Читать книгу Die Hexenkönigin - Anna Rawe - Страница 7

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Kapitel 3

Sie erwachte vom ersten Strahl der aufgehenden Sonne, der durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen in den Raum drang und sich mutig durch die Dunkelheit bis an ihr Bett wagte. Als ahnte sie, dass er dort war und sich gemütlich streckte, bis er sie an der Nase kitzeln konnte, schlug sie die Augen auf und gähnte. Sie war noch nie eine Langschläferin gewesen. Die Welt hinter den Vorhängen war zu groß, um all die Wunder zu verschlafen, die der neue Tag bereithielt.

In Windeseile hatte sie sich aufgesetzt und war in die kleinen Lederschuhe geschlüpft, die vor ihrem Bett standen. Danach legte sie ihr Kleid an – das hübsche sonnengelbe Sonntagskleid mit den kleinen Vögeln darauf. Als sie fertig war, vergewisserte sie sich mit einem Blick, dass alles so war wie immer. Die drei Betten gegenüber von ihrem lagen friedlich in der Dunkelheit. Nichts regte sich. Auch in dem Bett direkt neben ihrem herrschte Stille.

Mit einem zufriedenen Nicken huschte sie aus der Tür. Sie war noch nie wie ihre Geschwister gewesen. Sie war anders. Doch das musste nicht immer schlecht sein. Flink schlich sie durchs Haus, quer über den Gang und hin zu der Tür, hinter der sich die Treppe zum Dachboden verbarg. Sie wusste genau, wie sie sie öffnen musste und welche Stufen sie auf der alten, halb morschen Holztreppe nicht betreten durfte.

In ihrem eigenen, vertrauten Rhythmus legte sie den ganzen Weg auf den Dachboden vollkommen unbemerkt zurück. Ihr kleines Reich erstreckte sich mitten in einem Haufen von altem Gerümpel, zwischen Truhen und Schachteln – einem alten Sekretär, der so klapprig wirkte, dass sie sich jedes Mal fragte, wie lange er noch auf seinen dürren Holzbeinchen stehen würde – und allem anderen, das ihre Familie über Generationen hier oben angesammelt hatte. Genau hier, an diesem Ort, in der Erkernische des Stadthauses hatte sie sich ihr eigenes Reich eingerichtet. Einen Ort, den sie ganz für sich allein hatte, verborgen vor den Augen ihrer Geschwister. Sie war sich sicher, keiner von ihnen würde den Dachboden jemals betreten.

Zufrieden kroch sie hinter die alte Truhe, die quer vor der Nische stand und ihr Reich vor neugierigen Blicken schützte. Dann war sie angekommen.

Die Nische sah genauso aus wie sie sie verlassen hatte. Der alte Teppich, den sie irgendwann hier oben entdeckt hatte, lag ausgebreitet auf dem Boden und in einer Ecke der Nische, links neben dem runden Fenster, stand noch immer ihr kleines Holzkästchen. Eilig machte sie es sich dort bequem. Der schönste Teil des ganzen Tages war gerade dabei, sich vor ihr zu entfalten. Gespannt presste sie ihre Nase gegen das kalte Fensterglas. Die schlafende Stadt ruhte unter ihr, goldglühend im Licht der aufgehenden Sonne. Ihr Blick glitt über die alten Ziegeldächer, die die Stadt von oben wie einen Flickenteppich unzähliger Farben aussehen ließen, hinaus in die weite Ferne.

Wenn ich groß bin, dachte sie, Werde ich von hier fortgehen und mit eigenen Augen sehen, was hinter diesen Dächern liegt. Ob es wirklich ein Meer gibt, Wasser soweit das Auge reicht, bis zum Horizont, ohne ein Ende zu sehen oder einen Wald, so groß und dunkel, dass man darin jahrelang herumirren kann, ohne an den Rand zu gelangen.

Mit offenen Augen verlor sie sich in Tagträumereien, dort, am Fenster der kleinen Nische in dem großen Stadthaus, das sie Zeit ihres Lebens noch nie verlassen hatte.

Erst der Glockenschlag, der aus einiger Ferne an ihre Ohren drang, holte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie zählte. Als sie bei sieben angelangt war, raffte sie ihre Röcke und verließ den Dachboden – natürlich nicht, ohne sich vergewissert zu haben, dass man von außen die Nische nicht entdecken konnte.

Als sie wenige Minuten später unten in der Küche ankam, war ihre Mutter bereits auf den Beinen und kochte den Haferbrei fürs Frühstück.

"Guten Morgen, mein Schatz", begrüßte sie sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. "Hast du gut geschlafen?"

Sie nickte und ihre Mutter lächelte. "Willst du mir vielleicht ein bisschen zur Hand gehen, bis die anderen wach sind?"

Das Mädchen grinste breit und nickte erneut. Die wenigen kostbaren Minuten, die sie jeden Morgen allein mit ihrer Mutter verbrachte, waren das zweite Kleinod, das sie hütete wie einen Schatz. Und sie gedachte nicht, auch nur eine Minute dieser Zeit zu verschwenden.

Der Morgennebel hing schwer zwischen den Ästen der Bäume, als ich den Wald verließ. Im Dorf begann sich bereits das erste Leben zu regen. Blassgrauer Rauch stieg aus Schornsteinen und die Frauen machten sich auf den Weg zum Fluss, um die Wäsche zu waschen. Normalerweise liebte ich es, mich im dämmrigen Zwielicht nach Auricas Unterricht noch einige Minuten durch die schmalen Gassen des Dorfes treiben zu lassen und das Erwachen der Welt stumm zu beobachten. Doch heute setzte ich meine Schritte beharrlich geradeaus. Ich hatte die letzte Nacht kein Auge zugetan und ich war mir sicher, dass auch Conan nicht geschlafen hatte. Seine Atemzüge waren alles gewesen, worauf ich mich in der Dunkelheit konzentriert hatte. Ich hatte meine Finger verschränkt und unter der Decke fest umklammert, als könnte ich so verhindern, dass sich der Zwischenfall am Fluss wiederholte. Jetzt hoffte ich verzweifelt, dass Sidony die Erklärung fand, die ich letzte Nacht nicht entdecken konnte.

Als ich mich ihrer Hütte näherte, zögerte ich jedoch. Irgendetwas war anders, ich konnte jedoch nicht ausmachen, woran genau es lag. Die Tür saß fest in den rostigen Angeln und aus dem Schornstein drang Rauch. Sidony war also wach und hatte wahrscheinlich bereits Wasser für den ersten Tee des Tages aufgesetzt. Alles wirkte wie immer, bis auf ...

Stimmen. Irritiert hielt ich inne und lauschte. Sidonys Ton erkannte ich nach mehr als zwei Wochen fast zweifellos, doch als ich näherkam, machte ich noch eine andere Stimme aus. Ebenfalls weiblich, aber deutlich lauter als die meiner Mentorin. Ich runzelte die Stirn. Wer konnte um diese Zeit bereits etwas von Sidony wollen? Und noch dazu in diesem Tonfall? Würde ich womöglich mitten in einen ausgewachsenen Streit platzen?

Ich wollte gerade um die Hütte herumgehen, um durch das Seitenfenster zu sehen, als ich die Gestalt bemerkte, die dort in den Schatten lungerte. Ich erkannte den Prinzen im selben Moment, als sein kalter Blick mich durchbohrte.

"Was um alles in der Welt –"

"Psst!" Bevor ich reagieren konnte, stand Ethan vor mir, einen Finger auf die Lippen gepresst, um mir zu signalisieren, dass ich still sein sollte. Fragend sah ich ihn an, doch er schüttelte nur den Kopf und zog mich in den Schutz der Stämme, die Sidonys Hütte umstanden. Seine Hand umschloss mein Handgelenk ungewohnt fest und erst, als sein Griff sich löste, realisierte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Geräuschvoll atmete ich auf, bevor ich mich der Frage zuwandte, die wie Säure auf meinen Lippen brannte.

"Was in Gottes Namen tut Ihr hier?" Mein Tonfall war ein einziger Vorwurf. Ethan hatte kein Recht, meiner Mentorin hinterherzuspionieren, geschweige denn, ihre Gespräche zu belauschen.

"Ich halte Euch davon ab, einen Fehler zu begehen", versuchte er dennoch, sich zu rechtfertigen.

"Und private Gespräche mithören ist kein Fehler?" Ich versuchte nicht einmal, meine Entrüstung zu verbergen. Seine Anwesenheit hier bestätigte meine schlimmsten Vermutungen. "Nach allem, was die Hexen für uns getan haben, dankt Ihr es ihnen so? Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass Ihr so tief sinken könntet."

"Was soll das denn bitte heißen?" Er verschränkte die Arme.

"Ihr wisst genau, wovon ich spreche", zischte ich. "Richtet Eurer Mutter meine Grüße aus."

"Das werde ich", schoss er zurück. "Gleich nachdem sie mich für Hochverrat hängen lässt. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte nichts Besseres zu tun?"

"Ganz ehrlich?" Ich entgegnete seinem Blick. "Nein."

"Schön." Er verdrehte die Augen. "Glaubt, was Ihr wollt. Aber lasst Euch gesagt sein, dass die beiden da drin ..." Er nickte in Richtung der Hütte. "... wesentlich schlimmere Geheimnisse vor Euch bewahren als ich."

Perplex sah zurück zu Sidonys Hütte, bevor ich mich wieder dem Prinzen zuwandte. "Worauf wollt Ihr hinaus? Mit wem spricht Sidony?"

"Streitet", berichtigte er sofort. "Ich habe nicht viel sehen können, aber die andere Frau ist klein. Zierlich, braunes langes Haar und wahnsinnig aufgebracht."

"Calideya?" Ethans Beschreibung schien die Hexe der Wahrheit ziemlich genau zu treffen. "Was sollte sie mit Sidony zu besprechen haben?"

Ethan zuckte bloß die Schultern. "Hört selbst. Euer Name ist zwischen den Anschuldigungen mehr als einmal gefallen."

Für einen Moment fehlten mir die Worte, während ich zu entscheiden versuchte, worüber ich wütender war. Einen Beweis für Ethans Verrat zu finden, war schlimm, doch der Gedanke, dass die Hexen ein Geheimnis vor mir bewahrten ...

"Nein." Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. "Ich werde nicht hier stehen und lauschen wie ein Spitzel."

"Es ist Eure Entscheidung", sagte er dann. "Aber ich an Eurer Stelle würde gut überlegen, ob eine Konfrontation zu diesem Zeitpunkt das Richtige ist. Geheimnisse sind schließlich nicht ohne Grund geheim."

Ich schauderte. Hatte er Recht? Und wenn ja, warum sollten die beiden etwas vor dem Rest des Zirkels – oder vor mir – verbergen? Ich warf einen letzten prüfenden Blick in Ethans Richtung. Er hatte die Arme verschränkt und schien nur auf meine Entscheidung zu warten.

Entschlossen schlich ich näher zur Hütte, bis ich direkt unter dem Buntglasfenster an der Rückseite kauerte. Mit klopfendem Herzen presste ich mich gegen die kalte Wand und wartete, bis mein Atem sich beruhigte. Dann wagte ich endlich, mich auf die beiden Stimmen zu konzentrieren – und konnte kaum fassen, was ich hörte.

"Du weißt, dass du es ihr sagen musst", zischte Calideya. "Sie hat ein Recht, es zu erfahren."

Ich vernahm Schritte, dann ein Seufzen. "Ich verstehe, was du meinst, aber ... manche Dinge sollten besser im Dunklen gelassen werden."

"Nicht, wenn wir dadurch unschuldige Menschen in Gefahr bringen!" Calideyas Stimme wurde lauter. "Es wird Tote geben! Und sie wird den Preis dafür zahlen, wenn wir sie nicht warnen."

"Und wenn wir sie warnen?" Sidonys Stimme war noch immer voller Ruhe. "Sie wird nie wieder Magie einsetzen, wenn sie um die Konsequenzen weiß. Ihr die Wahrheit zu sagen, bedeutet, das Land seiner Verdammnis auszusetzen, ist dir das bewusst?"

"Wir können kaum von ihr verlangen, den Preis für unsere Freiheit zu zahlen", bestand Calideya. "Sie hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren!"

"Nein." Wieder waren Schritte zu hören. "Gladys sucht bereits nach einer Lösung. Wir können nicht ..."

Die Stimme wurde leiser, undeutlich, als Sidony das andere Ende des Raumes erreichte.

"... sie wird lernen, die Kontrolle darüber zu erlangen und niemand wird zu Schaden kommen."

"Aber genau darum geht es doch!" Calideyas Stimme war schrill. Ich hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. "Wir können sie nicht schützen. Nicht diesmal."

"Und du denkst, ihr Angst zu machen, ist der richtige Weg, um sie zu stärken?"

"Ich denke, Evangeline sollte erfahren, worum es hier geht! Die Vision war eine Warnung. Wir werden keine zweite erhalten."

Schockiert wich ich zurück.

Ich fühlte mich als hätte man mir soeben den Boden unter den Füßen weggezogen. Nur ein paar Minuten, ein paar einfache Sätze und meine Welt geriet erneut ins Wanken. Von welcher Gefahr hatte Calideya gesprochen? Und was hatte sie damit gemeint, dass es Tote geben würde und ich den Preis zahlte? Wie kam sie überhaupt dazu, das mit Sidony zu diskutieren, anstatt mit mir?

Heiße Wut begann, in mir hochzukochen. Brodelnd schoss sie durch meine Adern, sodass ich mich ruckartig aufrichtete. Ich würde die beiden zur Rede stellen. Sofort.

Erst, als ich herumfuhr, bemerkte ich, dass Ethan mir gefolgt war. Mit einem Mal stand ich näher vor ihm, als beabsichtigt. Ich hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Von hier aus konnte ich sogar die hellen Sprenkel in seinen blauen Iriden erkennen. Eine halbe Welt, die zwischen mir und den beiden Hexen stand.

Ein Geräusch aus Sidonys Hütte rief mich zurück auf den Plan.

"Ich muss mit ihnen sprechen", verkündete ich entschlossen und versuchte, mich an Ethan vorbeizudrängen, doch seine Hände umschlossen meine Handgelenke wie Schraubstöcke und zwangen mich, ihn erneut anzusehen.

"Ihr solltet nichts Unüberlegtes tun." Sein Tonfall war ruhig. "Ihr wisst nicht, was Ihr anrichten könntet."

"Ich kann sehr gut für mich selbst entscheiden, was ich tue", zischte ich und riss mich los. "Also entschuldigt mich."

Ich war schon einige Schritte weit gekommen, als Ethan mich erneut packte.

"Ihr wisst nicht, worum es hier geht", begann er erneut. "Manche Dinge hören sich anders an, als sie eigentlich sind. Die Fantasie kann Euch einen üblen Streich spielen, versteht Ihr?"

"Und was interessiert Euch das?" Erneut versuchte ich, mich loszumachen, doch diesmal war er stärker. "Ihr wart es doch, der mich auf die beiden aufmerksam gemacht hat!"

"Und genau deshalb muss ich jetzt dafür sorgen, dass Ihr nichts tut, was Ihr später bereut."

Ich schnaubte. "Wie beispielsweise...?"

"Die beiden bloßzustellen." Aus Ethans Zügen sprach Ernst. "Wenn Ihr jetzt in diese Hütte geht und den beiden eine Szene macht, wird früher oder später der ganze Zirkel davon erfahren."

"Sollen sie doch!" Ich spuckte ihm meine Worte vor die Füße. "Was interessiert Euch das überhaupt?"

Zum ersten Mal zögerte Ethan mit seiner Antwort.

"Die Menschen hier müssen den Hexenmeistern vertrauen", erklärte er schließlich. "Als gespaltener, von Misstrauen erfüllter Zirkel werden sie nicht mehr lange existieren. Und keiner von uns wäre mehr in Sicherheit."

"Versucht nicht, mir etwas von Sicherheit zu erzählen, Prinz." Ich schleuderte ihm den Titel direkt ins Gesicht.

Für einen Wimpernschlag glaubte ich zu spüren, wie sich sein Griff um mein Handgelenk verstärkte, doch der Moment war so schnell vorüber, dass ich es nicht genau sagen konnte. Ethans Miene blieb unverändert.

"Sprecht mit Eurer Mentorin", sagte er tonlos. "Wenn Ihr unbedingt wollt, auch mit der anderen Hexe. Aber versucht ruhig zu bleiben. Ich verstehe, dass Ihr wütend seid, aber ich denke, wir beide wissen, wie viel Schaden ein Geheimnis anrichten kann."

Ethans Blick suchte meinen und ich wusste, dass er sich auf den Angriff aufs Schloss bezog – ein Geheimnis, das ihn sein Zuhause und hunderte andere Männer und Frauen das Leben gekostet hatte. Ich schwieg.

Ohne ein weiteres Wort löste sich sein Griff und der Prinz verschwand aus meinem Blickfeld. Aufgewühlt massierte ich mein rotes Handgelenk, während ich ihm nachsah. Warum störte es mich so sehr, dass er mir die Schuld an allem gab, was in jener Nacht passiert war? Immerhin trug er selbst keine weiße Weste. Was immer ihn zu Sidonys Hütte geführt hatte, es war ganz sicher nicht die Sorge um mein Wohl oder das des Zirkels gewesen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie oft er das bereits getan hatte – mit den Schatten verschmelzen und die Menschen im Dorf belauschen. Beobachtete er mich, um Morrigan Bericht erstatten zu können? Wusste er von meinen Fortschritten? War er womöglich sogar gestern Abend dort gewesen, am Fluss, als meine Magie zum ersten Mal einen Menschen verletzt hatte?

Diese letzte Frage ließ mein Herz schneller schlagen und führte meine Aufmerksamkeit im selben Moment zurück zu Sidonys Hütte. Bevor ich mich dem Prinzen widmete, waren da noch zwei Hexen, mit denen ich ein Wörtchen zu reden hatte. Ich atmete tief, bevor ich schließlich zu Sidonys Tür marschierte.

Sowohl Sidony als auch Calideya erstarrten, als ich ohne zu klopfen die Hütte betrat. Entschlossen durchquerte ich den Raum und blieb direkt vor den beiden stehen.

"Was geht hier vor?" Meine Stimme war kühl, doch ich schaffte es, ruhig zu bleiben.

Sidony und Calideya tauschten einen alles sagenden Blick, doch als Calideya zu sprechen ansetzte, kam Sidony ihr zuvor.

"Du hast uns belauscht", stellte sie nüchtern fest.

"Meine Lektion hat vor einer Viertelstunde begonnen." Ich verschränkte die Arme. "Ich hatte alles Recht, hier zu sein. Und ich habe das Recht zu erfahren, worum es hier geht."

Sidonys Aufmerksamkeit wechselte von mir zu Calideya. Ihre Stimme war kälter, als ich es gewohnt war – strenger. Die großmütterliche Wärme, die sonst in ihren Worten schwang, war verschwunden. "Würdest du uns entschuldigen?"

"Nein." Ich trat einen Schritt weiter in den Raum und schnitt Calideya den Weg ab. "Du hast von einer Gefahr gesprochen. Einer Warnung. Was hast du gesehen?"

Sie zögerte und Sidony nutzte den Moment, um zu uns zu treten. "Es obliegt noch immer Gladys, die Visionen unserer Seher zu deuten. Weder du noch Calideya solltet voreilige Schlüsse ziehen."

Sie bedachte Calideya mit einem Blick, der keine Widerrede duldete. Die Hexe der Wahrheit zögerte zwar, doch schließlich wandte sie sich ab.

"Wir sehen uns später.", murmelte sie in meine Richtung. Dann verließ sie die Hütte.

Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, wandte ich mich an Sidony.

"Seit wann vertuschen die Hexenmeister wichtige Informationen?", fragte ich. Der Vorwurf in meinen Worten war unüberhörbar.

Sidony seufzte. "Es ist anders, als du denkst."

"Woher willst du das wissen?" Trotzig hob ich das Kinn. So leicht würde sie nicht davonkommen. "Wovor wollte Calideya mich warnen? Was hat sie gesehen?"

Sidony wich meinem Blick aus und starrte an mir vorbei auf eines ihrer Regale. "Was Calideya und ich diskutiert haben, betrifft nicht nur dich. Die Entscheidung, wer davon erfahren sollte und zu welchem Zeitpunkt, ist noch nicht gefallen."

"Das klang für mich anders." Ich straffte die Schultern. "Calideya war überzeugt, dass ich davon erfahren sollte."

"Entgegen ihres Ranges hat Calideya die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen." Sidonys Ton war bitter. "Es obliegt noch immer Gladys zu entscheiden, wie mit Calideyas Wissen verfahren wird."

"Auch, wenn Menschen in Gefahr sind?" Ich erinnerte mich noch haargenau an Calideyas Worte. Sie war die beste Seherin des Zirkels. Wenn sie sagte, sie hätte den Tod eines Menschen vorausgesehen, durfte keiner von uns das auf die leichte Schulter nehmen. Ganz besonders Sidony sollte das wissen.

"Gladys ist die Hexe des Lichts und die Vorsteherin des Zirkels", hielt sie dennoch dagegen. "Es ist ihre Aufgabe, aus Calideyas Vorhersagen die richtigen Handlungen für den Zirkel abzuleiten. Ganz besonders, wenn Menschen in Gefahr sind."

"Wer?", fragte ich ungeduldig. "Wer ist in Gefahr?"

Der Gedanke daran, dass Calideya Morrigans Rückkehr gesehen haben könnte, jagte mir eisige Schauer über den Rücken. Und dann war da noch die Sache mit Conan. Die Art, wie er zurückgezuckt war, mich angesehen hatte – völlig entsetzt.

"Wer ist in Gefahr?", wiederholte ich eindringlich, als Sidony noch immer nicht antwortete. "Geht es um Conan?"

Es war nur ein Schuss ins Blaue gewesen, doch an der Art, wie Sidonys eiserne Miene schlagartig in sich zusammenfiel, erkannte ich, dass mehr dahintersteckte. Mir wurde flau im Magen.

"Es ist Conan, nicht wahr? Er ist in Gefahr."

Sidony hielt noch immer an ihrem Schweigen fest, doch die Stille wirkte mit einem Schlag nicht mehr wie eine Rüstung, die sie umgab, sondern vielmehr wie ein Rettungsanker, an den sie sich klammerte, um dem tosenden Strudel der Wahrheit zu entkommen.

"Ich habe Conan gestern verbrannt", gestand ich leise. "Wir haben einfach nur Magieströme getauscht. Ich wollte nicht, dass –"

Ich brach ab, als Sidony mich ansah.

"Ich wollte ihn nicht verletzen", murmelte ich.

Sidonys Blick ging mir durch Mark und Bein. Es war derselbe Ausdruck, den ich auch schon in Conans Miene gelesen hatte. Eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen. Panik – vielleicht sogar das.

"Du hast die Kontrolle verloren?", hakte sie seltsam unsicher nach.

"Nein ... Ja ... Ich meine ..." Verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten. "Es war seltsam. Als würde er mit einem Mal allergisch auf meine Magie reagieren. Doch das kann nicht sein, oder? Wir haben schon so oft Magieströme getauscht und nie –"

Ich senkte den Blick. "Ich weiß nicht, was diesmal anders war."

"Ich muss mit Gladys sprechen." Sidony trat zu mir und setzte bereits an, mir die Hände auf die Schultern zu legen, wie sie es manchmal tat, wenn ich aufgeregt war. Im letzten Moment zögerte sie jedoch und ließ die Arme sinken. "Am besten, du trainierst weiter wie bisher. Und keine Magie in der Nähe des Jungen, verstanden?"

Sprachlos starrte ich sie an. Nicht einmal, nachdem sie von Conan wusste, war sie bereit, mir zu verraten, was hier vorging? Nicht einmal, wenn ich womöglich eine Gefahr für das Leben anderer war? Wie sollte ich trainieren, wenn ich nicht wusste, wen meine Magie als nächstes verletzte?

"Mach dir keine Sorgen", schob Sidony hinterher, als hätte sie meine Gedanken gelesen. "Alles wird gut. Gladys wird wissen, was zu tun ist."

Bevor ich auch nur ein Wort des Protestes herausbrachte, war Sidony an mir vorbei zur Tür getreten. "Wir sprechen später. Mach dir nicht zu viele Gedanken."

Einen Moment später war sie bereits aus der Tür, die mit einem lauten Quietschen hinter ihr ins Schloss fiel. Fassungslos starrte ich das verzogene Holz an, als könne ich Sidony allein durch die Kraft meiner Gedanken dazu bewegen, mir die Wahrheit zu offenbaren. Doch die Hütte und mein Inneres blieben still. Ich würde keine Antworten erhalten.

Der Rest des Tages verlief ohne Zwischenfälle. Ich hielt mich an meinen Trainingsplan, wie Sidony verlangt hatte, und verzichtete auf Frühstück oder Mittag, um Conan aus dem Weg gehen zu können. Die Ermahnungen der Meister hallten bald wie ein Singsang in meinem Kopf.

"Das kannst du besser."

"Du bist unkonzentriert."

"Streng dich an."

Doch ich war zittrig und nervös wie ein kleines Kind vor dem ersten Schultag. Ich musste wissen, was Calideya gesehen hatte. Und obwohl sich alles in mir sträubte, den Rat meiner Mentorin zu ignorieren, hielt ich es schließlich nicht mehr aus. Während meiner Abendlektion mit der Hexe der Heilung stand ich einfach auf.

"Entschuldige, Cybele", murmelte ich und schnappte meinen Umhang. "Ich hab da etwas vergessen. Ich ... muss los."

Ohne eine Antwort abzuwarten stürmte ich aus ihrer Hütte und rannte über den festgetretenen Pfad zum anderen Ende des Dorfes. In Calideyas Hütte brannte Licht und ich konnte mein Glück kaum fassen. Ohne Sidony, die sie zurückhalten konnte, würde Calideya mir sicherlich alles offenbaren.

Außer Atem stürmte ich in die Hütte. "Calideya, ich muss sofort wissen, was –"

Der Anblick, der mir entgegnete, ließ mich zurücktaumeln. Nicht Calideya saß an dem schweren Eichenholztisch in der Mitte des Raumes, sondern – "Conan?"

Atemlos stieß ich seinen Namen hervor, während meine Finger sich um die Tür krallten. "Was um alles in der Welt tust du hier?"

Er schien mindestens genauso überrascht wie ich. Aus großen Augen starrte er mich an.

"Ich ... warte auf Calideya. Wir sind zum Training verabredet, aber –" Er beendete seinen Satz nicht. Stattdessen erhob er sich und kam auf mich zu. "Ist alles in Ordnung?"

"Ja." Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. "Ja, alles bestens."

"Sicher?" Er trat noch näher – so nah, dass uns kaum noch eine Armlänge trennte. Mein Herz begann, zu rasen. "Du siehst bleich aus. Was ist los?"

"Es ist nichts." Mir gelang es kaum, das Zittern meiner Hände aus meiner Stimme fernzuhalten. "Ich sollte gehen."

Ich war schon fast aus der Tür, als Conan mich einholte.

"Warte." Von einem Augenblick zum nächsten hatte sich seine Hand um meine geschlungen und mich zu sich herumgezogen.

Mir brach kalter Schweiß aus, als ich spürte, wie meine Magie auf ihn reagierte. Nein.

Als wäre ich es, die sich diesmal verbrannt hatte, zog ich meine Hand aus Conans.

"Bleib weg von mir", fuhr ich ihn an und wich einige Schritte zurück in die Hütte. Conans verständnisloser Blick traf mich wie ein Peitschenhieb. Für einen Moment glaubte ich, dass ich deutlich genug gewesen wäre, doch dann streckte er erneut eine Hand nach mir aus.

"Evangeline, bitte." Seine Stimme war ruhig. "Wenn es darum geht, was gestern Abend passiert ist, tut es mir leid. Ich habe überreagiert."

"Du hast –" Fassungslos sah ich ihn an. Ich hatte ihn verletzt und jetzt gab er sich die Schuld dafür?

"Ich hätte dich nicht einfach stehen lassen sollen", fuhr er fort. "Ich war einfach überfordert. Aber du konntest genauso wenig dafür wie ich. Lass es mich wieder gut machen."

Er trat noch näher und versuchte ein drittes Mal, meine Hand zu nehmen, doch diesmal wich ich ihm schnell genug aus.

"Du verstehst nicht." Verzweifelt sah ich ihn an. "Meine Magie ... Du musst dich von mir fernhalten."

"Es war nur ein Zufall", hielt er dagegen und sein Blick war so voller Mitgefühl, dass sich mein Innerstes verkrampfte. "Es wird kein zweites Mal vorkommen."

"Das kannst du nicht wissen." Meine Stimme war schrill. "Conan, ich bin eine Gefahr für dich. Calideya hat es gesehen und Sidony ... Ich weiß nicht, wie genau es zusammenhängt, aber du musst dich von mir fernhalten."

Einen Moment lang hielt er inne und ich glaubte bereits, es wäre mir gelungen, ihn zu überzeugen, als er den Kopf schüttelte. "Du hast Angst, das verstehe ich. Aber ich werde jetzt nicht gehen. Lass mich dir helfen."

Er trat noch einen Schritt näher und mein Herz machte einen Satz. Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ich mich an ihm vorbeigeschoben und rannte. Blut pulsierte durch meine Adern und ich kämpfte um Atem, sog verzweifelt Luft in meine Lungen, während Panik meine Kehle zuschnürte. Ich hatte die ersten Häuser fast erreicht, als eine Gestalt in meinen Weg trat.

Ehe ich reagieren konnte, hatte sie die Hand erhoben und eine Windböe riss mich von den Füßen. Ich stöhnte, als mein Rücken auf die Erde schlug und alle Luft aus meinen Lungen gepresst wurde.

"So sieht man sich wieder, Lady Evangeline." Die Stimme der Königin triefte nur so vor altbekannter Süße. "Und welch eine Vorstellung du uns zu diesem Anlass bereitest. Beeindruckend, wahrlich beeindruckend."

Es kostete mich jeden Funken Kraft, wieder auf die Beine zu kommen. Schmerz pochte in meinem Rücken, während mein Magen sich umzustülpen schien und ein einziger Gedanke mein Bewusstsein einnahm.

Das hier – das war der Moment, auf den alles hinauslief.

Jede Stunde, die ich trainiert hatte, jede schlaflose Nacht, jeder Zuspruch der Hoffnung – in diesem Moment würde sich entscheiden, ob all das umsonst gewesen war. Und obwohl ich damit gerechnet hatte – obwohl ich gewusst hatte, dass dieser Moment früher oder später kommen würde – durchbohrte Morrigans Anblick mich wie ein Damoklesschwert.

Langsam trat sie nach vorn, bis sie kaum noch eine Handbreit von mir entfernt war. Der herbe Duft ihres Parfums kitzelte in meiner Nase, als sie sich zu mir beugte.

"Lass mich dir ein kleines Geheimnis verraten", flüsterte sie an meinem Gesicht. "Du hast die falsche Seite gewählt."

Mit der Ruhe einer Kriegsherrin, die bereits wusste, dass der Sieg ihr gebührte, richtete sie ihre Handflächen auf den Boden unter meinen Füßen. Jeder kleinste Funken Hoffnung, dass Gladys übertrieben hatte, verlosch, als ich das Summen ihrer Magie in der Luft um mich wahrnahm.

Mir blieb keine Gelegenheit, auszuweichen. Im selben Augenblick verflüssigte sich das Erdreich unter meinen Sohlen und ich sackte ab. Schlamm wand sich wie kopflose Schlangen um meine Knöchel und Waden. Instinktiv versuchte ich, meine Füße aus der Erde zu ziehen, zur Seite zu treten und den Schlamm abzuschütteln – doch ich scheiterte. Morrigans Magie ließ das Erdreich an mir haften wie eine zweite Haut und innerhalb weniger Augenblicke war ich bis zu den Knien in Ranken aus Schlamm gefesselt. Ohne auch nur einen Befehl zu flüstern, ließ Morrigan die Erde wieder erstarren. Ich war gefangen.

"Was sagst du", wisperte Morrigan, während sie eine Kette aus ihrem Mieder zog, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. "Sollen wir dich von der schrecklichen Last der Magie befreien?"

Ihre Faust war um einen Teil der Kette geschlungen und ich konnte den Blick nicht von ihren Knöcheln wenden. Ihre Worte trafen einen Punkt tief in mir – den Punkt, an dem der Glaube an meine Magie mit der Angst vor meinen Fehlern kämpfte. Ich hatte die ganze Zeit über mit dem Feuer gespielt, aber in diesem Moment hieß ich die Flammen zum ersten Mal willkommen. Was hielt mich noch zurück? Was bedeutete es, diese Kräfte zu besitzen, wenn ich nicht einmal mich selbst retten konnte?

Wut verwandelte meine Hände in Fäuste und meine Gedanken in Entschlossenheit. Blitzartig riss ich meine Arme nach vorn und erhob die Handflächen gegen Morrigan. Magie pulsierte in einem knisternden Sturm durch meine Adern und meine Lippen formten die vertrauten Befehle. Der Wind gehorchte. Ich spürte, wie sich die Luft in Wirbeln an meinen Seiten sammelte – bereit Morrigan davonzufegen.

Aber bevor das letzte Wort meine Lippen verließ, öffnete sich ihre Faust. Auf ihrer Handfläche lag ein goldener Ring mit einem einzelnen grünen Stein in der Mitte. Das Metall glühte wie flüssiges Feuer und ich spürte das Ziehen in meinem Inneren, ehe ich begriff, was geschah.

In dem Moment, als Morrigan begann, die Formel zu rezitieren, fiel der Sturm in sich zusammen. Die Magie, die noch Sekunden zuvor wie Blut durch meinen Körper gejagt war, verebbte in Strudeln, als hätte sie plötzlich die Richtung verloren. Ich öffnete meine Fäuste, nur um sie erneut zu ballen und sammelte all meine Konzentration, um die Kraft ein weiteres Mal zu kontrollieren. Das Kribbeln erreichte meine Fingerspitzen nur einen Moment später. Magie schoss aus der Erde und der Luft um mich herum und ballte sich in meinem Inneren zu einem Pulverfass, dem nur ein Funken fehlte.

Noch nie zuvor hatte ich so viel Magie auf einmal beschworen. Es fühlte sich an, als würde ich über einen Felsgrat wandern – ein falscher Schritt, ein Moment, in dem ich die Konzentration verlor – und ich würde fallen.

Und genau das tat ich.

In dem Moment, als Morrigan meine Finger auseinanderbog und den Ring in meine Handfläche presste, ergoss sich die Magie wie ein Tsunami aus meinem Inneren. Funken stoben von meiner Haut und Hitze erfüllte meinen Körper wie ein Fieber. Meine Dämme brachen und ich konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie der Ring in meiner Hand Feuer fing, während mein Innerstes entzweiriss.

Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Flut der Dunkelheit, die mich einzunehmen drohte. Erinnerungen an letzte Nacht schossen durch meine Gedanken – Conans entsetzter Blick und Sidonys nervöse Nachfragen, Calideyas panische Warnungen und das nagende Wissen in mir selbst. Magie quoll aus mir wie Blut, doch in diesem Moment presste ich meine Hände auf die Wunde und betete, dass es genug sein würde, um das Schlimmste zu verhindern.

"Du versuchst, es mir schwer zu machen, was?" Morrigans Lächeln war animalisch. "Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich einlässt."

Mit einem Ruck nahm sie meine Hände, bis ihre Handflächen den Ring zur Hälfte umschlossen. Ihre Magie drang wie eine Lanze in meinen Körper. Ich keuchte auf, als die Spitze den Riss in meinem Inneren erreichte, den ich so verzweifelt zusammenzuhalten versuchte – der Ort in mir, hinter dem sich Monster verbargen. Für einen Moment hielt Morrigan inne und mir gelang es, ihren Blick zu fangen.

"Tut ... das nicht", krächzte ich. Doch es war zu spät.

Mit alles verheerender Gewalt öffnete Morrigans Magie die Tore und Schwärze blutete aus dem Riss. Unkontrolliert zogen meine Muskeln sich zusammen, ließen mich zittern und tanzen, während meine Handflächen sich von Minute zu Minute hitziger anfühlten. Es war, als hätte man zu viel Strom in meinen Kreislauf gepumpt – ein Kurzschluss war unvermeidlich.

Als ich spürte, wie sich die Ranken um meine Knöchel lösten, war es bereits zu spät.

Die Erde, die mich gefesselt hatte, zerstob zu Asche und ich verlor das Gleichgewicht. Hilflos taumelte ich nach vorn – direkt in Morrigans Arme. Mein Körper brannte lichterloh und mittlerweile war es nicht nur die Magie, die aus mir drang, sondern auch das Leben. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Rippen und mein Atem war ein Stakkato scharfer Luftzüge. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Schwarze Punkte begannen, vor meinen Augen zu tanzen und ich spürte, wie meine Beine nachgaben, als mich Hände an den Schultern packten und zurückzerrten.

Die Bewegung kam so unverhofft, dass ich stolperte. Mein Körper ächzte, als sich meine Finger aus Morrigans lösten. Bevor ich auch nur eine Chance hatte, fiel ich. Mit einem dumpfen Aufprall schlug mein Hinterkopf auf die Erde. Mein Atem ging schwer und noch immer schien mein Innerstes in Flammen zu stehen. Aus der sich auflösenden Schwärze vor meinen Augen schälten sich vertraute Züge.

"Evangeline?" Conans Stimme war panisch. "Evangeline, kannst du mich hören?"

Etwas in mir regte sich und ich spürte, wie ich die Lippen bewegte, doch kein Laut verließ meine Kehle.

"Evangeline", wiederholte Conan und seine Hände, die zuvor meine Schultern umfasst hatten, glitten nun an meinen Armen herab. Sofort kehrte die Panik zurück und mein Herz galoppierte. In dem Augenblick, als er meine Hände in seine nahm, implodierte meine Welt.

Ich spürte die Magie tief in mir rebellieren – und wie einen Staudamm die Grenzen meiner Kontrolle sprengen.

"Conan, nicht –" Meine Warnung war ein atemloses Keuchen, als ich versuchte, meine Finger zu befreien. Mein flehender Blick traf seinen und ich erkannte Entsetzen, als ihm klar wurde, welchen Fehler er begangen hatte.

Wie Magnete zog unsere Magie sich an und machte eine Trennung unmöglich. Funken begannen, zwischen unseren Fingerspitzen zu sprühen. Conan stöhnte, doch ich konnte nur hilflos zusehen wie meine Magie mit ungeahnter Gewalt in ihn drang. Er zuckte und seine Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu erkennen war. Energie pulsierte in meinen Fingerspitzen wie ein eigener Herzschlag, der pure Elektrizität durch meine Adern pumpte.

Ich nahm Conans Magie – nahm sie in mich auf wie die Luft, die ich atmete und ließ nichts zurück. Die Kraft der Gier in meinem Inneren bereitete mir Entsetzen, doch so sehr ich auch versuchte, den Bund zu lösen, gelang es mir nicht. Verzweifelt rief ich meine eigene Magie zu mir, versuchte sie zurück an jenen dunklen Ort zu drängen, den Morrigan wie einen tiefen Abgrund in mir geöffnet hatte. Doch anstelle wieder in der Schwärze zu versinken, sprudelte nur noch mehr dieser dunklen, bösartigen Magie aus meinen Fingerspitzen und überzog Conans Hände mit glühenden Narben.

Ich schluchzte auf. Jeder Nerv und jeder Muskel in meinem Innersten stemmte sich gegen das Monster, das die Magie aus mir machte – und doch war ich hilflos. Conan schrie mittlerweile vor Schmerzen und ich konnte nichts tun als die unbändige Energie zu spüren, mit der sein Leben und seine Kraft auf mich überging.

Zu spät bemerkte ich den Schatten, der über uns fiel. Als ich den Blick von Conan nahm, entdeckte ich Morrigans Gestalt hinter uns. Ihre Arme waren ausgestreckt, die Handflächen auf uns gerichtet und an der Kette auf ihrer Brust glühte noch immer der Ring. Bevor ich eine Warnung schreien konnte, erfasste ein Windstoß Conans Körper. Mit ungeheurer Kraft riss die Böe ihn von mir und schleuderte ihn meterweit gegen eine Hauswand. Hilflos sah ich zu, wie er zu Boden sackte – seine Hände überzogen von rotem Narbengewebe und seine Augen leer.

Im nächsten Moment stand Morrigan über mir.

"Dieser Krieg hat gerade erst begonnen", sagte sie, während sie den Ring zurück in ihr Mieder schob. "Deine Welt wird brennen."

Im selben Moment schlugen Flammen aus der Erde, die mich umgab. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die Wiese in ein Inferno und über dem Knistern des Feuers hallte Morrigans Lachen in meinen Ohren.

Morrigans Lachen und ... Schreie.

Die nächsten Augenblicke flossen zäh wie Honig durch mein Bewusstsein. Die Welt um mich versank hinter einem Schleier, bis nur noch die Flammen und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren existierten. Mein Herz schlug gegen meine Rippen und mit jedem Atemzug schluckte ich Asche und Staub. Alles in mir sehnte sich nach Ruhe. Danach, einfach liegenzubleiben, die Augen zu schließen und das Leben verstummen zu lassen. Wäre da nicht die Erinnerung an Conan, an den Schmerz in seinem Blick und die Geschwindigkeit, mit der die Böe ihn von mir gerissen hatte, die Art, wie er zu Boden gesackt war. Leblos.

Ein Zischen drang durch meine zusammengebissenen Zähne, als ich mich aufrichtete. Die Hitze des Feuers brannte auf meiner Haut und trieb mir die Tränen in die Augen, doch ich hatte keine Wahl. Mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung, den ich aufbringen konnte, rief ich den Wind zu mir. Ich erinnerte mich an die Trainingseinheiten mit Aurica, wenn ich die Kontrolle über das Feuer verloren und mit anderen Elementen geschummelt hatte. Die Worte perlten so leicht von meinen Lippen, als hätten sie nur darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Innerhalb von Sekunden starben die Flammen, bis mich nur noch Ascheflocken und verbrannte Erde umgaben.

In der Zeit eines Wimpernschlages kehrte die Welt zurück. Schreie und das Klirren von Metall echoten in meinen Ohren. Keine zehn Schritte entfernt – in den Gassen des Dorfes – tobte der Kampf. Ich erkannte einige der Hexen – Novizen, die vor oder nach mir trainierten – zwischen den roten Uniformen der königlichen Soldaten. Männer und Frauen wirbelten in einer brutalen Choreografie umeinander. Magie traf auf kalten Stahl, Holzstöcke auf Rüstungen. Funken stoben, als eine Hexe des Feuers von einem Soldaten bedrängt wurde. Schreie und Befehle an die Magie schwollen zu einem ohrenbetäubenden Lärm und Morrigans Männer krümmten sich unter Schmerzen oder spuckten Wasser, als wären sie im Begriff zu ertrinken. Einen Augenblick lang glaubte ich sogar, Sidony unter den Kämpfenden zu entdecken.

Erst, als ein Stein nur eine Handbreit an meinem Kopf vorbeizischte, kam ich in Bewegung. Ein Schritt, zwei Schritte, drei. Ich wollte nicht darüber nachdenken, dass dieser Kampf mir galt, dass ich versagt hatte und trotzdem noch lebte. Ich wollte nicht wissen, warum Morrigan verschwunden war oder was in diesen Augenblicken passiert war. Ich wollte nur eines: spüren, dass Conan lebte. Spüren, dass ich nicht das Monster war, für das ich mich hielt.

Atemlos fiel ich neben seinem zusammengesunkenen Körper auf die Knie. Meine zitternden Finger berührten sein Handgelenk, suchten vergeblich nach einem Puls und streiften dabei die Narben, die groß und wulstig seine Haut bedeckten. Die Erkenntnis, dass ich das getan hatte, brachte mich beinah um den Verstand. Der Moment, als ich begriff, dass ich seinen Puls nicht finden würde, gab mir den Rest. Verzweifelt presste ich meine Finger an seinen Hals, meine Hände auf sein Herz und versuchte mich an die Zahlen zu erinnern, die das Leben zurück in seinen Körper pumpen würden. Zwanzig? Dreißig? Wie stark musste ich pressen?

Meine Lippen bebten und schließlich konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Zitternd ließ ich die Hände sinken, während ein Schluchzen aus meiner Kehle brach.

Zu spät bemerkte ich den Schatten, der über uns fiel. Als ich herumfuhr, erkannte ich Sidony.

"Morrigan ...", murmelte ich hilflos. "Sie hat ... Ich wollte nicht ... Er braucht Hilfe."

Sidony entgegnete nichts. Schweigend stieg sie über Conans Körper, bevor sie sich an seine Seite kauerte.

"Was ist mit Morrigan?", fragte ich leise. Der Gedanke, sie könnte noch immer da draußen sein, zwischen den Hexen und nur darauf warten ...

"Sie hat den Rückzug angetreten." Sidonys Tonfall war so nüchtern, dass ich nicht sicher war, ob die Gestalt, die ich vorhin im Kampf entdeckt hatte, tatsächlich sie gewesen war. Es musste so sein, doch die unterkühlte Art, mit der sie zuerst Conan und dann mich musterte, hatte nur wenig mit der Frau gemein, die ich kannte.

"Das war nicht Morrigan, richtig?", folgerte sie ohne den Blick von Conans Händen zu heben. "Das warst du."

"Er hat ... Ich konnte nicht ..." Verzweifelt suchte ich nach Worten, die entschuldigen würden, was ich getan hatte, doch ich fand keine. Es gab keine Worte, keine Erklärung, die die Narben auf Conans Haut heilen würde. Ich war ein Monster und ich sah diese Erkenntnis auch in Sidonys Blick.

"Lass ihn los", forderte sie streng. "Lass ihn los, Evangeline. Sofort."

Zögernd bettete ich seinen Kopf auf den harten Boden, bevor ich zurückwich. Mein Blick schweifte über meine eigenen Hände, die trotz allem unversehrt geblieben waren, dann zu Conans Körper, der nun in Sidonys Schoß ruhte. Ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten und sie Zauber um Zauber murmelte, immer schneller und schneller. Ihre Hände lagen auf Conans Brust, als könne diese einfache Berührung sein Herz wieder zum Schlagen bringen.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ohne Nachzudenken wandte ich mich ab und rannte. Der Kampf in den Gassen hatte sich gelegt, doch im Schutz der Häuser und auf der Wiese, die an den Wald grenzte, kauerten noch immer Hexen. Sie beugten sich über die Verletzten und heilten Schnitte und Stichwunden. Das Gras war braun und klebrig vom Blut des Kampfes. Die Verheerung raubte mir den Atem. Die Luft war schwer vom Geruch nach Eisen und Übelkeit wallte in mir auf, als ich all die Verletzen sah, um die sich die Heiler bisher noch nicht hatten kümmern können.

Ich hatte kaum einen Fuß auf den schmalen Pfad in Richtung Wald gesetzt, als eine der Hexen den Kopf hob. Calideyas Blick war düster. Sie kniete neben dem leblosen Körper eines Jungen, die Hände auf eine blutende Wunde an seiner Seite gepresst.

"Ich wollte dich warnen", murmelte sie tonlos. "Nichts Gutes kann von einer Magie wie dieser kommen. Du wirst ihren Preis bezahlen."

Ihre Worte versetzten mir den letzten Stoß. Wie in Trance stolperte ich zwischen den Körpern der Verletzten hindurch, bis ich Sidony, Calideya und alle Erinnerungen daran, was geschehen war, weit hinter mir ließ. Äste zerkratzen meine Arme und Beine, doch ich hieß den Schmerz willkommen. Immer tiefer schlug ich mich in den Wald, bis sich der Pfad unter meinen Füßen verlor und ich über Wurzeln und Unkraut stolperte. Als würde es mir dieses Mal gelingen, vor meiner Schuld zu fliehen. Als könne ich vor dem weglaufen, was in mir steckte.

Tränen verschleierten meine Sicht, doch Conans Züge verfolgten mich, wohin ich mich auch wandte. Seine leblosen Augen, die Narben auf seinen Handrücken. Das war ich gewesen. Ein Monster. Eine Mörderin.

Die Hexenkönigin

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