Читать книгу Herman Melville - Arno Heller - Страница 10

Zwischen Autobiographie und Fiktion – Redburn

Оглавление

Melville schrieb Redburn im Jahr 1849 und widmete den Roman seinem jüngeren Bruder Thomas, der zu diesem Zeitpunkt als Matrose seine erste große Fernreise nach China antrat. Da er das Werk, wie schon erwähnt, aus der Retrospektive eines 30-Jährigen in großer Eile niederschrieb, stellt es den Biographen vor die heikle Aufgabe, zwischen dem erzählten konkreten Geschehen und Umgestaltungen aus dem Umfeld des späteren Lebenshorizonts zu unterscheiden. Melville konzipierte Redburn nicht nur als eine autobiographische Rekonstruktion, sondern als ein autonomes und komplexes, auf verschiedenen Zeitperspektiven ablaufendes fiktionales Werk, dessen Faktizität zu hinterfragen ist. Auf den ersten Blick präsentiert sich der Roman dem Leser als ein authentischer Erlebnisbericht, im weiteren vertieft sich die Handlung jedoch immer mehr zu einem Initiationsreiseroman, einem Genre, das in der amerikanischen Literatur seit jeher eine zentrale Rolle spielt (Heller, 1973, 16–37). Wie etwa Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn oder Salingers Catcher in the Rye schildert Redburn den Aufbruch eines jungen Menschen in eine neue Lebensrealität, die Konfrontation mit einer ihn zutiefst prägenden Erfahrung und die Rückkehr zu seinem Ausgangspunkt als ein reiferer, desillusionierter junger Erwachsener. Während der herkömmliche Entwicklungsroman europäischer Prägung in der Regel eine lange Reihe von Bildungseinflüssen von der Kindheit über die Adoleszenz bis zum Eintritt in die Erwachsenenwelt darstellt, konzentriert sich der Initiationsroman auf eine kurze Phase schockhaften oder traumatischen Erlebens, zumeist aus der eingeschränkten Perspektive des jugendlichen Ich-Erzählers. Auch in Redburn ist dies in den ersten Kapiteln der Fall, bevor der Blickwinkel des naiven, unerfahrenen Seejungen der leicht ironisch distanzierten Perspektive des älteren Autors zu weichen beginnt: „Ich war damals noch sehr jung und unerfahren und in gewissem Umfang von lokalen und gesellschaftlichen Vorurteilen beherrscht“ (R, 212). Hinter der äußeren Handlung wird allmählich über eine vielschichtige Erzählstrategie mit kontrastierenden Charakteren, Wendepunkten und symbolischen Mustern unterschwellig ein Erkenntnisprozess in Gang gesetzt, der dem Protagonisten zunehmend erlaubt, sich selbst und die Menschen um ihn herum zu reflektieren (Kosok, 126–152).

Der erste Teil des Romans beschreibt eine Abfolge von Enttäuschungen und Desillusionierungen, die Redburns anfänglich ideale Vorstellungen von der Welt schrittweise demontieren. An Bord des Schiffes erregt seine rote Jagdjoppe mit großen Messingknöpfen den Spott der anderen Matrosen. Sie geben ihm den Spitznamen „Knopp“ (button), lassen ihn den Schweinekoben ausputzen und fragen höhnisch, was einen jungen „Herrn mit weißen Händen“wie ihn dazu „veranlasse, zur See zu gehen und ehrlichen Matrosen das Brot vom Munde zu stehlen und den Platz wegzunehmen, auf den ein guter Seemann gehöre“ (R, 58). Redburn lernt, mit Demütigungen dieser Art umzugehen. Er bewahrt sich seine Selbstachtung, indem er den Neid der anderen Matrosen, die ihm geistig und standesmäßig unterlegen sind, durchschaut. Seine Hoffnung, zumindest in Kapitän Riga einen wohlgesinnten und gebildeten Gesprächspartner zu finden, endet jedoch in herber Enttäuschung. Bei seinem Höflichkeitsbesuch in der Kapitänskajüte entpuppt sich der vermeintliche Gentleman als autokratischer Despot, der auf die „Unverschämtheit“des Hilfsmatrosen mit wüsten Verwünschungen reagiert. Redburn durchschaut ihn als einen bedauernswerten Scharlatan, der den feinen Herrn spielt, ohne einer zu sein.

Am traumatischsten ist die Auseinandersetzung mit dem hasserfüllten, von einer unheilbaren Krankheit gezeichneten Seemann Jackson, der keine Gelegenheit auslässt, Redburn zu schikanieren. Im Unterschied zu den eher gesichtslosen anderen Seeleuten ist der satanische Bösewicht ein detailliert gezeichneter Charakter: „Ein Blick aus seinem schielenden Auge war so gut wie ein Tiefschlag. Es war das niederträchtigste, gerissenste, infernalischste Auge, das ich je in einem menschlichen Gesicht gesehen habe“ (R, 63). Jackson – ein Vorläufer von John Claggart in Billy Budd – beneidet und hasst den ansehnlichen jungen Mann als das perfekte Gegenstück zu sich selbst. Während die anderen Matrosen Jackson wie eine dämonische Macht fürchten und sich ihm hündisch unterwerfen, erkennt Redburn in seinem Peiniger eine zutiefst verletzte Persönlichkeit: „Mir schien mehr Leid als Verruchtheit an diesem Menschen, als ob seine Verruchtheit in seinem Leid begründet wäre. [...] Wenn es auch Augenblicke gab, in denen ich Jackson beinahe hasste, hat mir noch kein Mensch je so leidgetan wie er“ (R, 112). Am Ende des Romans erleidet Jackson in der Takelage einen Blutsturz, fällt ins Meer und ertrinkt. Es ist eine von mehreren Begegnungen Redburns mit der Realität des Todes an Bord des Schiffes, die in ihm die Todesphantasie auslöst, als Ertrunkener allein „am Meeresgrund zu liegen, völlig allein, während die großen Wogen über ihn hinwegrollten“ (R, 38).

Der zweite Teil des Romans verlegt wie erwähnt die Initiationsreise auf den einmonatigen Landaufenthalt in England. Mit Hilfe eines alten Reiseführers seines Vaters schickt sich Redburn an, Liverpool zu erkunden, muss jedoch bald feststellen, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Das Hotel, in dem der Vater abstieg, wurde längst abgerissen, das vormalige Hafenbecken des „Alten Docks“ zugeschüttet und viele der historischen Gebäude und Denkmäler sind verschwunden: „Das Ding, das dem Vater ein Führer gewesen war, vermochte den Sohn nicht zu führen.“ Als ein „niedergeschlagener, klügerer Junge“ (R, 165–166) ist er fortan auf sich selbst gestellt. Auf einem seiner Streifzüge durch die Stadt gerät Redburn in das Elendsviertel Launcelott’s Hey. Im Kellergewölbe eines aufgelassenen Lagerhauses vernimmt er ein leises Wimmern und findet inmitten von Feuchtigkeit und Schmutz eine völlig apathische Mutter mit zwei fast verhungerten Kindern im Arm. Voller Entsetzen wendet sich Redburn in der Gasse an Vorbeigehende, stößt jedoch auf zynische Gleichgültigkeit. Ein Polizist erklärt sich für das Revier nicht zuständig und rät dem jungen Yankee, sich um sich selbst zu kümmern und die Sache der Stadt zu überlassen. Mehrere Male kehrt Redburn an den Ort des Grauens zurück und bringt den vom Tode Gezeichneten etwas Wasser und Brot:

Die Frau sagte kein Wort und rührte sich nicht. [...] Ich versuchte ihren Kopf hochzuheben, aber so schwach sie war, schien sie bemüht zu sein, ihn gebeugt zu halten. Da ich sah, dass sie ihre Arme über die Brust gefaltet hielt und dort etwas unter den Lumpen verborgen zu sein schien, kam mir ein Gedanke, der mich veranlasste, ihre Hände für einen Augenblick gewaltsam wegzuziehen. Da fiel mein Blick auf ein mageres neugeborenes Kindchen, das mit seinem Unterkörper in einer alten Mütze steckte. Sein Gesicht war noch bei allem Schmutz erschreckend weiß, aber die geschlossenen Augen glichen bläulichen Kugeln. Es musste schon seit Stunden tot sein. (R, 193)

An diesem Morgen konnte ich nichts mehr tun, da ich mit Instandsetzungsarbeiten am Schiff beschäftigt war. Aber um zwölf Uhr, als ich zum Mittagbrot ging, lief ich zur Launcelott’s Hey, wo ich feststellte, dass das Gewölbe leer war. Statt der Frau und der beiden Mädchen schimmerte ein Haufen gelöschten Kalks herauf“. (R, 194)

Das schreckliche Geschehen stürzt Redburn in tiefe Verzweiflung und bohrende Fragen treiben ihn hinfort um: „Gleichen wir nicht Menschen, die mit einem Leichnam zu Tisch sitzen und es sich wohl sein lassen im Hause der Toten?“ (R, 195) Aber die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen oder der Abschaffung der die Hungersnot verursachenden Kornzölle kommen dem jungen Amerikaner nicht in den Sinn. Sein Interesse an politischen und wirtschaftlichen Fragen ist zu diesem Zeitpunkt noch völlig unterentwickelt. Adam Smiths Buch The Wealth of Nations (1776) aus der Schiffsbibliothek und die darin enthaltenen Ausführungen über die Segnungen des Kapitalismus findet er „trocken wie Zwieback und Käse“. Nur beim Kapitel „Über Löhne und Nutzen der Arbeit“ stellt er lakonisch fest, dass er selbst „nie irgendeinen Nutzen aus seinen Mühen hatte“ (R, 94), legt das Buch beiseite, wickelt es während der Nacht in seine Jacke und benutzt es als Kopfkissen. Die frühsozialistische Arbeiterbewegung der Chartisten, die – von der Polizei rigoros überwacht – in den Straßen Liverpools Flugblätter verteilen, hält er für „politische Desperados“ (R, 217). Statt ihren aufwieglerischen Reden zuzuhören, hält er Mildtätigkeit für die einzige Lösung des sozialen Elends und besucht lieber die Gottesdienste in den Kirchen Liverpools: „Erzähle mir, Du Heilige Schrift, noch einmal die Geschichte vom armen Lazarus, damit ich Trost finde in meinem Herzen für die Armen und Verlassenen“ (R, 194).

Auch Redburns Begegnungen mit Vertretern der englischen Mittelschicht in den nachfolgenden Kapiteln verändern die negativen Eindrücke nicht. Beim Betreten des Leseraumes eines Börsengebäudes wird er von einem Zeitung lesenden älteren Herrn mit erhobenem Stock und Fußtritten unsanft hinausbefördert. Während einer sonntäglichen Wanderung an Land warnen allerorts Verbotstafeln, Fußangeln und Legeschüsse vor dem Betreten privaten Eigentums. Als er sich auf einer Wiese ausruhen möchte, vertreibt ihn ein Bauer mit einem Knüppel: „Welch unerhörte Anmaßung“, entrüstet sich Redburn, „allein Anspruch auf ein festes Stück dieses Planeten zu erheben“ (R, 220). In einem Dorf besucht er einen Gottesdienst, und im Anschluss daran lädt ihn eine Dame, der der junge Yankee aufgefallen war, zum Tee in ihr Haus ein. Lieber jedoch hätte er mit ihren drei hübschen Töchtern geplaudert. Aber die Mutter steht „auf Posten wie eine Schildwache“ (R, 224) und komplimentiert ihn bald wieder aus dem Haus. Den Gedanken an eine englische Freundin, der ihm einen Augenblick lang durch den Kopf schwirrt, weist er jedoch aus mangelndem Selbstwertgefühl von sich und träumt stattdessen am Abend in seiner Liverpooler Koje „von roten Wangen und Rosen“ (R, 225). Ein kryptischer Satz, den manche Biographen mit dem nachfolgenden Londonbesuch Redburns in Zusammenhang bringen, beschließt das Kapitel: „Ich habe die Schönen nicht wieder gesehen und auch nichts mehr von ihnen gehört, aber diese bezaubernden Holden sind schuld daran, dass ich bis zum heutigen Tag unverheiratet bin“ (R, 225).

Im Juni 1849 hatte Melville die Rohfassung des Romans fertiggestellt,aber da die angestrebte Seitenzahl noch nicht erreicht war, fügte er unter Zeitdruck die Begegnung mit Harry Bolton, einem dandyhaften jungen Engländer aus guter Familie, in den Text ein. Das 46. Kapitel, in dem dies geschieht, ist das mysteriöseste des Romans. Redburn lernt darin den hübschen und feminin wirkenden jungen Mann in den Docks kennen, wo sich dieser um eine Überfahrtsmöglichkeit nach Amerika umsieht:

Er war einer dieser kleinen, aber durchaus ebenmäßig gebauten Menschen mit krausem Haar und glatten Muskeln, die aussehen, als wären sie aus einem Kokon hervorgegangen. Seine Gesichtsfarbe war von einem mäßigen Braun und einer mädchenhaften Zartheit, seine Füße waren klein, seine Hände weiß, seine Augen groß und schwarz wie die einer Frau, und seine Stimme glich, ohne poetisch zu übertreiben, dem Klang eine Harfe. (R, 226)

Die beiden freunden sich an und erzählen einander aus ihrem Leben. Bolton hatte nach dem Tod seiner wohlhabenden Mutter mit dem ererbten Geld in Kreisen heruntergekommener Aristokraten und Spieler in London ein „liederliches Leben“ (R, 228) geführt. Als er alles verspielt hatte, verbrachte er zwei Jahre als Seekadett auf einem Ostindienschiff. Nach seiner Rückkehr erhofft er sich von der Auswanderung nach Amerika einen Neuanfang und heuert mit Redburns Hilfe auf der Highlander an. Vor der Abreise unternehmen die beiden noch eine Bahnreise nach London. Aber statt Redburn die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, quartiert ihn Bolton in einem zwielichtigen Rotlicht-Clubhaus ein und verschwindet. Redburn verbringt die Nacht allein in einem luxuriösen Gemach mit Marmorverkleidungen, kostbaren Spiegeln, französischen Gobelins und damastbezogenen Sofas. Auch das übrige Haus ist mit üppiger Dekadenz ausgestattet und die pompösen Ölgemälde an den Wänden zeigen freizügige, an pompejanische Villen erinnernde Darstellungen. Durch die verschlossenen Türen dringt das „elfenbeinerne Rasseln“von Würfeln und Jetons. „Aladins Schloss“ (R, 242) ist offenbar eine Mischung aus feudalem Männerbordell und Spielhölle, wo Bolton sein letztes Geld durchbringt. Der einzige Mensch, dem er begegnet, ist ein Kellner, der ihn mit unverschämten Blicken mustert. Als Bolton am nächsten Morgen wieder auftaucht, macht er einen verstörten Eindruck und drängt zur sofortigen Abreise: „Weg geht’s nach Amerika! Das Spiel ist aus!“ (R, 246)

Mit ihrem nur schemenhaft angedeuteten Ambiente weckt die Episode die Neugier des Lesers, ohne diese zu befriedigen. Die fehlende psychologische Durchdringung führte in der biographischen Rezeption zu Spekulationen über eine möglicherweise verborgene homosexuelle Verstrickung, für die es jedoch keine konkreten Hinweise gibt. Es ist nicht einmal sicher, ob Melville überhaupt in London war oder nur einen damals modischen romantischen Aspekt in den Roman einführen wollte (Weaver, 107). Dass Melville möglicherweise eine für ihn unangenehme Erfahrung bewusst im Dunkeln ließ, legt Redburns Unbehagen über die Verwirrung und Angstzustände dieser Nacht nahe:

Der ganze Ort schien verseucht, und ein seltsamer Gedanke überkam mich, in den Damaststoffen ringsum könnte irgendeine Pest aus dem Orient eingeschleppt worden sein [...] Trotz der großstädtischen Pracht um mich her erfüllte mich ein furchtbares Gefühl, das ich niemals zuvor gekannt hatte, ausgenommen, wenn ich in die übelsten und verruchtesten Seemannslasterhöhlen in Liverpool kam. (R, 244–245)

Bolton trägt zweifellos die Züge eines Homosexuellen, was jedoch keine Rückschlüsse auf den verunsicherten Redburn zulässt. Dieser kümmert sich während der Rückreise auf der Highlander loyal um seinen gescheiterten Freund, der mit seinem brokatenen Morgenrock, gestickten Pantoffeln und Hauskäppchen zum Gespött der Matrosen wird. Obwohl sich Bolton eher zu Carlo, einem hübschen italienischen Jungen „mit einem Bein wie ein hübscher Frauenarm“ (R, 258) hingezogen fühlt, lässt ihn Redburn nicht im Stich. Mutig setzt er sich für ihn ein, aber als ein brutaler Maat Bolton mit dem Tauende zwingt, in die Takelage hinaufzusteigen, kann er dies nicht verhindern, so dass der von Todesängsten geplagte Freund für den Rest der Reise ein gebrochener Mensch ist. Redburn erfährt nichts von dessen dunklem Geheimnis und von dem, was in London geschah. Nach der Landung in New York bemüht er sich vergeblich, Bolton als Kopisten in einem Handelshaus unterzubringen und verliert ihn bald aus den Augen. Später erfährt er von einem Seemann, dass er auf einem Walfänger anheuerte, vor der Küste Brasiliens über Bord fiel und den Tod fand.

Am Ende des Romans nimmt Redburns Initiation eine bemerkenswerte, überraschend positive Wende. Nachdem er alle Widrigkeiten, Demütigungen und Schrecken, denen er ausgesetzt war, überstanden hat, wirft er die Rolle des angepassten Opfers ab. Er lehnt sich gegen Unrecht und Unterdrückung auf, wo immer sie ihm begegnen. Damit überwindet er seine vormalige Ich-Bezogenheit und naive Fehleinschätzung der Realität und praktiziert eine neue Mitmenschlichkeit mit allen Armen, Schwachen und Ausgebeuteten: „Wir haben vielleicht zivilisierte Körper und barbarische Seelen. Wir sind blind gegenüber dem wirklichen Anblick dieser Welt, taub gegenüber ihren Stimmen und tot gegenüber ihrem Tod“ (R, 304).

Auch die Schilderungen des Elends der Amerika-Auswanderer im vollgepferchten Zwischendeck der Highlander zeugen von dieser Betroffenheit:

Es war so, als käme man in ein überfülltes Gefängnis. Aus den Reihen der groben Kojen wandten sich Hunderte magerer schmutziger Gesichter uns zu. Auf den Kisten saßen Dutzende unrasierte Männer, die Teeblätter rauchten und einen erstickenden Qualm verbreiteten. Aber dieser Qualm war besser als die ursprünglich hier herrschende Luft, die aus fast unglaublichen Ursachen von übelstem Gestank erfüllt war. In jeder Ecke hockten die Frauen weinend und lamentierend beieinander. Die Kinder bettelten bei ihren Müttern um Brot, aber diese konnten ihnen nichts geben. Alte Männer saßen auf dem Fußboden mit geschlossenen Augen, gegen die Böden der Wasserfässer gelehnt und rangen keuchend nach Atem. (R, 297)

Die realistische Intensität dieser Schilderungen berührt den Leser, biographisch jedoch ist sie schwer einzuordnen. Die St. Lawrence, auf der Melville im Juli 1839 nach New York zurücksegelte, war kein Auswandererschiff, sondern ein Handelsschiff, das neben Frachtgütern und Passagieren nur wenige Emigranten mit sich führte. Die Beschreibung der verheerenden Verhältnisse an Bord beruhen deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach eher auf Zeitungsartikeln, politischen Stellungnahmen und Augenzeugenberichten aus dem Jahr 1849, in dem Melville den Roman fertigstellte, als auf persönlicher Anschauung. An seinem Ende spricht nicht mehr der naive jugendliche Ich-Erzähler Wellingborough der ersten Kapitel, sondern der um zehn Jahre ältere und sozial engagiertere Redburn. Das erzählte Ich hat sich gleichsam dem erzählenden Ich angenähert und die ursprüngliche ironische Distanz zwischen Autor und Protagonisten ist einer reiferen und differenzierteren Sprache gewichen.

Melvilles erste Seereise markiert das Ende seiner Jugend. Trotz aller Beschwerlichkeiten und Entbehrungen muss er sie auch als Befreiung von den vorangegangenen bedrückenden Familienverhältnissen und traumatischen Geschehnissen empfunden haben. Vor allem aber war es das erstmalige Erleben der unendlichen Weite des Meeres, das sein künftiges Leben zutiefst prägen sollte:

Was mich am meisten in Erstaunen versetzte, war der Anblick des großen Ozeans selbst, denn wir waren ja außer Sicht jedes Landes. Rings um uns herum, auf beiden Seiten des Schiffes, voraus und achteraus, war nichts zu sehen als Wasser, nicht ein einziger Schimmer von einer grünen Küste, nicht das kleinste Eiland oder irgendwo ein Fleckchen Moos. Nie zuvor hatte ich eine Vorstellung davon gehabt, was der Ozean eigentlich war, wie groß und majestätisch, wie einsam und grenzenlos, wie schön und blau. [...] Die ganze Zeit kam ich mir vor wie im Traum, und wenn ich das Schiff aus meinem Bewusstsein ausschließen konnte, so glaubte ich fast, mich in einer neuen, zauberhaften Welt zu befinden, und erwartete, aus der blauen Luft und aus der Tiefe der dunkelblauen See angerufen zu werden. (R, 70–71)

Herman Melville

Подняться наверх