Читать книгу Die Hexenkönigin - Anna Rawe - Страница 5

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Kapitel 1

Der Feuerball verfehlte meinen Kopf nur um Haaresbreite. Reflexartig wich ich aus und riss meinerseits die Hände nach oben. Magie kribbelte in meinen Fingerspitzen und im Bruchteil eines Augenblickes entflammte die Luft in meiner Handfläche. Ich zögerte nicht.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit jagte ich die Kugeln quer über die Lichtung auf die junge Frau. Feuer erhellte die Stoffbahnen, die den Platz umgrenzten und umriss die Züge der Frau, die mir gegenüber im Ring stand.

Ich hatte gut gezielt – die Feuerbälle hielten direkt auf ihren Brustkorb zu. Kurz, bevor das Feuer sie jedoch erreichte, hob sie die Hände abwehrend vor den Körper. Die Flammen erloschen noch im selben Moment.

"Du lernst schnell." Auricas Mundwinkel hoben sich und offenbarten ein schmales Lächeln. "Wenn du so weitermachst, solltest du bald auf dem Level eines Novizen des dritten Jahres sein."

Atemlos grinste ich. Das Lob der sonst so wortkargen Hexenmeisterin spornte mich stärker an als erwartet. "Nochmal von vorn?"

Aurica nickte. "Versuch diesmal, dem Feuer mehr Geschwindigkeit zu verleihen. Idealerweise sollte der Ball den Gegner treffen, bevor dieser überhaupt reagieren kann."

Ich ging zurück in meine Ausgangsposition, während Aurica einige Schritte nach hinten trat und die Hände erhob. Langsam begannen wir, uns zu umkreisen.

"Fokussiere dich nicht auf Äußeres", wiederholte Aurica, während ihr Blick mich durchbohrte. "Konzentriere dich auf den Fluss der Magie. Wenn dein Gegner –"

Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn in diesem Moment startete ich den Angriff. Rasend strömte die Magie durch meinen Körper, bis er vibrierte und ich an der Grenze dessen war, was ich kontrollieren konnte. Abwechselnd riss ich meine Handflächen in die Luft und setzte Aurica so einem Kugelhagel aus, den sie zwar abwehren, jedoch nicht entgegnen konnte. Es kostete mich alle meine Kraft, den Rausch der Magie zu bändigen und schon nach kurzer Zeit war ich so atemlos, dass ich die Hände sinken ließ. Diesen Moment nutzte Aurica, um ihrerseits in die Offensive zu gehen. Ein Wall aus Flammen schoss vor mir in die Höhe und hatte mich zu schnell umzingelt, als dass ich hätte fliehen können. Hitze trieb mir Tränen in die Augen und verwandelte die Luft in ein flammendes Inferno. Mit letzter Kraft flüsterte ich meinen Befehl an den Wind.

Zuerst war die Veränderung kaum spürbar. Einzig die Magie, die zwischen mir und dem Feuerwall flirrte, ließ mich wissen, dass der Wind meine Worte verstanden hatte. Schneller und schneller strömte die Magie durch mich hindurch, bis ich kaum noch stehen konnte. Eine kalte Böe erfasste mich und trieb mir die Gänsehaut über den Rücken. Nach und nach wurde die Luft dünner. Keuchend kauerte ich mich ins Gras und hielt den Atem an.

Augenblicke später waren die Flammen endlich erloschen.

"Hey." Empört trat Aurica zu mir. "Das war gegen die Regeln."

"Tut mir leid." Ich rappelte mich auf.

"Immerhin scheint Amrian dir ja ein paar nützliche Tricks beizubringen." Aurica schmunzelte. "Den Sauerstoff aus der Umgebungsluft zu separieren und so das Feuer zu ersticken? Nicht schlecht."

Ich brachte ein schmales Lächeln zustande. "Danke."

Es war selbst nach den zwei Wochen, die wir nun hier waren, ungewohnt, Komplimente von der sonst so unerbittlichen Hexenmeisterin zu erhalten. Aurica war als Hexe des Feuers eine der jüngsten Meisterinnen des Zirkels und es war nicht besonders schwer zu erraten, dass ihr Ehrgeiz und ihre Disziplin für diese Stellung verantwortlich waren. Während der ersten Unterrichtsstunden hatte ich das Gelände nicht selten mit Brandblasen und angesengten Haarspitzen verlassen, doch Aufgeben war nicht länger eine Option. Der Gedanke an Morrigan und alles, was auf dem Spiel stand, wog zu schwer.

Während ich einen Schluck aus dem Trinkschlauch nahm, begutachtete Aurica die Brandlöcher in den feuchten Stoffbahnen, die den Trainingsplatz umspannten. Die Lichtung war weit genug vom Dorf entfernt, doch die Gefahr, einen der tief hängenden Äste der umstehenden Bäume zu erwischen und versehentlich einen Waldbrand auszulösen, war Bedrohung genug, um den knapp zwei Meter hohen Schutz aus Stoff zu errichten. Eine Bewegung in meinem Augenwinkel ließ mich den Kopf heben. Ein Vogel schwang sich aus den Wipfeln der Bäume und glitt sanft über die Lichtung, bevor er zwischen den Stämmen verschwand. Über uns färbte sich der Himmel bereits rosa. Ein Blick auf die Taschenuhr, die Raymond mir kurz nach meiner Ankunft in Ciaora geschenkt hatte, bestätigte meine Vermutung.

"Ich muss los", rief ich Aurica über die Lichtung hinweg zu, während ich meinen Umhang überwarf und nach dem Trinkschlauch griff. Meine Mentorin Sidony erwartete mich bereits in einer Viertelstunde am anderen Ende des Dorfes und das Grummeln meines Magens erinnerte mich einmal mehr daran, dass ich in der Zwischenzeit noch irgendwo etwas Essbares auftreiben sollte. Ich war schon halb zwischen den Stoffbahnen verschwunden, als Aurica mir zunickte.

"Wir sehen uns morgen."

Ich hatte die Tür der Hütte gerade hinter mir zugezogen, als ich den lilafarbenen Nebel bemerkte. Kaum eine Handbreit entfernt von meinen Fußspitzen türmten sich die Schwaden übereinander. Abrupt hielt ich inne.

"Wallace?"

Auf meine Nachfrage tauchte zuerst der Kopf und nur Augenblicke später der Körper des Frosches aus dem Nebel.

"Mylady." Er deutete eine Verbeugung an, bevor er den Kopf hob und ein zufriedenes Grinsen zur Schau stellte. "Wie ich sehe, habt Ihr meinen Rat beherzigt."

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wovon er sprach.

"Haben die Hexen Euch gut aufgenommen?"

"Sie haben uns schon erwartet." Ich erinnerte mich genau daran, wie wir zwei Wochen zuvor ausgehungert und am Ende unserer Kräfte ins Dorf gestolpert waren. Zwei der Hexen hatten uns bereits im Wald abgepasst und uns ohne auch nur eine Frage zu stellen zu Gladys, der Vorsteherin des Zirkels geführt. Nur zwei Tage später hatten Conan und ich mit dem Training begonnen. "Calideya – die Hexe der Wahrheit – hatte eine Vision, die unsere Ankunft und die Kräfte offenbarte."

Wallace nickte, bevor er mich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen musterte. "Wenn ich raten müsste, würde ich behaupten, Ihr steht nicht aus Spaß vor dieser Tür?"

Seiner Geste folgend drehte ich mich um, nur um mir darüber klarzuwerden, warum ich die Hütte eigentlich verlassen hatte.

"Verdammt", murmelte ich, während ich einen Blick auf meine Taschenuhr warf. Es war bereits viertel nach sechs – mein Unterricht bei Sidony startete in diesem Moment. Eilig stopfte ich die Uhr zurück in die kleine Tasche, die an meiner Hüfte befestigt war, bevor ich mich wieder an Wallace wandte.

"Ich muss weiter zum Training", erklärte ich, während ich in einen Laufschritt verfiel. "Weshalb seid Ihr hier? Ist bei den Rebellen alles in Ordnung?"

Es dauerte kaum zwei Sekunden, bis Wallace sich wie gewohnt auf meiner Schulter materialisierte.

"Den Rebellen geht es bestens", entgegnete er dann. "Wusstet Ihr, dass sie vor ein paar Tagen das Schloss eingenommen haben? Wenn sie sich geschickt anstellen, könnte ihnen schon bald die Führung des Landes unterliegen."

"Was ist mit Morrigan?" Nachdem wir fast zwei Wochen von der Außenwelt abgeschnitten gewesen waren, erfüllten Wallace' Worte mich nun mit nervöser Erwartung. Wir waren zwar sichergegangen, dass der Späher der Königin uns nicht bis zum Dorf gefolgt war, doch ich vertraute nicht darauf, dass das genügte. Um ehrlich zu sein, hatte ich jeden einzelnen Tag der letzten beiden Wochen damit gerechnet, dass Morrigans Männer das Dorf überrannten.

"Die Königin ist untergetaucht", nahm Wallace mir nun die Bedenken. "Doch ich würde nicht damit rechnen, dass sie lange verschwunden bleibt. Ihr solltet vorbereitet sein."

Ich zögerte. Ein weiteres Mal stahlen sich die Szenen aus dem Schlosshof in meine Gedanken. Die Schreie der Sterbenden und das Blut, das das Pflaster in einen glatten, purpurfarbenen Teppich kleidete. Noch immer wachte ich nachts schweißgebadet auf – das letzte Bild eines, in dem Ethan den Dolch in meine Brust stieß.

Schon seit einigen Tagen waren die Bilder und die immerwährende Schuld jedoch nicht mehr das Einzige, das mich verfolgte. Ich hatte es bisher noch niemandem anvertraut, doch je öfter ich die Geschehnisse jener Nacht durchging, desto klarer stand mir ein Schluss vor Augen.

"Morrigan kann Magie wirken." Es ausgesprochen zu wissen, nahm nichts von der Angst, die sich zu einem Knoten in meinem Inneren ballte. "Es waren keine Katapulte oder Feuerpfeile im Einsatz. Der Feuerball im Schlosshof – das war Morrigan, nicht wahr? Sie ist eine Hexe."

Wallace antwortete nicht sofort. Schwere Stille senkte sich über uns und nur das Knacken der Zweige unter meinen Sohlen war noch zu hören. Ich hatte die Abkürzung durch den Wald gewählt – ein von Brombeerranken überwucherter Pfad, den ich nur in Notfällen wie heute benutzte.

"Ihr solltet mit der Hexe des Lichts sprechen", sagte Wallace schließlich. "Zu wissen, wofür man kämpft, ist nutzlos, solange man seinen Gegner nicht kennt."

"Was meint Ihr?" Ich verhedderte mich in einer der Ranken und stolperte fast, aber Wallace' Worte forderten meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Einmal mehr wünschte ich, mein Trainingsplan würde eine längere Pause zulassen, doch mit einer wütenden Königin im Nacken konnte ich es mir nicht leisten, zu trödeln. Ich beherrschte meine Magie noch nicht ansatzweise gut genug, um Morrigan gegenüberzutreten. "Warum soll ich mit Gladys sprechen? Was hat das alles mit Morrigans Magie zu tun?"

"Das solltet Ihr selbst herausfinden, Mylady." Wallace' Gewicht verschwand von meiner Schulter und ich dachte bereits, er hätte mich ein weiteres Mal ohne Antwort stehengelassen, als er auf einem tiefhängenden Ast direkt vor meinem Gesicht wieder auftauchte. Ich hielt so abrupt inne, dass ich einen Schritt zurücktaumelte.

"Vielleicht hilft Euch ja auch die Nachricht, wegen der ich eigentlich gekommen bin. Streckt Eure Hand aus."

Ich zögerte nicht. Was immer er mir übergeben wollte, war wichtig genug, dass er sich nach mehr als zwei Wochen Funkstille wieder zeigte – also musste ich es haben. Nebel umhüllte meine Hand und kurz darauf spürte ich eine leichte Berührung – Papier. Ich wartete nicht, bis der Nebel zerstoben war, sondern hob den Brief so nah an meine Augen, bis ich im Zwielicht der Dämmerung etwas erkennen konnte. Mein Name prangte in säuberlicher Schrift auf dem Umschlag, doch so oft ich ihn auch zwischen den Fingern drehte, ich fand keinen Hinweis darauf, woher er stammte.

"Wer hat –"

Ich unterbrach mich selbst, als mein Blick den Frosch fand. Nebelschwaden zogen sich um ihn zusammen und dieses Mal war ich sicher, dass sie ihn endgültig verschlucken würden.

"Nur eines noch, Mylady." Er erhob einen seiner langen Froschfinger. "Nur, weil ich Euch diesen Gefallen getan habe, heißt das nicht, dass ich mich in Zukunft zu Eurem Postboten degradieren lassen werde."

Nebel verschluckte seinen Körper. "Und was diesen Brief betrifft – ich schlage vor, Ihr lest ihn nach Eurer nächsten Lektion. Eure Mentorin wird nicht gerade erfreut sein, wenn Ihr sie noch länger warten lasst."

Mit diesen Worten verhüllten die violetten Schwaden auch Wallace' Züge. Kaum einen Wimpernschlag später war er verschwunden – einige winzige violette Wölkchen der einzige Hinweis darauf, dass er jemals hier gewesen war.

Erneut betrachtete ich den Brief zwischen meinen Fingern, doch Wallace' Worte siegten. Eilig schob ich das Papier in meine Hüfttasche, bevor ich loslief. Sidony würde mich in der Luft zerfetzen, wenn ich noch später kam.

"Du bist zu spät." Meine Mentorin bedachte mich mit einem strengen Blick, kaum, dass ich die Hütte betreten hatte. "Ist alles in Ordnung?"

"Alles bestens." Ich schloss die Tür hinter mir und trat einen Schritt in den Raum. Sidonys Hütte ähnelte eher einem Fuchsbau als einer menschlichen Behausung. Bündel getrockneter Kräuter verwandelten die Luft in ein Sammelsurium schwerer Düfte. An den Wänden hatte sie unzählige Regale angebracht, auf denen sich konservierte Frösche, Insekten oder Früchte in Einmachgläsern tummelten, während jeder kleinste Flecken des restlichen Raumes mit Utensilien übersät war, die sie für ihr Handwerk benötigte. Das einzige Fenster, durch das etwas Tageslicht in die Hütte drang, sah aus, als hätte es schon unter einigen von Sidonys Tränken und Elixieren gelitten. Es bestand aus unzähligen Glasscherben in allen erdenklichen Größen und Farben, die als Kreis angeordnet in die Wand eingelassen waren.

Als mein Blick zu Sidony zurückkehrte, musterte sie mich noch immer. "Du hast Zweige im Haar und deine Gedanken sind ebenso wirr wie deine Frisur. Ist wirklich alles in Ordnung?"

Ich schnappte nach Luft. "Du liest meine Gedanken?"

Telepathie war eine der Fähigkeiten, die jede Hexe in der Grundausbildung lernte, die in ihrer Anwendung jedoch verboten war. Zumindest außerhalb des Trainings und ohne Erlaubnis. Allein, dass Sidony versucht hatte, in meine Gedanken zu dringen, ließ Furcht in mir aufsteigen. Hatte sie etwas über Wallace aufgeschnappt? Womöglich wusste sie sogar von dem Brief?

"Beruhige dich. Ich habe keinen Schimmer, was du denkst", entgegnete Sidony in diesem Moment. "Aber ich muss deine Gedanken nicht lesen, um zu sehen, dass dich etwas beschäftigt. Also, was ist es?"

"Es ..." Ich zögerte. "Nichts weiter. Ich ... habe die Zeit vergessen."

Sidony hob eine Braue und ich wusste, dass sie mir diese mehr als lahme Ausrede nicht abnahm. Doch irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, ihr die Wahrheit zu sagen. Nicht, solange ich nicht wusste, was in diesem Brief stand.

Entschieden straffte ich die Schultern und setzte das beste Lächeln auf, das ich zustande brachte. "Also, was steht heute auf dem Plan?"

Sidony wandte sich ab und trat an den schweren Holztisch, der im hinteren Teil des Raumes stand.

"Ich habe einen Entschluss gefasst", verkündete sie von dort aus. "Es wird Zeit, dass du eigene Elixiere herstellst. So bekommst du eine tiefere Verbindung zu den Stoffen und kannst die Magie in ihnen fühlen."

"Aber –" Zögernd folgte ich ihr. "Elixiere allein herzustellen ist Novizen des dritten Jahres vorbehalten."

"Du darfst nicht vergessen, dass es dir schon einmal gelungen ist." In Sidonys haselnussbraunen Augen lag Ermutigung. "Warum also keinen zweiten Versuch wagen?"

Ich zögerte. "Um welchen Trank geht es?"

"Lies selbst." Mit einer Handbewegung hatte sie mir einen ihrer Wälzer zugeschoben. "Ich habe ein Gefühl, dass du dieses Elixier noch gebrauchen kannst."

Angespannt überflog ich das Rezept, während meine Gedanken noch immer um Wallace' Neuigkeiten kreisten. Obwohl Morrigan verschwunden war und die Rebellen eine ernsthafte Chance hatten, Ciaora zu übernehmen, konnte ich die Furcht nicht abschütteln. Die Ungewissheit über einen weiteren Angriff kostete mich mehr Nerven als ich mir eingestehen wollte. Und die Tatsache, dass Morrigan Magie wirken konnte, machte es nicht besser.

Die Zutatenliste verschwamm vor meinen Augen, während der Name des Elixiers scharf zwischen den Worten hervortrat. Ich hob den Kopf und sah Sidony an. "Das Elixier der schlimmsten Ängste?"

"Es wird dir Zeit verschaffen, wenn du sie am nötigsten brauchst."

"Es ist gefährlich", erwiderte ich. "In den falschen Händen könnte es ..."

Ich unterbrach mich und schüttelte die dunklen Gedanken ab. Angst würde mir nicht helfen, Morrigan zu besiegen. Das Elixier womöglich schon.

"Bist du sicher, dass ich bereit bin?", fragte ich stattdessen.

Für einen Moment herrschte Stille, doch dann ergriff Sidony meine Hände. Ihre Haut erinnerte mich an Pergament und ihre Handrücken waren von unzähligen Falten überzogen. Wenn Sidony mit mir sprach, vergaß ich oft, wie alt sie war. In ihren Worten lag noch immer die Hoffnung einer jungen Frau, doch ihr Blick erzählte von all den Dingen, die sie gesehen hatte.

"Ob du bereit bist, liegt allein bei dir", sagte sie und sah mich so durchdringend an, dass mir flau im Magen wurde. "Das Training – alles hier – ist deine Entscheidung und nur du kannst bestimmen, wie schnell und wie weit du diesen Weg gehen willst."

Ihre Hände schlossen sich fester um meine und Wärme prickelte meine Arme empor. Sidonys Magie trug das wohlige Gefühl von Kaminfeuer und Kräutern in sich.

"Es ist vernünftig, Angst zu empfinden. Nur, wenn wir wissen, was wir fürchten, können wir beginnen, uns dieser Furcht zu stellen. Und nur, wenn wir uns der Furcht stellen, werden wir wachsen."

Zögernd erwiderte ich ihren Blick. "Was, wenn das alles nicht genug ist? Was, wenn alles, das ich in den letzten Monaten versucht habe, am Ende nicht ausreicht?"

"Es wird ausreichen." Sidonys Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. "Du darfst nur nicht aufhören, daran zu glauben. Hoffnung ..."

"... ist die stärkste Waffe im Krieg gegen die Dunkelheit", beendete ich das Sprichwort des Zirkels. "Ich weiß."

Ich atmete tief und straffte die Schultern. Auch, wenn es schwerfiel, an ein Happy End zu glauben, war Hoffnung das Einzige, das mir blieb. Hoffnung und der Wille, sie irgendwann in Realität zu verwandeln.

Als hätte Sidony meine Gedanken gelesen, drückte sie mir in diesem Moment ein weiteres Buch in die Hand.

"Am besten beginnst du mit der Triskele. Seite zweihundertfünfzig. Ich suche inzwischen die restlichen Zutaten zusammen."

Einen Moment lang beobachtete ich Sidony dabei, wie sie zwischen den Regalen herumwirbelte, bevor ich mich dem Buch zuwandte, das in meinen Armen schwer wurde. Mit einer Handbewegung legte ich es auf dem Tisch ab und begann zu blättern. Die Seite, die Sidony genannt hatte, zeigte die Zeichnung dreier Spiralen, die sich im Uhrzeigersinn wanden und in der Mitte zu einer Art Dreieck zusammenwuchsen. Laut dem nebenstehenden Text handelte es sich um ein Symbol der Unendlichkeit. Es stand für die Einheit von Leben, Tod und Geburt beziehungsweise für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

"Bei Tränken und Elixieren garantiert die Verwendung dieses Symbols eine lange Haltbarkeit", hörte ich Sidony rezitieren. "In bestimmten Fällen wird außerdem die katalysierende Wirkung genutzt."

Unwillkürlich schmunzelte ich. Sie würde es auch nie lassen können, sich einzumischen.

Ich angelte das Säckchen mit Salz von der anderen Ecke des Tisches und machte mich daran, die Zeichnung der Triskele aus dem Buch so exakt wie nur möglich auf den dunklen Holzboden in Sidonys Hütte zu übertragen. Gerade, als ich die letzte Spirale gezogen hatte und zufrieden mein Werk betrachtete, trat Sidony zu mir.

"Wunderbar", murmelte sie, den Arm voller Einmachgläser. "Dann können wir ja richtig loslegen."

Ich verzog die Lippen, doch Sidony ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen arrangierte sie die Gläser auf dem Tisch, bevor sie mir einen dunklen Samtbeutel zuwarf.

"Was ist das?", fragte ich, während ich die grün schimmernden Kristalle in meine Hand schüttete.

Sidony, die mir gerade den Rücken zuwandte und einen weiteren Wälzer heranzog, ließ sich von meiner Frage nicht im Geringsten stören.

"Fluorit", antwortete sie, ohne sich umzudrehen. "Der Stein der Konzentration. Er wird das Ritual katalysieren und dafür sorgen, dass das Elixier so wirkungsvoll wie möglich ist."

Vorsichtig berührte ich die Steine auf meiner Handfläche. Ober- und Unterseite waren glattgeschliffen, doch an den Rändern konnte man noch immer das Gestein erkennen, in dem das Mineral ursprünglich gewachsen war.

Nach und nach verteilte ich die Steine auf die Enden der Triskelspiralen. Ich kam gar nicht erst dazu, mich wieder aufzurichten, denn in diesem Moment trat Sidony zu mir.

"Hier." Sie reichte mir eine breite Kerze. "Die gehört in die Mitte der Triskele. Sie muss eine Stunde lang brennen, um den Raum vollends zu reinigen."

"Was ist das für ein Geruch?" Forschend zog ich die Brauen zusammen und hob die Kerze näher an mein Gesicht. "Rosmarin?"

"Weihrauch", entgegnete Sidony, ohne den Blick von den Konserven zu wenden. Ich nickte und ging zwischen den Linien aus Salz auf die Knie. Vorsichtig platzierte ich die Kerze im Herzen der Triskele und fokussierte den Docht. Es erforderte kaum ein Fingerschnippen, um das Feuer erwachen zu lassen.

In diesem Moment gab Sidony ein Seufzen von sich. Als ich mich umdrehte, schüttelte sie den Kopf.

"Was ist?"

"Die Tollkirschen." Sidony streckte mir ein Konservenglas entgegen. Es war leer, bis auf eine einsame dunkle Kugel, die über den Boden rollte. "Ich habe völlig vergessen, neue einzulegen."

"Das Rezept basiert auf dem Extrakt." Ich durchquerte den Raum und blätterte durch die Seiten des Rezeptbuches, ohne zu finden, wonach ich suchte. "Wie es aussieht, gibt es keine Alternativen."

"Belladonnaextrakt ist eines der wirksamsten Gifte. Es zu ersetzen würde unberechenbare Nebenwirkungen mit sich bringen."

"Dann werde ich besser losgehen und Nachschub besorgen." Ich erinnerte mich an die Lichtung, die Sidony mir während der ersten Tage hier gezeigt hatte. Kurzentschlossen griff ich nach dem groben Leinensack, in dem sich Messer und eine Schnur zum Bündeln befanden. "Bin im Handumdrehen wieder da."

Meine Schritte raschelten im Laub, als ich mich von Sidonys Hütte entfernte. Fast unmerklich war der Sommer dem Herbst gewichen. Der Wald, der das kleine Dorf umgrenzte, war von ersten Gold- und Rottönen gesprenkelt und ein frischer Wind wirbelte die herabgefallenen Blätter in bunten Reigen über den moosigen Boden. Tief atmete ich die frische Luft, bevor ich dem schmalen Pfad ins Unterholz folgte. Mit einer Hand nestelte ich an meinem Mieder und zog den Brief hervor. Nachdem ich mich ein weiteres Mal versichert hatte, dass mir niemand gefolgt war, setzte ich den Sack ab und hob den Brief ins Licht. Das Papier war dünn, doch ein schweres Wachssiegel prangte auf der Vorderseite. Das Wappen war kaum erkennbar und ich hoffte, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag.

Mit klopfendem Herzen brach ich das Siegel und entfaltete die Nachricht. Worte quollen in krakeliger Handschrift über das Papier und ich überflog die Absätze, bis ich das Ende erreicht hatte. Erst, als ich den Namen erblickte, atmete ich auf. Das flaue Gefühl in meiner Magengegend verschwand so schnell wie es gekommen war und ließ nichts als das freudige Kribbeln der Aufregung zurück. Der Brief stammte von Susan.

Evangeline,

In der Hoffnung, der Frosch hat nicht gelogen und meine Worte erreichen dich tatsächlich, schreibe ich dir diese Zeilen.

Dein Brief hat uns alle in Hochstimmung versetzt. Wir sind so froh, dass es dir und Conan gut geht und ihr in Sicherheit seid. Auch wir haben gute Nachrichten. Morrigans Männer haben sich aus Lasket und Gantyre zurückgezogen und wir haben nun die Oberhand über den Westen des Landes. Überall entstehen Bürgerwehren und die Bauern lehnen sich gegen die Fürsten auf. Raymond hat mich zu seiner Beraterin berufen und gemeinsam mit Ruby arbeiten wir an einer Strategie, mit der wir den Osten und Süden des Landes ebenfalls für uns gewinnen können. Die aufflammenden Proteste sind unsere Chance.

Nach tagelangem Kampf haben wir gestern außerdem einen Sieg auf dem Schloss feiern können. Morrigan ist mit den letzten verbliebenen Soldaten geflohen und untergetaucht. Unsere Spione gehen bereits den Spuren nach, doch vorerst scheint es, als würde sie uns das Feld überlassen. Wir sollten dennoch vorsichtig bleiben.

Noch heute Nacht haben wir die Gefangenen, die zu Unrecht eingesperrt waren, freigelassen. Wir haben Richard in der Zelle gefunden, die du beschrieben hast. Allerdings wird es wohl noch einige Tage dauern, seinen Vater ausfindig zu machen. Bis dahin kommt er in Rowans Zimmer im Hauptquartier unter. Die beiden scheinen sich überraschend gut zu verstehen.

Ich hoffe, dir und Conan geht es gut. Auch, wenn mir das Leben am Schloss nicht im Geringsten fehlt, vermisse ich unsere Gespräche. Aber mit etwas Glück hat das Versteckspiel bald ein Ende und Ciaora wird frei sein. Ich verdanke dir und den Rebellen mehr, als ich in Worte zu fassen vermag.

Raymond und Ruby senden ihre Grüße. Wir alle glauben an dich.

In ewiger Freundschaft, Susan

Noch einen Moment starrte ich auf den Brief in meiner Hand, während die Worte in meinen Gedanken widerhallten. Ein breites Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Susan hatte offenbar nicht nur mich sondern auch Raymond von ihren Fähigkeiten überzeugt. Ihre Worte ließen mich hoffen – auf ein Ende und einen Anfang. Auf eine Zukunft ohne Furcht. Langsam faltete ich das Papier und steckte es zurück in mein Mieder, bevor ich den Sack erneut aufnahm und mich in Bewegung setzte.

Immer tiefer folgte ich dem Pfad in den Wald. Hohe Bäume umschlossen mich von allen Seiten und außer dem Geräusch meiner Schritte im trockenen Laub herrschte Stille. Goldenes Sonnenlicht brach durch die Wolken und tauchte die Welt um mich herum in einen warmen Schimmer. Mit jedem Atemzug nahm ich den Duft nach Moos und Pilzen wahr und genoss das Gefühl der Luft, die über meine Arme strich. Vielleicht hatte Susan ja Recht und das alles hier hatte bald ein Ende.

Das Knacken eines brechenden Astes riss mich abrupt zurück in die Wirklichkeit. Sofort hatte ich das Bild eines Soldaten vor Augen. Morrigans rotes Wappen als Emblem auf die Brust der Uniform genäht und das Schwert fest in den Händen. Hatten sie uns gefunden?

Mit angehaltenem Atem spähte ich in den Wald.

"Wer ist da?", hörte ich mich sagen, während mein Blick die Stämme entlangglitt.

Ein erneutes Knacken ließ mich herumfahren. Ich brauchte keine drei Sekunden, um die Gestalt auszumachen, die aus dem Unterholz trat.

"Ethan?" Meine Stimme glich einem erleichterten Aufkeuchen. "Himmel, habt Ihr mich erschreckt. Was macht Ihr hier draußen?"

"Wonach sieht es denn aus?" Der Prinz presste die Kiefer aufeinander. Wie angewurzelt stand er zwischen den Stämmen, einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter und den dazugehörigen Bogen in der Hand. Seit unserer Ankunft in Cathair Dearmad hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Wenn ich abends nach dem Training in die Hütte zurückkehrte, die er, Conan und ich uns teilten, war von ihm nie eine Spur zu sehen und wenn ich am nächsten Morgen vor dem ersten Sonnenstrahl an Conans Seite zum Training aufbrach, war er oft bereits wieder verschwunden. Der einzige Hinweis darauf, dass er die Hütte überhaupt betrat, waren die trockenen Blätter, die am nächsten Morgen den harten Lehmboden zierten wie ein bunter Herbststrauß. Nicht selten fragte ich mich, was er all die Stunden in den Wäldern trieb – und ich konnte die Vorstellungen nicht abschütteln, die sich wie wilde Bestien auf das Misstrauen in meinem Herzen stürzten. Traf er sich womöglich mit einem Spion seiner Mutter? Beobachtete er selbst uns aus den Schatten?

"Müsst Ihr nicht irgendwohin?", fragte er in diesem Moment und deutete auf den Leinensack, der noch immer über meiner Schulter hing. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich bereits weg war.

"Ich muss tatsächlich gehen", gab ich zu. "Und Ihr ... erschreckt weiterhin Mädchen im Wald."

Er verzog die Lippen und ich wusste, dass mein Versuch, einen Scherz zu machen, auf Granit getroffen war.

"Man nennt es Jagen", zischte er und wandte sich ab. Bevor ich etwas hätte entgegnen können, hatte er sich wieder ins Unterholz geschlagen.

"Heißt es auch Jagen, wenn man nichts fängt?", murmelte ich in die Stille, als er bereits verschwunden war.

Die Sonne war bereits hinter den höchsten Wipfeln der Bäume verschwunden und der amethystfarbene Schimmer der Dämmerung senkte sich über das Dorf, als ich Calideyas Hütte verließ. Die Lektionen in Telepathie waren immer die letzten auf meiner Tagesordnung – und der Teil des Trainings, für den ich am wenigsten natürliches Talent zeigte. Es kostete mich eine ganze Menge Konzentration, bei Übungen in Calideyas Gedanken zu dringen – selbst, wenn diese sie nicht verbarg. Noch schlimmer wurde es, wenn ich selbst meine Gedanken vor ihr verbergen sollte. Ich versuchte es nun schon seit zwei Wochen und noch immer schien Calideya ohne Mühe alles lesen zu können, was ich dachte. Als wäre ich ein offenes Buch.

Ich seufzte und ignorierte das Ziehen in meiner Magengegend, das mich daran erinnerte, wie lang meine letzte Mahlzeit zurücklag. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Bis zu unserer Hütte war es nicht besonders weit und ich hatte bereits eine Hand um den Türknauf gelegt, als die Tür von innen aufschwang. Vor Schreck stolperte ich einen Schritt zurück.

"Wer... oh." Conans Miene erhellte sich, als er mich erkannte. "Ich wollte gerade nach dir suchen."

"Scheint, als hättest du mich gefunden." Auch auf meine Lippen stahl sich ein Grinsen, während ich an ihm vorbei in die Hütte trat. "Ich bin am Verhungern. Du hast hoffentlich noch etwas von dem Brot übriggelassen."

In einem vertrauten Ablauf zündete ich zuerst die Öllampe in der Mitte des Raumes an, bevor ich aus dem hüfthohen Schrank neben der Tür Teller und Messer holte und dann auf der schmalen Arbeitsplatte begann, ein Abendessen anzurichten.

"Weshalb hast du nach mir gesucht?", fragte ich, ohne den Blick zu heben. "Ist irgendetwas passiert?"

"Du hast es vergessen." Conans Tonfall war eine Mischung aus Vorwurf und Enttäuschung. "Das Ritual wird heute stattfinden. Du weißt schon – zum Schutz des Zirkels. Ich dachte, wir sehen es uns an?"

Siedend heiß erinnerte ich mich. Die Hexen hatten bereits kurz nach unserer Ankunft beschlossen, den Schutzschild zu erneuern, um es Morrigans Männern unmöglich zu machen, uns aufzuspüren. Sidony hatte erwähnt, dass die Vorbereitungen einige Tage dauern würden, doch ich hatte nicht damit gerechnet ...

"Wenn du müde bist und dich lieber ausruhen willst ...", setzte Conan in diesem Moment bereits an. "Wir können sicher auch ein anderes Mal zusehen."

"Nein." Eilig fuhr ich herum. "Wir werden uns dieses Ritual auf jeden Fall ansehen. Lass mich nur kurz ..."

Erneut wandte ich mich der Arbeitsplatte zu und schnappte mir das Brot, das ich soeben mit Käse belegt hatte. Dann griff ich mir den Umhang von der Lehne des Stuhls, auf die ich ihn vorhin hatte fallen lassen und drehte mich schließlich zurück zu Conan. "Alles erledigt. Wir können gehen."

Ein Lächeln huschte über seine Züge. Ohne zu zögern schnappte er sich seinen Umhang. Nur Augenblicke später waren wir aus der Tür und auf dem Pfad, der in den Wald führte.

"Wie war dein Training?", fragte Conan, während ich den letzten Bissen Brot aß. Ich schluckte.

"Wie immer", antwortete ich dann. "Calideya knackt mich wie eine Walnuss und Cybele besteht darauf, dass ich sie so bald wie möglich zu ihren Patienten begleite."

"Mich hat sie auch schon gefragt." Er zuckte die Schultern. "Ich schätze, es spricht nichts gegen ein paar echte Fälle, um die richtige Übung zu bekommen."

"Wahrscheinlich hast du Recht." Ich zog den Umhang enger um meine Schultern. Das letzte Licht des Abends war längst zwischen den Wipfeln der Bäume verglommen und ich bereute es, keine Laterne mitgenommen zu haben. Der kalte Nachtwind kündete bereits vom kommenden Winter und auf dem unebenen Pfad grenzte es an ein Wunder, wenn wir uns in der Dunkelheit nicht alle Knochen brachen.

Ich hatte den Gedanken noch nicht einmal beendet, als Conan neben mir die Hand bewegte. Keinen Augenblick später tanzte auf seiner Handfläche eine Flamme, die den Weg vor uns erhellte. Als ich ihn ansah, zuckte er nur die Schultern. "Besser, als durch die Dunkelheit zu tappen."

Entschlossen stapfte er voran, während das Feuer die Schatten um uns herum tanzen ließ. Perplex folgte ich ihm. "Wie machst du das?"

"Wie mache ich was?" Er hielt inne.

"Du gehst mit diesen Fähigkeiten um, als wären sie das Natürlichste auf der Welt." Ich deutete auf die Flamme. "Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, das Feuer zu rufen."

"Alles eine Sache der Gewohnheit", entgegnete er und ein ermutigendes Lächeln umspielte seine Lippen. "Wenn du die Magie in dein Denken einbeziehst, wird sie früher oder später auch in deinen Handlungen auftauchen."

"Sehr weise." Ich verzog die Lippen. "Von wem hast du denn diesen Spruch geklaut?"

"Wer sagt, dass es nicht meine Worte sind?"

Ich hob eine Braue und Conan seufzte. "Calideya, wenn du es unbedingt wissen musst. Aber sie hat Recht. Die Magie muss zuerst hier drin sein ..." Er tippte sich an die Stirn. "... bevor sie hier erscheinen kann." Er nickte in Richtung der Flamme auf seiner Handfläche.

Für einen Moment starrte ich mitten in das tanzende Feuer, während Conans – oder Calideyas – Worte in mein Bewusstsein sanken. Hatte er Recht? Dank des Trainings konnte ich zwar die meisten Zauber auf dem Level eines Novizen des dritten Jahres wirken, doch ich wusste selbst, dass das nicht genug sein würde. Egal, wie hart ich trainierte und wie große Fortschritte ich machte – am Ende zählte allein, dass ich die Magie einsetzte, wenn der Zeitpunkt kam. Und ich konnte nicht behaupten, dass ich das bisher außerhalb des Trainings getan hatte. Bedeutete das also, dass all die Stunden auf den Übungsplätzen nur ein Bruchteil dessen waren, was es brauchte, um die Magie wirklich zu einem Teil von mir zu machen? Und war ich bereit, so viel zu geben, für einen Kampf, der nahezu aussichtslos schien?

Zum ersten Mal seit Stunden dachte ich wieder an heute Morgen.

"Ich habe bei Sidony begonnen, ein eigenes Elixier herzustellen", eröffnete ich, während ich den Blick entschlossen auf den Weg vor mir richtete. Ich wusste, dass es Conan anders als mir nicht so leichtfiel, sich die verschiedenen Zutaten und Tränke zu merken – Sidonys Lektionen waren für ihn, was Calideyas Lektionen für mich waren.

"Ehrlich?", fragte er nun und musterte mich überrascht. "Das ist großartig. Welches Elixier wird es denn?"

Ich zögerte, aber es war sinnlos, jetzt noch auszuweichen. "Das Elixier der schlimmsten Ängste."

Conans Augen weiteten sich, als er den Namen zuordnete. "Ein psychedelisches Mittel? Ich dachte, nur Meister des Handwerks hätten die Erlaubnis, diese Art Elixier herzustellen."

"Ich schätze, ich bin eine Ausnahme." Meine Stimme klang alles andere als begeistert und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob das, was wir hier taten, wirklich das Richtige war. "Ich habe nicht vor, das Elixier jemals einzusetzen, aber Sidony wollte, dass wir auf alles vorbereitet sind. Falls ..."

Ich musste den Satz nicht beenden.

"Verstehe." Aus Conans Miene sprach Sorge und ich wusste, dass ihn dieselben Erinnerungen einholten, die mich heute Morgen heimgesucht hatten. Die Szenen im Schlosshof waren etwas, das mich wohl bis an mein Lebensende verfolgen würde. Die Frage, ob ich nicht etwas hätte tun sollen – tun können, hallte in meinen Alpträumen wider und mehr als einmal wünschte ich, ich hätte zumindest versucht, zu kämpfen. Hätte mich nicht einfach von Ethan aufsammeln lassen wie ein Spielzeug und wäre nicht einfach mit ihm davongeritten. Ich wünschte, ich hätte die Rebellen nicht im Stich gelassen. Ich wünschte ...

Mit einem dumpfen Stöhnen stolperte ich in Conan. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er stehen geblieben war. Erst jetzt fiel mir auf, dass unsere Umgebung sich verändert hatte. Der Waldrand lag hinter uns und wir standen auf einem Felsvorsprung. Gras überwucherte das kleine Plateau und dahinter fiel der Grund steil in einen dichten Wald ab. Die Wipfel der höchsten Bäume reichten kaum bis an die Felskante.

"Da wären wir." In einer fließenden Bewegung nahm Conan seinen Umhang ab und breitete ihn vor uns auf den Boden. Dann legte er sich flach auf den Bauch und schob sich bis ganz nach vorn an die Kante. Zögernd tat ich es ihm gleich.

"Du wirst es nicht bereuen, mitgekommen zu sein", sagte er und sah mich von der Seite an. "Calideya sagte, das Ritual wäre eines der aufwendigsten und spektakulärsten – abgesehen von den Festen natürlich."

Ich kam nicht dazu, ihn zu fragen, worin der Schuttzauber eigentlich bestand, denn in diesem Moment wandte er sich bereits nach vorn und sein Blick richtete sich auf das Geschehen im Tal. Stumm ließ ich meinen Blick über seine Züge schweifen. Obwohl ich ihm erst zwei Wochen zuvor zum ersten Mal begegnet war, schien es mir immer noch, als kenne ich ihn schon eine Ewigkeit. Manchmal fühlte es sich an, als wären die Träume und die Magie nur ein Bruchteil dessen, was uns verband. Fast, als kannte mein Herz Geheimnisse, die es meinem Verstand nicht offenbaren wollte.

Zögernd rutschte ich noch ein Stück nach vorn, bis ich sehen konnte, was ihn so faszinierte. Direkt unter uns, mitten im Wald, öffnete sich eine weite Lichtung. Der Cloch Ciorcal – der heiligste Ort des Zirkels der Chailltear – breitete sich unter uns aus. Als mein Blick nun über die riesigen, aufgerichteten Steine schweifte, die die Lichtung rahmten und mich an Stonehenge erinnerten, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Wir sollten nicht hier sein. Wir hatten kein Recht, die heiligen Rituale dieses Volkes zu beobachten. Und trotzdem konnte ich meine Augen nicht vom Anblick der Lichtung losreißen.

Die riesige Zeder in der Mitte der Lichtung strahlte im rotgoldenen Licht der Kerzen, als stünde sie in Flammen. Der dicke, gewundene Stamm, der als ein Stück aus dem Boden gewachsen war und sich dann in drei einzelne, ineinander verschlungene Äste geteilt hatte, war beeindruckend. Mit diesem Stamm und der weit ausladenden Krone, die sich über die halbe Lichtung spannte, sah er aus wie ein Artefakt längst vergangener Zeiten. Jetzt verstand ich, warum die Chailltear ihn Crann na Anamacha – Baum der Seelen – nannten.

Der dröhnende Schlag einer Trommel lenkte meine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Von allen Seiten strömten nun Gestalten in weißer Kleidung auf die Lichtung. Die Hexen, begriff ich. Wie Wasser, das zwischen Kieseln hindurchrann, wirbelten sie umeinander und um die Kerzen, bis jede von ihnen eines der Lichter in der Hand hielt. Als die Trommel zum zehnten Mal schlug, hielten die Hexen abrupt inne. Erst jetzt konnte ich erkennen, welches Muster sie gebildet hatten

Im Kreis hatten sich die vier Elementarhexen um die Zeder gestellt. Jede von ihnen hielt eine Kerze in einer Schale, die mich an die Blüte einer weißen Tulpe erinnerte. In der Mitte zwischen ihnen saßen jeweils vier Hexen, die vollkommen synchron die Trommeln schlugen. Mittlerweile waren sie in einen Rhythmus übergegangen, der mich an meinen Herzschlag erinnerte. Direkt unter der Zeder erkannte ich nun auch die zwei wichtigsten Elemente des Rituals: Gladys, die Hexe des Lichts und ihr gegenüber Eoghan, die Hexe der Schatten.

Auf ein stummes Kommando schloss Gladys die Augen. Im selben Moment hoben die anderen Hexen, die einen großen Kreis gebildet hatten, die Kerzen über ihre Häupter. Sie trugen dieselben tulpenförmigen Schalen und ihre Bewegung ließ die Trommeln verstummen. Jede Regung auf der Lichtung erstarrte. Einen Herzschlag, zwei Herzschläge, drei.

Ich wagte nicht, den Blick auch nur eine Sekunde zu heben.

Ein leises Summen ertönte. Tief und dunkel versetzte es die Luft in Schwingungen, während die Lautstärke weiter anschwoll. Ein Ton, derselbe Ton aus zehn, hundert oder doch nur aus einer Kehle, so laut, dass die Stille im Wald zu hallen schien. Dann, nach und nach, lösten sich einzelne Stimmen aus dem machtvollen Strang und flochten dünne, hohe Bänder aus Melodien um das tiefe, dunkle Summen, das die Lichtung erfüllte.

Ich konnte nicht sagen, wie lang es dauerte, doch irgendwann verwandelte sich das Summen in Worte. Worte einer fremden Sprache. Kraftvoll und laut, doch gleichzeitig sanft und leicht erreichten sie mein Ohr und überzogen meinen Körper mit Gänsehaut. Ich kannte diese Sprache. Es war dieselbe Sprache, die ich gesprochen hatte, als ich den Trank für Conan hergestellt hatte.

Mit geweiteten Augen betrachtete ich die Hexen auf der Lichtung. Die singenden Frauen bewegten sich. Wie in Trance breiteten sie die Arme aus und begannen, sich im Takt ihres Gesanges zu drehen. Zuerst nur langsam, als koste sie diese Bewegung unendliche Anstrengungen, aber nach und nach immer schneller, bis ihr offenes Haar flog und der Schein ihrer Kerzen in der Dunkelheit verwischte.

Ich zitterte, als ein eisiger Windstoß über meinen Körper fegte, doch ich konnte meinen Blick nicht von den Geschehnissen auf der Lichtung losreißen. Es war angsteinflößend und dennoch faszinierend. Erst jetzt bemerkte ich, dass Gladys und Eoghan ebenfalls sangen. Beide hatten die Gesichter gen Himmel gewandt und die Arme von sich gestreckt, als würden sie die Götter selbst mit ihren Worten erreichen. Ein weiteres Mal fragte ich mich, was hinter diesem Ritual steckte. Dieser Ort, an dem die Hexen ihren Zauber woben, schien von einer unsichtbaren Macht umgeben, einer Kraft, die größer war als ich es mir vorstellen konnte. Dieser Ort war besonders. Er war heilig. Und ich verstand, auch ohne eine Erklärung, dass die hier abgehaltenen Rituale ein wenig von der Macht dieses Ortes in sich trugen.

Bewegungslos verharrte ich auf dem Felsvorsprung, während der Gesang seinen Höhepunkt erreichte und Gladys und Eoghan ihre Hände zum Himmel erhoben. Was dann geschah, war so schnell vorüber, dass ich erst im Nachhinein verstand, was ich gesehen hatte.

Ein Blitz schoss direkt aus dem Himmel hinab auf die Erde und bildete eine Art silbrig schimmernde Kuppel über dem Steinkreis. Im nächsten Moment hörte ich die Trommeln und die Kuppel begann, im Takt der Schläge zu pulsieren. Weiße, gestaltlose Wellen breiteten sich kreisförmig durch den Wald aus, als wäre er die spiegelnde Oberfläche eines Sees, in den man einen Stein geworfen hatte.

Es war atemberaubend. Mit geweiteten Augen schaute ich hinab auf die Kuppel über dem Cloch Ciorcal, während ich zu fassen versuchte, was Illusion und was Realität war.

Der Schlag der Trommeln verlangsamte sich unmerklich, bis er schließlich ganz verstummte und die Kuppel wieder ruhig über den Steinen verharrte. Einige Augenblicke schien der gesamte Wald zu erstarren; keine Bewegung, kein Geräusch, nicht einmal ein Windhauch war spürbar.

Dann, in der Zeit eines Blinzelns, erloschen alle Lichter und die Kuppel fiel in Sekundenbruchteilen in sich zusammen. Dunkelheit senkte sich über das Tal wie über eine erloschene Kerze. Nur schemenhaft umriss das Mondlicht die Zeder und den Steinkreis. Die Hexen waren verschwunden.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich noch auf dem Felsvorsprung lag und versuchte, zu begreifen, was ich eben gesehen hatte. Eine Berührung am Arm brachte mich schließlich zurück in die Wirklichkeit.

"Und, habe ich zu viel versprochen?" Conan setzte sich neben mir auf und ich drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können.

"Es war..." Mir fiel kein Wort ein, das dieses Gefühl auch nur ansatzweise erfasst hätte.

"Ich weiß", sagte Conan. "Unbeschreiblich."

Ich nickte. Erneut versank das Gespräch in Schweigen und ich fragte mich, ob die Hexen mittlerweile ins Dorf zurückgekehrt waren. Der Wald lag so unberührt vor uns, als hätte das Ritual nie stattgefunden; nur der vereinzelte Ruf einer Eule oder das Knacken von Ästen im Unterholz durchbrach die Stille.

"Was hatte es mit dieser Kuppel auf sich?" Meine Stimme hallte über den Felsvorsprung. Ruckartig hob Conan den Kopf und an seiner desorientierten Miene erkannte ich, dass ich ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Nur einen Moment später war er wieder er selbst.

"Die Kuppel ist Teil des Schutzzaubers, der den Wald vor Schattenwesen und anderen Eindringlingen bewahrt. Solange die Kuppel existiert, ist es Unwissenden unmöglich, sich in die Nähe des Dorfes zu verirren."

Ich runzelte die Stirn. Etwas an seinen letzten Worten ließ mich innehalten. Schattenwesen. Ich war mir sicher, dass ich das Wort irgendwo schon einmal gehört hatte, doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was ...

"Es sind Wesen, die nicht im Licht dieser Welt geboren wurden", erklärte Conan, ohne mit der Wimper zu zucken. So viel zu seinem Talent für Telepathie. "Schattenwesen können in dieser Welt nur existieren, wenn sie durch Zauber und Beschwörung zum Leben erweckt wurden."

Er unterbrach sich selbst, um meinen Blick aufzufangen. "Tut mir leid, aber ich konnte nicht anders, als deine Gedanken zu lesen."

"Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit", gab ich zurück. Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Lippen zu einem Schmunzeln verzogen. "Zumindest nicht, solange ich mich nicht revanchieren kann."

"Keine Sorge." Ein verschmitztes Funkeln lag in seinem Blick. "Wenn du weiterhin solche Fortschritte machst, können wir bald alle unsere Gespräche in Gedanken führen."

Ich setzte zu einer Erwiderung an, hielt jedoch inne, bevor ich etwas sagen konnte. Ich wusste nicht genau, woran es lag, doch irgendetwas an seinen Worten brachte mich ins Stocken.

"Du hast Angst", stellte Conan nüchtern fest.

"Und du stöberst schon wieder in meinem Kopf herum", entgegnete ich und versuchte mich auf meinen Schutzschild zu fokussieren. Vergeblich.

"Willst du darüber sprechen?" Conans Blick ruhte auf mir und der letzte Rest Konzentration verpuffte. Zwar sträubte sich alles in mir gegen die Richtung, die dieses Gespräch einschlug, doch wenn ich meine Gedanken sowieso nicht vor Conan verbergen konnte, war es sinnlos, zu schweigen.

"Es ist nichts weiter." Ich seufzte und rief mir Sidonys Worte von heute Morgen ins Gedächtnis. Die Angst durch Hoffnung ersetzen – nichts anderes versuchte ich seit dem Moment, als ich in Ciaora gelandet war. Hoffnung, dass nichts so schlimm war, wie es schien. Hoffnung, dass ich irgendwann einen Rückweg finden würde. Hoffnung, dass ich die Erwartungen erfüllen und notfalls die Götter, das Schicksal oder was immer erforderlich war, auf meine Seite ziehen würde. Doch alles, was bisher aus meinen Hoffnungen geworden war, war ein Leben in ständiger Furcht und Fähigkeiten, von denen ich offenbar gerade einen Bruchteil kontrollieren konnte.

"Nicht alles, was im ersten Moment wie ein Fluch scheint, ist es auch auf den zweiten Blick." Ich musste Conan nicht ansehen, um zu wissen, dass er gerade auf seine im Schoß gefalteten Hände starrte. Die Geste war etwas, das er tat, seit wir bei den Hexen angekommen waren. Jedes Mal, wenn die Sprache auf die Bestie oder den Fluch kam, senkte er seinen Blick auf dieselbe Weise und begann, seine Finger ineinander zu verflechten.

"Als ich mich das erste Mal verwandelt habe, dachte ich, mein Leben würde enden." Seine Stimme war leise, doch ich verstand jedes Wort. "Ich war gerade auf dem Rückweg von dem Herrenhaus, in der ich tagsüber gearbeitet habe. Ich hatte schon den ganzen Tag lang ein flaues Gefühl im Magen und je weiter ich lief, desto schlimmer wurde es. Der Weg führte durch ein kleines Waldstück und irgendwann war mir so übel, dass ich mich ins Gebüsch schlug. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich auf einer Lichtung stand, bis ich mich aufrichtete und das grelle Licht des Vollmonds direkt in mein Gesicht schien. Die Schmerzen begannen nur einen Augenblick später. Es fühlte sich an, als würden meine Knochen sich strecken und mein Inneres von innen heraus zerschlitzen – als ob meine Haut plötzlich zu eng für meinen Körper wäre und mein Rückgrat sich unter der Spannung bog. Ich wollte schreien, doch alles, was aus meiner Kehle kam, war ein dunkles Grollen und schließlich ein animalisches Heulen. Spätestens in diesem Moment wusste ich, dass etwas nicht stimmte."

Seine Stimme verhallte und ich hob den Kopf. Zum ersten Mal fanden meine Augen die seinen und in seinem Blick erkannte ich all das Leid, das er seitdem erfahren hatte. Instinktiv streckte ich eine Hand aus, bis meine Fingerspitzen seinen Arm streiften. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, schüttelte er den Kopf.

"Nein." Seine Mundwinkel zuckten. "Das ist nicht das, worauf ich eigentlich hinauswollte."

Wieder unterbrach er sich und strich sich eine rotbraune Locke aus der Stirn. Es war offensichtlich, dass er nach den richtigen Worten suchte.

"Ich bin ein Gestaltwandler", setzte er schließlich an. "Die längste Zeit, seit ich diesen Teil von mir kenne, war ich in der Gestalt eines Monsters gefangen. Und ich hatte Angst. Himmel, du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Angst ich hatte. Die Kontrolle zu verlieren – zuerst über meinen Körper und später über meinen Willen – das war eines der schlimmsten Dinge, die ich je erfahren habe. Aber ich hatte keine Wahl."

Ich zuckte zusammen, als er sich plötzlich nach vorn beugte und mein Kinn mit seinen Fingern anhob. "Ich weiß, dass du nicht gern darüber sprichst, wie es dir wirklich geht. Ich kann es dir nicht einmal vorwerfen – ich habe ja selbst lang genug geschwiegen. Aber ich will, dass du weißt, dass ich es verstehe. Ich weiß, wie es ist, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Ich weiß, wie es ist, Angst zu haben. Und ich würde dich nie dafür verurteilen, wenn du dasselbe empfindest."

Ich versank im tiefen Grün seiner Augen, während seine Worte wie Leuchtfeuer durch meine Seele flackerten. Was Conan durchgemacht hatte, vermochte ich mir nicht einmal ansatzweise auszumalen. Seine Ehrlichkeit traf mich völlig unvorbereitet und ließ mich mit einer Mischung aus Bewunderung, Ehrfurcht und dem Bedürfnis zurück, mein Innerstes vor ihm offenzulegen. Seit Susan hatte ich mit niemandem mehr offen darüber gesprochen, wie ich mich fühlte. Was nützte es schließlich, Schwäche einzugestehen, wenn alles, wofür man kämpfte, am seidenen Faden hing?

"Woher nimmst du die Kraft?" Die Frage war von meinen Lippen geflattert, bevor ich mich dagegen wehren konnte. Conan hatte seine Hand zurückgezogen, doch sein Blick lag noch immer auf mir. Für einen Herzschlag schien die Zeit stillzustehen.

"Rowan", sagte er, als ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. "Sie allein zu lassen – diese Vorstellung jagt mir größere Angst ein als irgendein Fluch es je könnte."

Ich nickte und einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich meine Familie vermisste. Dads schlechte Witze und Moms heiße Schokolade, Ceds Umarmungen und Maggies Lachen. Ich war froh, zu wissen, dass sie nie allein sein würden. Selbst, wenn ich nicht zurückkehrte, hatten sie immer noch einander.

"Das darfst du nicht denken." Conans Flüstern schnitt zwischen meine Gedanken und brachte mich dazu, ihn anzusehen. "Du bist stark, Evangeline, vergiss das nicht. Du hast einen komplizierten Fluch gebrochen und bist der mächtigsten Frau des Landes entwischt. Du wirst einen Weg finden, deine Familie wiederzusehen."

Ich zuckte die Schultern. Conan war nicht der erste, der versuchte, mir Hoffnung zu machen. Die Rebellen, Susan, Sidony und nicht zuletzt Morrigan hatten das Feuer in meinem Herzen geschürt. Sogar ich selbst hatte begonnen, ihre Worte zu glauben. Und hier saß ich – inmitten eines geheimen Hexenzirkels, während um uns herum ein Krieg tobte, den ich begonnen hatte. Ich war nie pessimistisch gewesen, doch nach allem, was das Schicksal uns in den letzten Wochen aufgebürdet hatte, fiel es mir schwer, weiterhin an Happy Ends zu glauben.

"Was ist mit Rowan?", fragte ich und beendete damit das Thema endgültig. "Hast du mit ihr gesprochen, seit ..."

Über Conans Züge huschte Desorientierung, bevor seine Miene sich verhärtete. "Nein."

Es war die Antwort, mit der ich gerechnet hatte und ich musste nicht einmal seine Gedanken lesen, um zu wissen, was hinter seiner plötzlichen Verschlossenheit steckte.

"Sie ist deine Schwester", entgegnete ich. "Sie verdient Antworten, findest du nicht?"

Für eine Weile durchbrachen nur das Rauschen der Blätter und die vereinzelten Rufe einer Eule die Stille.

Schließlich hörte ich ihn ausatmen. "Das Letzte, was Rowan von mir gesehen hat, war meine Verwandlung in die Bestie. Ich habe sie allein gelassen in einer Welt ..."

Er hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. "Ich habe ihr versprochen, dass ich immer für sie da sein würde. Ich habe es geschworen, verstehst du?"

"Ihr beide", sagte ich leise, während ich seine Hände nahm. "Ihr beide seid alles, was ihr habt. Du bist nicht schuld daran, dass der Fluch euch auseinandergerissen hat, aber wenn du zulässt, dass deine Schuldgefühle euch auch in Zukunft trennen, dann liegt das sehr wohl in deiner Verantwortung."

Schmerz trat auf Conans Züge und bevor ich realisierte, wie viel härter als beabsichtigt meine Worte gewesen waren, wandte er sich ab. Das Schweigen, das sich zwischen uns breitmachte, fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen.

"Ich wollte nicht ..." Unsicher rückte ich ein Stück zur Seite. "Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen."

"Nein." Er schüttelte den Kopf. "Du hast ja Recht. Rowan verdient eine Erklärung. Es ist nur ..."

"Ich weiß." Ich musterte ihn von der Seite und ein weiteres Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht die einzige war, der dieser Krieg alles abverlangte. Auf Conans Schultern lastete genügend Verantwortung für ein halbes Leben und in diesem Moment konnte ich sehen, wie sie ihn mit sich in die Tiefe riss.

"Rowan wird dir vergeben", sagte ich leise. "Doch das ist unwichtig, solange du dir nicht selbst vergibst."

Er hob den Kopf und für einen Augenblick sahen wir uns einfach nur an. Ich wusste nicht, ob meine Worte irgendetwas ändern würden, doch ich hoffte, dass sie es taten. Conan verdiente sein Glück so sehr wie kaum jemand anderes, den ich während der letzten Wochen kennengelernt hatte und ich betete, dass er sich nicht selbst im Weg stehen würde.

"Wir sollten zurück ins Dorf gehen", sagte er schließlich und richtete sich auf. "Morgen wird ein anstrengender Tag."

Ich widersprach nicht. Stumm sah ich zu, wie er seinen Umhang aufhob und das Laub, das sich darin verfangen hatte, herausschüttelte. Als er sich nach mir umdrehte, hatte ich die Hand bereits ausgestreckt. Flammen tanzten auf meiner Handfläche und ohne zu zögern ging ich voran.

Vielleicht war Magie wirklich mehr als eine Waffe im Krieg gegen Morrigan. Wenn Conan beginnen konnte, sein Schicksal zu akzeptieren – sollte ich dann nicht zumindest versuchen, die Magie zu einem Teil von mir zu machen?

Die Hexenkönigin

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