich Sie jetzt nicht auf der Stelle hinauswerfe und einen entsprechenden Brief an Ihren Dekan Dr. Meyer-Bücher schreibe, dann nur, weil ich Sie für überspannt halte! Ihre Behauptungen sind eine einzige Unverschämtheit, die Folgen haben wird!“

„Aber bitte. Nur zu“, erwiderte Kathi schulterzuckend. „Dann werde ich dem Herrn Knolle einige Informationen zukommen lassen. Sie wissen doch, Ihrem Justiziar. Ich glaube, der ist ganz heiß auf solche Geschichten.“ Sie griff in ihre Tasche und zog ihr Smartphone heraus. Nachdem sie die Bilder aufgerufen hatte, hielt sie ihm diese unter die Nase.

Man sah, wie es in Stedekinn arbeitete, wie er nach Worten suchte und doch nichts herausbrachte. Das war ja ungeheuerlich. Wieder und wieder betrachtete er die Aufnahmen und begann zu begreifen, welche Bombe sie da in den Händen hielt. Nicht auszudenken, wenn das rauskäme.

Voller Unruhe stand er auf und lief im Zimmer auf und ab, dabei immer wieder sein Bedauern bekundend, schaute kurz auf, um sich danach verdrießlich die Stirn zu reiben. Was sollte das alles?

Genau genommen sei das Ganze doch nichts weiter als ein Missverständnis, nicht mal der Rede wert, begann er zu lamentieren. Er lachte einmal kurz auf, kam dann aber gleich wieder ins Grübeln. Dabei verlieh ihm die Furcht und Benommenheit, die ihn umnebelte, fast eine gewisse Aufrichtigkeit.

„Und nun?“, fragte er. „Was soll nun werden?“

„Ich finde, wir sollten uns einigen.“

„Einigen? Und wie soll das aussehen?“

„Ganz einfach. Ich bekomme in dieser Sache weitestgehend freie Hand.“

„Wie bitte?“ Der Oberrat maß sie prüfend. „Was haben Sie vor?“

„Ich will die Wahrheit herausfinden. Wenn Sie mir versprechen, dass ich mit Herrn Knoblich ungehindert an dem Fall weiterarbeiten darf, werde ich diesen Zettel vergessen.“

„Das ist eine ganze Menge und will wohlüberlegt sein“, erwiderte er daraufhin. „Welche Garantie habe ich?“

„Mein Wort.“

Stedekinn hob die Brauen bis zum nec plus Ultra.5 „Sie sind nicht bei Trost! Das kommt überhaupt nicht in Frage!“

„Dann bleibt nur der Justiziar Knolle“, erklärte Kathi erstaunlich sachlich.

Zunächst wollte der Doktor noch einmal intervenieren. Plötzlich wurde ihm ganz heiß und er lockerte sich die Krawatte. Kathis Entschlossenheit machte ihm Angst. „Sie pokern hoch, Frau von Hardenberg. Wissen Sie das?“

„Sie lassen mir keine Wahl“, erwiderte sie. „Ich bitte um einen eigenen Transponder und Sicherheitssensor für die Anstalt und die Möglichkeit, mit dem Professor allein reden zu dürfen.“

„Auch das noch“, entfuhr es ihm.

„Wovor haben Sie Angst?“, setzte Kathi nach. „Ist es wirklich nur die Sorge um meine Person? Ich kenne unseren Klienten und weiß, er wird mich verstehen. Ich habe es in seinen Augen gelesen. Er wird mit uns kooperieren. Vertrauen Sie mir. Das wird auch für Sie von Vorteil sein. Ich werde Sie in meiner Recherche lobend erwähnen.“

„Recherche? Um Himmels willen!“ Dem Oberrat wurde ganz schwindlig.

„Es sind noch zu viele Fragen offen, Herr Direktor. Das dürfen wir so nicht stehen lassen!“

„Was reden Sie da?“ Verärgert fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. „Es gibt keine offenen Fragen!“

„Lassen Sie es mich herausfinden. Dann sehen wir weiter. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. In den nächsten Tagen erwarte ich einen neuen Dienstauftrag. Gemeinsam mit Hauptkommissar Knoblich werde ich dann erneut die Anstalt aufsuchen. Alles wird sein, als wäre nichts geschehen. Und genau genommen ist es das ja auch nicht, oder? Das ist doch ein faires Angebot!“

„Sie sind impertinent!“, stieß Stedekinn zornig aus.

„Mag sein, aber das gehört dazu … Wo steckt unser Hauptkommissar eigentlich? Ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Er wird doch nicht erkrankt sein? Dann müsste man ihn ja ersetzen. Am besten durch den Kollegen Altnickel. Oder was meinen Sie? … Sollte Herr Knoblich jedoch nebenan sitzen und alles mitgehört haben, erübrigt sich diese Frage.“ Diese Spitze konnte sie sich nicht verkneifen, da sie den roten Leuchtknopf am Telefon blinken sah, der auf ‚Durchstellen‘ geschaltet war. Sein Pech, aber sie kannte sich mit Chefapparaten aus.

Mit diesen Worten stand sie auf und schulterte ihre Handtasche. Ohne seine Zustimmung abzuwarten, verabschiedete sie sich. Sprachlos sah er ihr mit verkniffenen Lippen nach.

Kaum war sie verschwunden, platzte Stedekinn ins Nebenzimmer. Dort saß Alex bereits in banger Erwartung auf einem kleinen Hocker kauernd mit verschämt eingezogenem Kopf. Er hatte alles mitgehört und fand keine Worte.

Dafür aber sein Vorgesetzter. „Himmel Herrgott, Knoblich! Wie konnte so etwas passieren? Wie kommt sie zu meinem Zettel? Ich verlange eine Erklärung!“, brüllte er ihn sogleich an und drohte, jeden Moment den vor ihm stehenden Tisch umzukippen.

Dieses Häufchen Elend von Hauptkommissar zuckte jedoch nur ratlos mit den Schultern.

„Was soll das heißen? Ich habe Ihnen diesen Hinweis vertraulich gegeben und erwarte natürlich auch, dass sie ihn so behandeln!“ Stedekinn kochte.

Alex hingegen blieb erstaunlich ruhig. Er wusste längst, dass der Oberrat allein um seinen Ruf fürchtete. Schon deshalb würde er bestrebt sein, die Sache möglichst klein zu halten.

Allerdings quälte ihn die Vorstellung, sein Chef könnte einknicken und Kathis Forderung entsprechen. Alex wusste, dass er nach einer solchen Aktion zu einem Statisten degradiert wäre. Der Professor würde es merken und jede Kontrolle über das Geschehen wäre dahin.

„Seien Sie froh, dass ich Sie jetzt brauche, Knoblich. Sonst hätte ich Sie längst in den Schichtdienst versetzt. Aber wie es aussieht, werden wir nicht umhinkommen, dem Wunsch dieser Dame zu entsprechen“, kündigte Stedekinn auch prompt an.

„Wie bitte? Das ist nicht Ihr Ernst!“, protestierte Alex sofort aus seiner Starre erwachend.

„Ich fürchte, wir haben keine Wahl. Herrgott noch mal! Knoblich! Hier ist etwas ins Rutschen geraten, was wir dringend aufhalten müssen! Oder wollen Sie, dass dieses Luder tatsächlich zu Knolle rennt?“

„Das wird sie nicht tun. Ich werde noch mal mit ihr reden!“, versuchte Alex, ihn zu beruhigen.

„Nichts werden Sie! Das würde alles nur noch verschlimmern!“ Der Oberrat schlug mit der Faust auf den Tisch und zischte giftig: „Ich lasse mich doch von diesem Weibsbild nicht ruinieren!“ Es folgten noch ein paar unschöne Szenen, die begreiflich machten, weshalb manche Türen gepolstert waren.

Aber selbst wenn der Doktor um die damit verbundenen Risiken wusste, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Auftrag zu einer erneuten Befragung des Patienten zu erteilen. Zwar sollte Knoblich der Referendarin dabei die geforderte Eigenständigkeit gewähren, zugleich aber alles daransetzen, größeren Schaden zu vermeiden.

Auf Alex‘ berechtigte Frage, wie er das anstellen solle, erwiderte der Doktor nonchalant: „Dann lassen Sie sich gefälligst was einfallen! Wozu sind Sie erster SB?“

Der Hauptkommissar erhob sich und war schon fast an der Tür, als ihm Stedekinn noch nachrief: „Und gnade Ihnen Gott, Haui, wenn Sie es vermasseln!“

Diese letzte Spitze setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Natürlich gab sich Alex gelassen. Und doch ärgerte es ihn. Es war schon erstaunlich, wie billig sich dieser schmierige Kerl aus der Verantwortung stahl. Offenbar wartete er nur auf einen Anlass, ihn fallen zu lassen.

Nachdem Alex konsterniert das Büro verlassen hatte, zog der Oberrat eine Schreibtischschublade auf, nahm sein Kreuzworträtsel zur Hand und zückte seinen Stift.

Und als wäre nichts geschehen, steckte er sich eine Lakritz-Pastille in den Mund und knobelte über mögliche Alternativen auf die Frage nach einem törichten Menschen. Wohlweislich überhörte er das Klingeln seines Telefons und setzte vergnügt das Wort ‚Dummkopf‘ ein.

Währenddessen blieb Alex der Spießrutenlauf durch die Abteilung nicht erspart. Trotz Türpolsterung hatte man den Lärm längst vernommen und ahnte Schlimmes. So stand man nun voller Neugier da, Altnickel an der Spitze, gefolgt von zwei weiteren Speichelleckern, dann die Vorzimmerdame und schließlich ein noch ahnungsloser Anfänger.

Während sich die einen an Alex‘ Anblick ergötzten, heuchelten andere ihr Bedauern, so ungefähr das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

Was blieb ihm, als sich gelassen zu geben und einem dieser Dumpfbacken noch in die Wange zu zwicken. Darüber hinaus wünschte er allen noch einen schönen Dienst, woraufhin man ihm nur sprachlos hinterherschaute.

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So oder so ist es Mord

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