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Der Visionär

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Ein paar Tage zuvor …

Die Stimmung war gereizt. Nach dem letzten Sommer herrschte große Angst vor einer neuen Dürre. Die Landwirte schimpften, Politiker beschwichtigten und überall liefen durchgeknallte Klimaaktivisten sturm. Kurzum, der richtige Zeitpunkt für einen Newcomer wie Uwe Lindholm.

Als Parteivorsitzender und charismatischer Querdenker der noch jungen DVA, stand er schon lange im Fokus seiner Feinde. Dort hatte er sich als markiger Sprücheklopfer und missliebiger Schaumschläger unbeliebt gemacht, was durch die Presse noch befeuert wurde. So nannte man ihn im Norderstedter Wochenjournal (seiner Meinung nach ein Schmierblatt übelster Sorte) erst jüngst einen miesen Populisten und ‚fleischgewordene Ikone des Konservatismus‘.

Doch das kratzte ihn nicht. Im Gegenteil, er wusste ja, woher das kam. Dabei hatte man ihn erst kürzlich mit überwältigender Mehrheit (und ein wenig Schmiergeld) zum Vorsitzenden wiedergewählt. Sehr zum Ärger eines gewissen Wilbur Brusig, seines Zeichens Chef der konkurrierenden KVPD, einer Partei mit kruder Weltanschauung und ohne jede Programmatik. Dieser hatte eine wahre Schmutzkampagne gegen Lindholm entfacht, welche aber am breiten Widerstand der Parteibasis kläglich gescheitert war.

Folglich stand auch die heutige Tagung nicht zufällig unter dem Motto ‚Stärke durch Überzeugung‘, in Anspielung auf Brusigs Sticheleien.

Und dass Lindholm für beides sprach, bewies allein schon seine sprachliche Spitzfindigkeit. Damit wusste er bestehende Widersprüche derart zu verklausulieren, bis niemand sie mehr verstand. Fragte man aber nach, zog er das Ganze sofort ins Lächerliche und stellte dem Fragenden damit ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Kein Wunder, dass sich kaum noch jemand mehr an ihn heranwagte.

Aber genau das erwarteten seine Anhänger heute im randvoll gefüllten Saal des Kulturhauses in der Mümmelmannstraße. Diese skandierten bereits unter rhythmischem Klatschen fortwährend Lobgesänge und Lindholmrufe, während ihr Held im Vorbereitungsraum genüsslich seinen Kaffee schlürfte und gar nicht daran dachte, sich zu beeilen.

Erst als die Menge tobte und erste Misstöne laut wurden, ließ er sich dazu herab.

Noch einmal bürstete seine Angetraute Ludmilla ihm übers Jackett, kontrollierte Make-up und Frisur und wirkte dabei überaus konzentriert, denn alles musste sitzen. Nur so gelang die perfekte Show. Zum Schluss zwickte sie ihm vergnügt in die Wange und entließ ihn mit einem Klaps aufs Gesäß ins Rampenlicht.

Doch obgleich sie an ihn glaubte, wie man nur an jemanden glauben konnte, hielt sie ihn zuweilen für einen Trottel, vor allem, wenn er in seinem Überschwang wieder einmal überzog. Dann war seine Zunge oftmals schneller als sein Verstand und die daraus entstehenden Widersprüche nur schwer zu glätten. Blieb nur zu hoffen, dass ihm das heute nicht passierte.

Inzwischen wurde ein Tusch intoniert und Lindholm trat mit gebreiteten Armen vor sein Publikum. Dieses säumte dicht gedrängt die Reihen. Von der Welle der Begeisterung getragen, streckte er ihnen die aufgereckten Daumen entgegen, klopfte sich auf die Brust und deutete eine leichte Verneigung an.

So stand er mit geschwollener Brust vor ihnen und badete in den Ovationen. Dann tänzelte er elegant die Stufen zum Podest hinauf, vollführte eine kunstvolle Drehung nach allen Seiten und trat schließlich ans Pult.

„Hallo Mitstreiter, Freunde, Radikale und unbeirrbare Populisten!“, jubelte er sarkastisch und erntete neben heiserem Gelächter erneut tosenden Applaus. Selbstredend verlängerte er die dafür nötige Pause. „Ist es nicht herrlich, derart provoziert und bekämpft zu werden und das ausgerechnet von Leuten, die weder das eine noch das andere beherrschen? Aber das ist ja der Vorteil einer Demokratie, wie wir sie verstehen. Jeder soll sich so lächerlich machen, wie er kann! Und manche verstehen sich darauf ganz besonders!“

Erneut brüllte der ganze Saal. Sogleich legte der Redner nach, indem er über das Klima, die Rote Liste der Artenvielfalt und die politische Katastrophe in Europa frotzelte. Kurzum, all das, was seine Gegner, allen voran eine ganz bestimmte Person, propagierten.

Schatten der Neuzeit nannte er das und spielte damit auf die Ängste der neuesten Umfragen an. Seine Diagnose: Krise im Endstadium, ein Krebsgeschwür der Natur, geschürt durch panikmachende Dilettanten, gefördert durch eine unfähige Regierung. Zeit für eine Kehrtwende! Jawohl! Das zündete.

Als gefürchteter Querulant scheute er nicht mal den Konflikt mit scheinbar übermächtigen Gegnern. Zwar wirkten seine Thesen bisweilen etwas plump, fußten jedoch – und das musste man ihm lassen – stets auf fundierten Fakten.

Selbst wenn er beim Reden mit der Hand in der Tasche Lässigkeit gaukelte und gelegentliche Einwände als ‚dümmliche Zoten‘ abschmetterte, war das keine Geringschätzung, sondern Taktik. ‚Seht her. Ich bin einer von Euch und lasse mich nicht unterkriegen‘ sollte das heißen, wozu auch sein bisweilen recht schnoddriger Ton passte. Das war sozusagen sein Markenzeichen und dafür liebte man ihn.

Lindholm griff zum Wasserglas und registrierte wohlwollend die plötzliche Stille. Dann nahm er eine parlamentarische Pose ein, streckte die Arme aufs Pult, wobei seine goldenen Manschettenknöpfe blinkten, und wurde konkret.

Und siehe, der Verantwortliche war schnell ausgemacht. Oberbürgermeister Wilbur Brusig sei maßlos überfordert und solle endlich seinen Hut nehmen. Schließlich habe er das alles verbockt! Und wenn er den nötigen Schneid besitze, werde er jetzt die Konsequenzen ziehen. Energisch donnerte Uwes Faust aufs Pult.

Damit nicht genug. Anhand recherchierter Fakten aus dem letzten Haushalt könnte man Brusigs Unfähigkeit exakt belegen und sich nur wundern, wieso die ansonsten so krümelkackenden Revisionisten der KVPD dazu schwiegen. Hatte das womöglich etwas mit der nächsten Diätenerhöhung zu tun? Ein Schelm, wer Arges dabei dachte.

„Aber für Wochenendpolitiker, die Liberalismus mit Affentheater verwechseln, ist das kein Wunder. Darum weg mit dieser Null auf den Müllhaufen der Geschichte! Die Zeit für eine Wende ist gekommen!“, forderte Lindholm und brachte den Saal zum Toben.

In der Tat war er heute wieder richtig gut drauf. Er jonglierte geradezu mit den Worten und landete immer wieder einen Treffer. Ludmilla hatte die Rede vorzüglich redigiert. Woher sie ihre Informationen allerdings bezog, blieb oftmals schleierhaft. Aber was kümmerte es ihn? Mochte seine Frau zuweilen auch etwas selbstverliebt wirken und vor allem in Fragen der Parteitaktik wie ein Trampeltier agieren, so blieb sie doch ein Hort der Zuverlässigkeit.

Während der Beifallssturm nicht abriss, heizte im Hintergrund ein Lichtband mit dem Slogan: ‚Schleswig-Holstein, ein Narrenschiff!‘ die Stimmung weiter an.

Als Uwe zudem mit der nötigen Inbrunst noch in Richtung Industrie mit ihrer schier unersättlichen Profitgier schoss, provozierte er damit erste radikale Schlachtrufe wie ‚Widerstand‘ oder ‚nieder mit der Demokratur‘.

Genau so wollte er sie haben. Als Dompteur einer aufgestachelten Menge war er in seinem Element. Nun musste man diese Munition nur noch in zukunftsträchtige Stimmen ummünzen. Dann wäre die Fünf-Prozent-Hürde geknackt. Und wie könnte das besser gelingen, als durch ein paar treffliche Sarkasmen kombiniert mit düsteren Prophezeiungen.

Kein Wunder, dass er mit subtilem Spott um Verständnis für die neue Fäkaliensteuer warb, einschließlich einer möglichen Bepreisung der Flatulenzen von Mastgänsen.

Gelächter brandete auf.

Einen weiteren Kübel der Kritik schüttete er auf die ‚systemtreuen‘ Medien aus, für ihn die Handlanger des Finanzkapitals und Feind jeder Demokratie. Zu guter Letzt knöpfte er sich die korrupte Staatsgewalt vor, welcher er eine Demontage der Rechtsordnung im Sinne eines linken Komplottes vorwarf.

„Deshalb ist es unsere Pflicht, diesen unseligen Machenschaften ein Ende zu setzen!“, schloss er und reckte kämpferisch die Faust in die Höhe. Tosender Applaus prasselte auf, durchbrochen von Rufen wie „Bravo!“ und „Weiter so!“

Erleichtert verließ der Redner das Pult und genoss das anschließende Bad in der Menge. Wiederholt schüttelte er Hände und man klopfte ihm auf die Schulter. Manche sprachen von einem „Kometenstart“, andere prophezeiten ihm einen Durchmarsch bis zum Ministerpräsidenten.

Kaum wieder hinter der Bühne, fiel ihm die zu Tränen gerührte Ludmilla um den Hals. Auch der Rest seiner Begleiter zeigte sich beeindruckt. Doch zu deren Verwunderung blieb sein gewohntes Statement aus. Irgendwie wirkte er erschöpft und nicht ganz bei der Sache.

Dabei lag es bestimmt nicht am Gebrüll der Gegendemonstranten draußen vor dem Haus. Nichts als bestellte Dummköpfe, die Brusig auf Kosten seiner Parteikasse hatte herankarren lassen.

Nein. Die Ursache dafür lag woanders. Während seiner Rede hatte wiederholt sein Handy geschnarrt. Als er kurz nachgesehen hatte, beunruhigte ihn die aufblinkende Nummer mit dem Zusatz ‚dringend‘.

Dabei handelte es sich um eine Notnummer für den Fall wichtiger Informationen. Schon seit Langem misstraute er Fernverbindungen aus Furcht vor einer Überwachung. Deshalb nahm er Dinge von besonderer Brisanz ausnahmslos persönlich entgegen.

Diese kamen ausschließlich von seinen Informanten, von denen er einige in den verschiedensten Bereichen hatte. Das war nötig, denn nur so beherrschte er die Lage und war seinen Gegnern meist einen Schritt voraus.

Ohne den Nachhall seiner Worte im Saal zu beachten, begab er sich in den Vorbereitungsraum zurück. Das war ungewöhnlich. Unter dem Vorwand eines dringenden parteiinternen Termins wimmelte er seine Begleiter ab und verabschiedete sich ebenfalls von Ludmilla.

Er sicherte ihr seine baldige Heimkehr zu, führte aber die näheren Gründe dazu nicht aus. Schließlich wollte er den gelungenen Auftritt heute Abend mit ihr gemeinsam bei einer Flasche Chardonnay ausklingen lassen, auch wenn sein ‚Schnurzel‘ Chardonnay nicht mochte. Doch was kümmerte es ihn. Es genügte, wenn er ihn mochte.

Rasch zog er seinen Mantel über und legte sich den blaugrauen Seidenschal um. Stante pede verließ er das Gebäude durch eine Seitentür, wuchtete sich in seinen Privatwagen und brauste los.

Da es inzwischen bereits dämmerte, war er zu einer moderaten Fahrweise gezwungen. Als er dann aber in einer Nebenstraße eine englische Fangruppe bemerkte, die aus der U-Bahn-Station quoll und nicht nur optisch eine Provokation darstellte, stieg sein Adrenalin. Er drosselte das Tempo. Einige Passanten empörten sich, als zwei dieser ‚Hools‘ ungeniert an die nächste Hauswand pissten. Andere torkelten quer über die Straße, sodass er links ausweichen musste.

„Saupack!“, schimpfte Uwe und fuhr halb über den Radweg. Aus Wut darüber riss er plötzlich den Wagen herum und hielt direkt auf einen der tätowierten Dreckskerle zu. Das allerdings so scharf, dass dieser sich nur durch einen Seitsprung retten konnte.

Wie johlte der Parteivorsitzende jetzt auf. Der Tapezierte konnte ja springen wie ein Reh. Nur allzu gerne hätte Uwe nachgelegt. Doch er hatte keine Zeit, und so bretterte er davon.

Sein Ziel befand sich in einer schmutzigen Straße nahe dem Schanzenviertel in Kiel-Gaarden. Dort war jemand wie er kaum zu erwarten. Schon deshalb blieb dieser Ort für ein Treffen mit seinem Zuträger wie gemacht.

Bei diesem handelte es sich um einen Karl-Heinz Vortanz – auch Kalle genannt. Ein windiger, mit allen Wassern gewaschener Kleinganove. Skrupellos und korrupt verfügte er über eine Menge Kontakte zur Halb- und Unterwelt und war für jede nur erdenkliche Schweinerei zu haben. Selbst wenn er optisch ein wenig an Catweazle erinnerte und zudem auch nicht den hellsten Eindruck machte, war er dennoch überaus zuverlässig und vor allem verschwiegen.

Lindholm wusste so etwas zu schätzen und nahm dessen Dienste deshalb gern in Anspruch. Doch noch nie hatte es dieser Kerl so dringlich gemacht. Das nährte Uwes Nervosität, zumal es einiges gab, was ihn schon lange beunruhigte.

Unweit des Treffpunktes parkte er den Wagen und postierte sich, wie vereinbart, in der Nähe einer öffentlichen Toilette. Was dachte man nicht alles in solchen Momenten. Jedenfalls nichts Vernünftiges.

In unmittelbarer Nähe fielen ihm einige balgende Spatzen auf. Die Ursache war ein sorglos weggeworfener Karton einer Fast-Food-Kette. „Sauerei!“, fluchte er, natürlich nur leise, und nahm sich vor, demnächst eine Entsorgungsvorschrift durchzusetzen. Mittlerweile lagen seine Nerven blank.

Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, als plötzlich irgendwo ein Feuerzeug klickte. Ein kleiner zottiger Pinscher kam herbeigesprungen und beschnüffelte Lindholms Bein. „Fifi, gehst du … Pfui!“, ertönte aus dem Hintergrund eine weibliche Stimme in herbem Alt.

Blitzschnell hatte eine Frau im Jogginganzug und einer Plastiktüte in der linken Hand dem Hund ein Halsband umgelegt und entschuldigte sich für dessen Zudringlichkeit. Dann musterte sie Lindholm gleichmütig.

„Schon gut“, sagte dieser und wollte gerade weitergehen. Doch zu seinem Entsetzen erkannte ihn die Frau und fragte unverblümt, ob er nicht der Lindholm sei, jener Spinner, der hier die ganze Gegend verrückt mache.

„Tut mir leid, Verehrteste. Da müssen Sie mich wohl mit dem Brusig, dem Vorsitzenden der nationalen KVPD verwechseln. Der ist für seine verrückten Geschichten bekannt“, schnarrte Uwe zurück und ging mit gekränkter Würde davon.

„Nein, nein! Ich meine Sie!“, erdreistete sie sich, ihm noch nachzurufen. Er konnte nur hoffen, dass es niemand hörte. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, wäre ein Eklat in einer schmutzigen Straße vor einer öffentlichen Toilette.

Nachdem er genug Abstand gewonnen hatte, versteckte er sich hinter einer Litfaßsäule. Dabei tappte er zu allem Übel in einen Haufen.

Zum Glück hatte sich diese Unperson samt ihrem Köter inzwischen verzogen, sodass Uwe wieder zurückgehen konnte. Dort platzierte er sich genau an derselben Stelle. Verschämt streifte er seinen Schuhabsatz an der Bordsteinkante ab, ohne ihn jedoch wirklich sauber zu bekommen. „Einfach ekelhaft“, meckerte er leise. „Man sollte die Bußgelder für solche Tretminen erhöhen.“

Nach einigen qualvollen Minuten, in denen er sich fortwährend umschaute, erschien endlich sein Informant. Zu Lindholms Verwunderung blieb dieser allerdings auf der gegenüberliegenden Seite stehen und winkte ihn zu sich heran.

Uwes Stirn legte sich in Falten. Schon wollte er ihm einen Vogel zeigen, gab dann allerdings nach. Aber noch bevor er ihn erreicht hatte, wich dieser in den dunklen Hausflur eines angrenzenden Mietshauses zurück. Kaum war Lindholm ihm dorthin gefolgt, drückte Kalle die Tür hinter ihm zu und starrte nervös durch die trübe Türscheibe.

„Was ist denn?“ Die Stimme des Politikers schnitt in die Stille.

„Pst!“, zischte sein Informant und legte den Finger auf die Lippen. Und siehe, plötzlich tauchte aus dem Dunkel ein untersetzter Kahlkopf mit einer schäbigen grauen Jacke auf. An der gegenüberliegenden Bushaltestelle trat er an den Fahrplan und tat, als studierte er diesen.

Es war nur merkwürdig, dass er dabei wiederholt nach rechts und links blickte, als suchte er etwas Bestimmtes. Schließlich ging er weiter.

„Wie jetzt …?“ Lindholm starrte sein Gegenüber angstvoll an. „Etwa einer von der KVPD?“

„Möglich“, flüsterte Kalle. „Werde es herausfinden. Aber nachdem mir dieser Bursche heute zweimal über den Weg gelaufen ist, glaube ich nicht mehr an einen Zufall. Ich fürchte, es ist irgendetwas im Gange.“

Lindholm erschrak. „Wie meinst du das?“

Catweazle kam näher und beugte sich geheimnisvoll vor. „Es wird Sie sicher interessieren, dass Ihr Freund, dieser verrückte Professor, wieder mal Sperenzchen macht.“ Dabei tippte er sich an die Stirn.

„Sperenzchen?“ Verwundert sah Uwe ihn an. „Wie soll ich das verstehen?“

„Ganz einfach. Er quatscht dummes Zeug.“

„Ja und?“, schimpfte Uwe, dämpfte aber sofort wieder seine Stimme und sah sich um. „Das macht er doch immer.“

„Dieses Mal aber anders“, erwiderte seine Kontaktperson augenzwinkernd. „Wie ich erfahren habe, passierte das alles nach einem Besuch von diesem Hauptkommissar. Knoblich, Sie wissen schon. Diesmal hatte er so eine Tussi dabei und die muss unserem Patienten wohl schwer zugesetzt haben. Dieser soll wohl auch einiges angedeutet haben, was unangenehm werden könnte. Danach bekam er augenscheinlich so etwas wie einen Kollaps. So jedenfalls wurde es mir berichtet.“

„Unsinn!“, wehrte Lindholm ab und wirkte mit einem Mal auffallend dünnhäutig. „Das ist doch unmöglich. Was soll der schon andeuten? Den nimmt doch ohnehin keiner ernst.“

„Ich wäre mir da nicht so sicher … Jedenfalls hat er sich lange Zeit nicht so aufgeführt. Außerdem darf ich Sie daran erinnern, dass Sie mich aufgefordert haben, jede Neuigkeit sofort zu melden. Wenn Sie das jedoch nicht mehr möchten, müssen Sie es mir nur sagen.“

„Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt! Man wird doch wohl noch fragen dürfen! Also gut. Wer ist diese „Tusse“? Und was macht die bei der Polente?“ Lindholms linker Mundwinkel zuckte nervös.

„Weiß ich nicht. Anscheinend neu. So ‘n junges Ding halt. Hat offenbar noch gar keine Ahnung und will sich gleich so großtun. Ich würde die Situation jedenfalls nicht unterschätzen.“

„Meinst du wirklich, Brusig steckt dahinter?“, fragte Uwe nochmals.

„Möglich. Der ist doch für alles gut.“

„Stimmt. Finde heraus, wer sie ist. Und ob an der Sache was dran ist.“

„Das macht aber zwei Riesen extra. Sie müssen verstehen, dass das nicht so einfach ist. An jemanden im polizeilichen Dienst heranzukommen, gestaltet sich immer schwierig. Da muss man tausend Hürden nehmen und das ist nicht gerade billig …“ Kalles Grinsen widerte Lindholm an. Am liebsten hätte er ihm eine reingehauen.

„Unverschämter Kerl“, zischte Uwe und kramte zähneknirschend zwei grüne Scheine hervor. „Dafür erwarte ich Qualität!“

„Habe ich Sie jemals enttäuscht?“

„Das will ich dir auch nicht geraten haben … Und jetzt verschwinde. Ich habe dich lange genug ertragen.“

„Eine Frage noch, Herr Lindholm“, erwiderte dieser Widerling und erdreistete sich noch, prüfend die Scheine gegen das Licht zu halten.

„Nenn mich nicht beim Namen, verdammt noch mal! Es könnte uns jemand hören!“, wies Uwe ihn sofort zurecht.

„Oh, Entschuldigung. Aber die Macht der Gewohnheit, ähä. Aber sagen Sie mal, wieso ist Ihnen die Sache mit dem Künstler eigentlich so gleichgültig?“ Damit spielte er ganz unverblümt auf seine letzte Information bezüglich Ludmillas Lover, einen gewissen Hubertus Sieger, an.

Diesen ‚Hubi‘, wie Lindholm ihn abfällig nannte, hatte seine Frau vor ein paar Monaten auf einer Vernissage kennengelernt. Und nachdem Kalle sich alle Mühe gegeben hatte, ein paar aussagekräftige Fotos zu schießen, zeigte sich sein Auftraggeber davon jedoch erstaunlich unbeeindruckt.

„Wer sagt denn etwas von gleichgültig?“, blaffte Uwe ihn sofort an.

„Nun ja, weil Sie so gelassen reagiert haben. Es geht mich ja nichts an, aber …“

„Ganz recht! Es geht dich nichts an! Und jetzt halt deine Klappe und verschwinde!“, schnitt ihm Lindholm das Wort ab. Er wollte nichts mehr davon hören, bevor er sich noch vergaß.

Zwar hielt er die althergebrachte Ehe nach wie vor für die Idealform einer Partnerschaft, schloss aber mögliche Doppelgleisigkeiten nicht aus, vorausgesetzt, die Initiative blieb bei ihm.

Wenn es nicht zu makaber klänge, könnte man sagen, er selbst habe seiner Frau diesen Kerl erst zugeschanzt, übrigens ein künstlerischer Dilettant in Bezug auf seine Werke. Immerhin hatte Uwe sie seinerzeit zu dieser Vernissage geschickt, wenn auch aus anderen Gründen. Er brauchte diese Zeit, um sich seinerseits einer anderen Frau zu widmen, welche ihn schon lange interessierte.

Diese war jung, schön und nebenbei ein paar Pfunde leichter als seine Gattin. Mittlerweile war er an so manchem Abend im Schein diverser Teelichter mit ihr auf einer Couch versunken, um der Stille zu lauschen. Außerdem besaß diese Sahneschnecke noch andere Vorzüge.

Zudem handelte es sich um niemand anderes als Solveig Wittenburg, die Tochter des inhaftierten Professors, dessen Prozess monatelang die Schlagzeilen füllte. Damit war sie die heiße Favoritin auf ein millionenschweres Erbe. Nebenbei war sie wie kein anderer in die Hintergründe eingeweiht, die sich seit dem Tod ihrer Mutter Luise ereignet hatten. Niemand kannte die Prozesslage besser.

Böse Zungen behaupteten, Lindholm selbst habe sich erst im Zuge des damaligen überaus medienwirksamen Prozesses als Solveigs Beistand profiliert, was ihn letztlich zu dem machte, was er heute ist.

Das war natürlich Unsinn. Erstens musste er sich nicht profilieren, und zweitens hatte er als guter Freund des Hauses das Recht und die Pflicht, sich um dieses Mädchen zu kümmern. Wer jetzt lachte, hatte keine Ahnung.

Dass er sich dabei in sie vernarrt hatte, lag nahe. Aber Solveig war in seinen Augen einfach vollkommen. Anders als Ludmilla verfügte sie über Charme, Esprit und das gewisse Etwas, womit man einen Mann betören konnte.

Natürlich durfte er ihr das nicht eingestehen. Das könnte sie nur auf dumme Gedanken bringen. Solveig litt in letzter Zeit ohnehin schon unter unerklärlichen Gemütsschwankungen, sodass er alle Mühe hatte, sie unter Kontrolle zu halten. Und das lag bestimmt nicht nur an ihrer absurden Forderung, sich zwischen ihr und Ludmilla zu entscheiden.

Offenbar wusste sie nicht, was das bedeutete. Ludmilla war nicht nur seine Frau, sondern auch seine Mentorin und Managerin. Ganz zu schweigen von ihrer einflussreichen Familie, auf die er kaum verzichten konnte. Immerhin saß Schwiegerpapa als Bundesrichter im Börsenaufsichtsrat und nahm gewöhnlich einmal im Monat an der Männer-Loge in der Willy-Paul-Allee teil. So etwas konnte man nicht einfach aufgeben.

Wie es nun weiter gehen sollte, wusste er zwar nicht, oder besser, wollte er auch nicht wissen. Aber ihm würde schon noch was einfallen, wie immer, wenn es darauf ankam. Dafür war er Politiker.

Und dennoch. Aufgrund der momentan doch recht unklaren Lage sah er sich gezwungen, seine Besuchs- oder genauer Kontrollintervalle bei Solveig zu verkürzen. Das war auch der Grund, weshalb er die versprochene Flasche Chardonnay mit Ludmilla noch verschob und jetzt schnurstracks zu seiner Geliebten fuhr.

Leise dudelte irgendeine Schnulze im Autoradio. Doch statt ihn zu beruhigen, regte sie ihn auf, sodass er wütend abstellte. Seit der Inhaftierung ihres Vaters wohnte Solveig allein in der elterlichen Villa in einer noblen Gegend in Holtenau. Das war für seine Absichten geradezu ideal. Dennoch fürchtete er, dass ihr die häufige Einsamkeit schaden könnte. Sie war ohnehin schon anfällig für seltsame Gedanken, weshalb er manchmal bereits an ihrem Verstand zweifelte.

Deshalb hatte er zwei ihm loyal ergebene ‚Bedienstete‘ beauftragt, hin und wieder nach ihr zu sehen und ihn über mögliche Unregelmäßigkeiten zu informieren. Das funktionierte bisher auch ganz gut. Nur waren sie nicht immer da, und eine Rundumüberwachung erschien ihm (noch) nicht nötig.

Also konnte eine Kurzvisite nicht schaden. Dazu stellte er das Auto zwei Straßen weiter ab und legte den Rest zu Fuß zurück. Da es mittlerweile stockdunkel war, konnte er auf den aufgeschlagenen Kragen verzichten.

Lautlos öffnete er das Zugangstor und schlich zur Haustür. Dort legte er das Ohr an und horchte. Doch so sehr er sich auch anstrengte – es herrschte Totenstille. Behutsam führte er den Schlüssel ein, dabei bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden.

Doch gerade, als er zum letzten Dreh ansetzte, sprang die Tür auf und Solveig stand vor ihm. „Was soll das?“, fauchte sie ihn an und komplettierte damit seine Konfusion. Sie war nur leicht bekleidet, dazu sonderbar geschminkt, als habe sie irgendetwas vor und schien sich überhaupt nicht zu genieren. Das irritierte ihn.

„Nun ja. Ich habe mal sehen wollen, ob du, hihihi, nun ja, ob du …“

„Quatsch nicht!“, blaffte sie los. „Du willst mich kontrollieren! Sag es doch gleich! Deine Eifersucht ist ja schon krankhaft. Du hast sie doch nicht mehr alle!“

„Wie jetzt? Ich habe sie nicht mehr alle?“, brauste Uwe auf, der sich so etwas natürlich nicht bieten lassen konnte. „Ich werde dir zeigen, wer sie nicht mehr alle hat!“ Sofort stürzte er in die Wohnstube, riss alle Türen und Schränke auf und guckte sogar unter das Bett. Er fühlte sich zerrissen zwischen dem, was der Verstand ihm sagte und dem, was sein Bauchgefühl ihm suggerierte. Wie ein Besessener wühlte er in den Schubladen herum, in sicherer Erwartung, etwas Verräterisches zu finden. Derweil dudelte der Fernseher im Nebenraum.

„Hör endlich auf!“ Entnervt stellte Solveig sich ihm in den Weg. „Das ist doch kindisch!“

Ungeachtet ihres Protestes machte er im Badezimmer weiter. Hier schnüffelte er sogar am Handtuch. Und als wäre es nicht genug, sperrte er das Fenster auf und kontrollierte den Parkbestand gegenüber dem Haus. Meinte er doch, alle hierhergehörenden Fahrzeuge zu kennen, sodass ihm ein fremdes sofort auffiele.

Doch so sehr er sich auch mühte, sein Verdacht bestätigte sich nicht.

„Und zufrieden?“, kommentierte sie trotzig, mit verschränkten Armen.

Nachdem Uwe sich etwas beruhigt hatte, piepste er ein verhaltenes: „Tschuldigung“.

Plötzlich blinzelte er Solveig lüstern an. Ihre Augenlider schimmerten blau. Ihre Wimpern waren lang und schmal. Sanft streichelte er ihr Gesicht. Jetzt sollte sie ihm das Haar wuscheln und ihn einen ‚verdammten Raufbold‘ nennen. Das mochte er.

Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Vielmehr kehrte sie ihm bockig den Rücken und hüllte sich in Schweigen. Teilnahmslos sah sie aus dem Fenster. Aus irgendeinem Grund versetzte sie der Bodenvase einen Tritt, aber so leicht, dass diese nur ins Wackeln geriet und nicht umkippte. Es schien ihr Spaß zu machen und vielleicht wollte sie mal wieder etwas zerstören. Dieses Verlangen hatte sie in letzter Zeit öfter.

„Ach, komm“, meinte er einlenkend. „Nun hab dich nicht so. Ich bin keineswegs zum Streiten hergekommen, sondern weil es Neuigkeiten gibt.“

„Natürlich, wie konnte ich auch etwas anderes glauben“, ätzte sie sofort wieder los.

„Hör zu. Du solltest noch mal mit deinem Vater reden“, begann er, sie sofort zu bedrängen.

„Wie bitte? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Bevor du dich nicht änderst, werde ich keinen Finger mehr krümmen.“ Energisch trat Solveig einige Schritte auf ihn zu und hob die Hand, als wollte sie ihm eine kleben.

Beschwichtigend ergriff er ihren Arm. „So beruhige dich doch. Es ist ja nur zur Vorsorge, damit dein alter Herr nicht wieder an sich zweifelt.“

„Lass ihn doch. Das ist es doch, was du immer wolltest“, intervenierte sie sofort.

„Was soll dieser Zynismus? Die Lage hat sich geändert. Vor Kurzem sind zwei Kripobeamte bei ihm gewesen. Wie berichtet wurde, haben die allerlei dumme Fragen gestellt. Nun befürchte ich, dass die ganze Wühlerei wieder von vorn beginnt. Das können wir nicht gebrauchen. Nicht jetzt, so kurz vor der Wahl.“

„Ja, natürlich.“ In aller Seelenruhe nahm sie ein Stück Schokolade aus einer Schale. „Wie geht es eigentlich Ludmilla?“, stichelte sie plötzlich.

„Na, wie schon. Sie betrügt mich mit diesem Lackaffen, diesem, wie hieß er noch gleich …?“

„Hubertus Sieger“, ergänzte Solveig amüsiert. „Im Übrigen ist er nicht ohne Talent.“

„Wer? Dieser Schmierfink?“ Lindholm kicherte amüsiert, wurde aber sofort wieder ernst. „Woher kennst du diesen Typen eigentlich?“ Bei den letzten Worten kam er auf sie zu.

„Wer sagt denn, dass ich ihn kenne? Nur weil ich seinen Namen weiß, muss ich ihn doch keineswegs kennen!“

„Nun sei doch nicht immer gleich so mimosenhaft … Sieh hier. Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Im selben Moment kramte er ein sorgsam von Schmuckpapier umhülltes Päckchen hervor.

„Oh Gott, du bist verrückt!“, entfuhr es ihr, nachdem sie es geöffnet hatte und einen goldenen Ring entdeckte.

Uwe strahlte. Wie immer hatte er ihren Nerv getroffen. „Für dich tue ich doch alles. Das weißt du doch“, hauchte er ihr ins Ohr.

„Das ist aber lieb.“ Sie lächelte.

Langsam strich er ihr Haar zurück und küsste ihren Hals. Sie schloss die Augen, inhalierte seinen herben Geruch und spürte sein Verlangen.

Eigentlich wollte sie nicht. Doch nur so konnte sie diesen Narren bei Laune halten, denn sie hatte noch einiges mit ihm vor. Zudem war ihr dieses Spiel mittlerweile zur Routine geworden, weshalb sie wusste, wie sie diesen Möchtegernmacho möglichst schnell einlullen konnte. Also tat sie mal wieder, was er von ihr erwartete, ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden.

Als es vorbei war, drehte er sich um und schlief ein. Sie hingegen stand auf und ging, wie immer, ins Badezimmer, um sich zu übergeben.

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So oder so ist es Mord

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