Читать книгу Herman Melville - Arno Heller - Страница 7

Kindheit und Jugend (1819–1839) Glückliche Kindheitsjahre in New York

Оглавление

Als Herman Melville am 1. August 1819 in New York City zur Welt kam, war die Stadt noch lange nicht die große Metropole, zu der sie in den nachfolgenden Jahrzehnten heranwachsen sollte. Aber schon damals war sie eine quirlige und weltoffene Hafenstadt, die sich in ihrer Gründungsgeschichte von dem strengen, kalvinistisch geprägten Boston, der Stadt Melvilles väterlicher Vorfahren, deutlich unterschied. Während die puritanische „City upon a Hill“ im Norden zum theokratischen Mittelpunkt der Neuen Welt aufstieg, hieß New York anfänglich noch New Amsterdam und hatte eine ganz andere, vorwiegend holländisch-koloniale Vergangenheit. Melville wurde in beide Welten hineingeboren. Sowohl die väterliche Yankee-Tradition als auch die holländischen Wurzeln seiner Mutter hinterließen in ihm tiefe Spuren.

Henry Hudson, ein englischer Seekapitän in niederländischen Diensten, hatte 1609 den Hudson River als wichtigstes Einfallstor in das Innere des Kontinents erkundet und die Voraussetzungen zur Gründung der Kolonie New Netherlands im Jahr 1621 geschaffen. Die Manhattan-Insel in der Hudson-Mündung wurde den Algonkin-Indianern zum Spottpreis von 60 Gulden (ca. 24 Dollar) abgekauft und darauf eine befestigte Siedlung errichtet.Der größere Teil der Siedler zog jedoch weiter flussaufwärts und gründete Fort Orange und andere Niederlassungen im weiteren Umkreis von Albany, der heutigen Hauptstadt des Bundesstaates New York. Unter dem legendären Gouverneur Peter Stuyvesant erlebte die Kolonie ihre wirtschaftliche Blüte und entwickelte sich zur Drehscheibe des Transatlantik- und Ostindienhandels. Aber all dies fand im Jahr 1664 ein abruptes Ende, als Großbritannien, die zweite maritime Weltmacht in dieser Zeit, die holländische Kolonie ohne nennenswerten Widerstand annektierte und sie dem britischen Hoheitsgebiet eingliederte. Die wohlhabenden New Amsterdamer Kaufleute und Reeder waren nicht gewillt, eine militärische Belagerung und Seeblockade über sich ergehen zu lassen. Sie führten clevere Verhandlungen mit den neuen Machthabern und ließen es sich weiterhin in ihrer Stadt gut gehen, die jetzt in New York umbenannt wurde und bald zur wichtigsten Hafenstadt in der Neuen Welt heranwuchs. Durch die stark zunehmende englische, französisch-hugenottische, deutsche und jüdische Zuwanderung und die ersten aus Afrika importierten Sklaven verlor New York jedoch im 18. Jahrhundert allmählich seine ursprünglich holländischen Merkmale. Nur einige sprachliche Gewohnheiten, z.B. die zu englischen „cookies“adaptierten beliebten holländischen „koekjes“,sowie etliche bauliche Spuren sind übriggeblieben. Bei Grabungen im südlichen Teil Manhattans stößt man gelegentlich immer noch auf Delfter Kacheln oder die gelben Backsteinreste holländischer Kolonialhäuser (Shorto, 23–114).

Um 1819 – Melvilles Geburtsjahr – hatte New York 120.000 Einwohner, eine Zahl, die sich bis 1850 durch Massenimmigration verzehnfachte und bis zu seinem Todesjahr 1891 auf drei Millionen anwuchs. Neunzig Prozent der ursprünglichen Einwohner waren Nachkommen holländischer,englischer und anderer europäischer Einwanderer aus der Kolonialzeit. Trotz starker ethnischer und religiöser Unterschiede bildeten sie die protestantische Führungsschicht der Stadt und lebten als Reeder, Kaufleute, Händler und Makler hauptsächlich vom Überseehandel. Im Hafen,dessen hölzerne Piers, Kais, Lagerhäuser und Kontore sich über einen elf Meilen langen Küstenstreifen erstreckten, legten die großen Übersee-Handelsschiffe an und löschten und luden ihre Waren. Dort herrschte ein lebendiges, buntes multiethnisches Treiben von Seeleuten,Händlern, und Abenteurern aus aller Herren Länder. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Battery an der Südspitze Manhattans, wo einst das alte holländische Fort stand,liegt Pearl Street 6, das erste New Yorker Domizil der Melvilles.Leider wurde das Haus im 19. Jahrhundert abgerissen und nur eine unscheinbare Plakette erinnert heute noch an Melvilles Geburtsort.Die Spaziergänge der Familie auf der langgezogenen Promenade entlang der an den Kais vertäuten Handelsschiffe und ihrer Mastenwälder, die seltsamen Sprachen und verschiedenen Nationalitäten der Seeleute gehörten zu Melvilles frühen Kindheitserinnerungen. Am Hafen wehte die Luft der weiten Welt, wie dies in einer Passage am Beginn von Moby-Dick zum Ausdruck kommt:

Dort liegt nun eure Inselstadt der Manhattos, umgürtet mit Kais wie die Inseln im Indischen Meer mit Korallenriffen – der Handel umgibt sie mit seiner Brandung. Nach rechts und nach links führen euch die Straßen zum Wasser. Ihr südlichster Zipfel ist die Battery, jene stolze Mole, die von Wogen umspült, und von Brisen gekühlt wird, welche nur wenige Stunden zuvor kein Land vor sich sahen. Schaut Euch die Scharen der Wassergaffer dort an, Tausende und Abertausende von Sterblichen, gefangen in ozeanischen Träumereien. (MD, 33–34)

New York war damals die weltoffenste und multikulturellste Stadt der USA, aber die Lebensbedingungen dort waren alles andere als angenehm. Das im Winter feuchtkalte und im Sommer schwüle Klima, der Gestank der schlecht funktionierenden und unhygienischen Müllentsorgung, das Gewimmel und der Lärm der Pferdekarren und Kutschen in den Straßen und vor allem die von Seeleuten und Schiffspassagieren eingeschleppten Krankheiten und Seuchen schufen eine ungesunde Umgebung. In den Sommermonaten – auch in Melvilles Geburtsmonat – zwangen ausbrechende Cholera-, Typhus- und Gelbfieberepidemien tausende Bewohner, aus der Stadt in die umliegenden Landgebiete zu flüchten.

Melvilles Vater, der Textilkaufmann Allan Melvill [sic], war Abkömmling einer angesehenen Patrizierfamilie aus Boston und entfernter Nachfahre eines schottischen Adelsgeschlechts, von dem einige Angehörige ins vorrevolutionäre Amerika ausgewandert waren und sich in Boston niedergelassen hatten. Der Großvater Major Thomas Melvill hatte sich als politischer Kampfgefährte des Revolutionsführers Samuel Adams und durch die Beteiligung an der Boston Tea Party und der Schlacht am Bunker Hill einen Namen gemacht. Einige Teeblätter aus dieser Zeit in einem Glasgefäß am Kaminsims des Elternhauses wurden wie eine Reliquie gehütet. Aber trotz der Verwurzelung in der patriotischen Vergangenheit gehörten Melvilles Großeltern zu den liberalen Bostonians. Sie hatten sich aus der engen puritanischen Vergangenheit gelöst und gehörten einer der unitarischen Kirchengemeinden an, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Umkreis liberaler Harvard-Theologen herausgebildet und 1825 zur American Unitarian Association zusammengeschlossen hatten. Die Unitarier unter der Führung ihres Gründervaters, des charismatischen Geistlichen William Ellery Channing, lehnten die puritanische Prädestinationslehre und die Doktrin der angeborenen Verworfenheit des Menschen ab. Sie glaubten nicht an die heilige Dreifaltigkeit, sondern an den Menschensohn Jesus und seine moralische Autorität. Sie sahen keinen Gegensatz zwischen Christentum und menschlichem Verstand, verachteten jede Form von Dogmatismus und setzten sich für eine tolerante Religiosität und praktische Menschenliebe ein. In spiritueller Selbstbildung sahen sie die wichtigste Aufgabe des Menschen. Zwei Jahrzehnte später entwickelte sich aus dem Unitarismus unter dem Einfluss von Ralph Waldo Emerson der säkulare Transzendentalismus als typische Ausprägung der amerikanischen Romantik.

Melvilles Vater Allan war von der liberalen Gesinnung seiner Eltern geprägt und folgte darüber hinaus dem kosmopolitischen Weltbild seines um sechs Jahre älteren Bruders Thomas. Dieser war im internationalen Bankgeschäft tätig und hatte während eines mehrjährigen Bildungsaufenthalts in Europa eine französische Bankierstochter geheiratet. In Paris, wo er bis 1811 lebte, lernte er fließend Französisch und bahnte internationale Geschäftsbeziehungen an.Als ihm Allan nach Europa folgte und sich ebenfalls zwei Jahre in Paris aufhielt, nahm ihn der ältere Bruder unter seine geschäftlichen Fittiche. Auf Wunsch seines Vaters stattete er auch der Melville-Familie auf ihrem Adelssitz in Schottland einen Besuch ab, ohne jedoch die Beziehung aufrechtzuerhalten. Dem ursprünglichen Familiennamen fügte erst Melvilles Mutter nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1832 das abschließende e hinzu, um einen Neubeginn in ihrem familiären Leben zu manifestieren.

Nach mehreren Geschäftsreisen in Europa eröffnete Allan 1812 in Albany, der Hauptstadt des Staates New York, eine Importfirma für französische Modeartikel und Kurzwaren – Leinenhandschuhe, Parfums, Straußenfedern, Satinstoffe, Stickereien etc. Dort lernte er die damals 19-jährige, aus bester Familie stammende Maria Gansevoort kennen und heiratete sie zwei Jahre später. Das junge Paar zog vorübergehend in das feudale Haus ihrer verwitweten Mutter Catherine Van Schwaick Gansevoort an der Market Street und Maria brachte in kurzen Abständen zwei Kinder zur Welt. Die Familie verkehrte in den vornehmsten Kreisen der Stadt und war unter anderem mit dem Gouverneur des Staates De Witt Clinton befreundet. Trotzdem war es nicht Albany, sondern New York City, der führende Handelsplatz des Staates, der Melvilles Vater anlockte.

Auch seine Mutter Maria Gansevoort war amerikanisches Urgestein, aber auf ganz andere Weise als die Bostoner Großeltern. Sie entstammte der holländisch-kolonialen Oberschicht von Upstate New York,deren Vorfahren einst Fort Orange gegründet hatten. Die breite Wasserstraße des Hudson Rivers war die Lebensader der niederländischen Kolonie und eröffnete den Zugang zum Handel mit Biberpelzen in den damals noch kaum erschlossenen Wildnisgebieten im Westen. Bis heute erinnern zwei Biber und eine Windmühle im New Yorker Wappen an diese Gründerzeit. Entlang des Stromes sprangen neben Albany etliche Kleinstädte und Dörfer mit niederländischen Namen aus dem Boden, in denen die kalvinistisch geprägte Reformierte Niederländische Kirche das Sagen hatte.Bis ins 19. Jahrhundert war das Holländische weit verbreitet, und noch Melvilles Mutter sprach mit ihrer Großmutter Holländisch. In der Regel waren die niederländischen „Patrone“ begüterte Händler, Landwirte, Bierbrauer und Geschäftsleute. Sie lebten in behäbigen, mit Delfter Kacheln und schweren Mahagoni-Möbeln ausgestatteten Land- und Stadthäusern und nahmen führende Positionen in der regionalen Wirtschaft und Politik ein. Es war die Urheimat der Van Burens und Van Vechtens, der Roosevelts oder Vanderbilts, die zur Herausbildung des amerikanischen Nationalcharakters kräftig beigetragen haben. Der Schriftsteller Washington Irving hat dieser gediegenen kolonialen Welt in seiner Knickerbocker’s History of New York (1809) und in Erzählungen wie „Rip Van Winkle“ oder „The Legend of Sleepy Hollow“ idyllische Denkmäler gesetzt. Zusammen mit James Fenimore Cooper und William Cullen Bryant bildete Irving den Mittelpunkt eines Kreises früher New Yorker Schriftsteller, die unter dem Namen „The Knickerbocker School“in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen sind.


Mutter Maria Gansevoort Melville

Die um die Mitte des 17. Jahrhunderts aus Holland eingewanderten Gansevoorts hatten es als Bierbrauerdynastie zu beträchtlichem Wohlstand und Ansehen gebracht und waren mit führenden Patrizierfamilien wie den Van Rensselaers oder Van Schaicks verwandtschaftlich verbunden. Marias Vater Peter Gansevoort war ein berühmter General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und ist als siegreicher Verteidiger von Fort Stanwix gegen aus Kanada vordringende britische Truppen und Mohawk-Indianer in die amerikanische Geschichte eingegangen. Einige Straßen, Plätze und Hotels in New York erinnern bis heute an ihn und ein inzwischen abgerissenes Fort in der Hafeneinfahrt von New York trug seinen Namen. Seine Tochter Maria war eine gebildete, luxusgewohnte Dame, und die Porträts, die es von ihr gibt, stellen sie als eine selbst- und standesbewusste resolute Person dar. Im Gegensatz zu ihrem liberalen unitarischen Ehemann bestand sie darauf, dass ihre Kinder, auch ihr zweiter Sohn Herman, gemäß ihrer Familientradition in der Reformed Dutch Church von New York getauft und in der Folge bibelstreng erzogen wurden. Als überzeugte Kalvinistin glaubte sie an die Vorbestimmtheit und Sündhaftigkeit des Menschen, der nur durch ein arbeitsames und tugendhaftes Leben seine Erwähltheit von Gott unter Beweis stellen konnte. Nach dem frühen Tod ihres Mannes verstärkte sich Marias Religiosität und damit auch der Druck auf ihre heranwachsenden Söhne und Töchter. Auch der junge Herman, der dem weltoffenen Vater und seiner freizügigen Lebensart nahestand, bekam dies zu spüren. Unter den kulturellen Prägungen seines Lebens – Boston, New York und Albany – war die Welt der Mutter nach dem Tod des Vaters für Herman die nachhaltigste und auch problematischste. In seinem Roman Pierre wird er viele Jahre später von ihr in der Gestalt der Mrs. Glendinning ein nicht sehr schmeichelhaftes fiktionales Porträt zeichnen.

1818 verlegte Vater Allan seine Firma nach Manhattan, nicht zuletzt, um den gehobenen Ansprüchen der Gansevoorts entsprechen zu können. Im Jahr darauf kam Herman als drittes von insgesamt acht Kindern auf die Welt. Seine Kindheit war eingebettet in großbürgerlichen Wohlstand sowie in die muntere Schar von drei Brüdern und vier Schwestern: Gansevoort (1815), Helen (1817), Augusta (1821), Allan (1823), Catherine (Kate, 1825), Frances (Fanny, 1827) und Thomas (1830). Besonders nahe stand ihm der dreieinhalb Jahre ältere Bruder Gansevoort, dessen selbstbewusste Art er sich zum Vorbild nahm. Auf mehreren Geschäftsreisen über den Atlantik baute der Vater seine Handelsbeziehungen erfolgreich aus. Nach der noch bescheidenen Pearl Street übersiedelte die Familie bald in immer repräsentativere Häuser an der Cortland Street, der Bleecker Street und zuletzt am Broadway, wo der Vater 1828 am Höhepunkt seiner Geschäftskarriere ein elegantes Wohnhaus in geziemender Entfernung von den ungesunden Wohngegenden am Hafen anmietete.

Da es kaum Aufzeichnungen über das Leben der Familie in dieser Zeit gibt, sind die Biographen auf Melvilles fiktionale Werke angewiesen. So gibt der junge Ich-Erzähler Wellingborough am Beginn des Romans Redburn (1849) einen nostalgischen Rückblick in die familiäre Umgebung seiner Kindheit:

Wir hatten mehrere Möbelstücke in der Wohnung, die von Europa mitgebracht worden waren [...], Ölgemälde und seltene alte Stiche aus dem Besitz meines Vaters, die er selbst in Paris gekauft hatte und die im Speisezimmer hingen. Zwei davon waren Seestücke [...]. Dann besaßen wir auch einen großen Bücherschrank, der in der Diele stand, so groß wie ein kleines Haus. Er hatte eine Art Untergeschoss mit Schloss und Schlüssel, und oben hatte er Glastüren, durch die man die langen Reihen alter Bücher sehen konnte, die in Paris, London und Leipzig gedruckt waren. [...] Dann besaßen wir zwei große grüne französische Mappen mit kolorierten Stichen, schwerer als ich in jenen Jahren zu heben vermochte. Jeden Samstag holten meine Brüder und Schwestern sie aus der Ecke hervor, wo sie aufbewahrt wurden, breiteten sie auf dem Boden aus und schauten sie sich mit nie versagendem Vergnügen an. (R, 10–11)

Besonders eingeprägt hat sich dem jungen Herman „das Bild eines großen Wals, so groß wie ein Schiff, vollgesteckt mit Harpunen, und drei Boote fuhren, so schnell sie konnten, hinter ihm her“ (R, 11). Beeindruckend war auch das Porträt des Vaters als eines etwas arrogant dreinblickenden jungen Dandys in einer mit Messingknöpfen verzierten Weste und hochgebürsteter Stirnlocke. Das größte Prunkstück des Hauses war jedoch ein altmodisches französisches Kriegsschiff aus Glas, dessen Schilderung im ersten Kapitel von Redburn zwei Seiten einnimmt. Der Vater hatte es in jungen Jahren als Geschenk für einen Großonkel von einer Europareise aus Hamburg mitgebracht. Nach dessen Tod ging es an die Geberfamilie zurück. Im jungen Wellingborough/Herman erweckt das gläserne Schiff „unbestimmte Träume und Sehnsüchte“ (R, 12) nach einem künftigen Leben als Seemann. Immer wieder dringt er in seiner Phantasie in das Innere der La Reine ein und versetzt sich in die Aktivitäten der kleinen blau gekleideten Matrosen in der feingesponnenen gläsernen Takelage.

Die elf Jahre seiner Kindheit im privilegierten Elternhaus waren die sorgloseste Zeit in Melvilles Leben. Den fürsorglichen Eltern standen eine Schar von Kindermädchen, Hauslehrern, Dienstmägden, eine Köchin und ein Hausdiener zur Seite. Die kosmopolitische Atmosphäre, die vom Vater ausging, und die exotischen Erzählungen über seine Reisen und Abenteuer in ferne Länder, die er in geselliger Runde von sich gab, sowie die anregenden Gegenstände, Bilder und Bücher erweckten schon im kindlichen Herman eine Art Fernweh: „Ich zweifle nicht daran“, bekennt Wellingborough im Roman, „dass diese Vorahnung mit meinem späteren unsteten Leben in Zusammenhang stand“ (R, 12). Darüber hinaus gab es viele, zum Teil enge Beziehungen zu den Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Um der Schwüle New Yorks und den berüchtigten Epidemien in den Sommermonaten zu entgehen, gab es wochenlange Familienbesuche und Sommerferien in Albany oder bei den Großeltern in Boston. Dort begegnete Herman auch dem stattlichen weißhaarigen Onkel väterlicherseits, Kapitän John D’Wolf, der ihm von einem Schiff auf einer Expeditionsseereise im Pazifik erzählte, das von einem riesigen Wal gerammt wurde. Melville setzte ihm später im 45. Kapitel von Moby-Dick ein Denkmal. Am liebsten jedoch war Herman bei seinem Onkel Thomas Melvill Jr. in Pittsfield in den Berkshires am Ostrand von Massachusetts, wo dieser die vom Großvater übernommene Farm bewirtschaftete. Nach dem frühen Tod seiner französischen Frau heiratete er noch einmal und setzte zusätzlich zu den sechs Kindern aus erster Ehe acht weitere in die Welt.


Vater Allan Melvill (1820)

Im Gegensatz zu der kosmopolitischen Lebenswelt des Vaters zeugten die ehrwürdigen Mahagoni-Möbel und alten Familienporträts, die die Mutter aus ihrem Familienbesitz nach New York mitbrachte, von der bodenständigen und konservativen, in der kolonialen Vergangenheit verankerten Geisteshaltung der Gansevoorts. In besonderem Maß galt dies für das feudale großelterliche Haus an der Market Street in Albany, mit der Herman eng vertraut war. In Redburn preist er die alte „Mansion“ mit ihren vielen Giebeln und lange vor der Revolutionszeit aus Holland importierten Ziegeln als ehrwürdiges Gegenstück zu den hässlichen modernen Zweckbauten in Liverpool (R, 168). Die holländischen Interieurs und Stilmöbel, die kostbaren Gegenstände aus Silber und Porzellan sowie die kunstvollen Spiegel und Uhren wären schon damals der Stolz eines jeden kolonialhistorischen Museums gewesen. Den größten Schatz bildeten jedoch die militärischen Erinnerungsstücke an General Gansevoort: sein spartanisches Feldbett, sein Säbel, seine Uniformen, Fahnen und Banner, eine erbeutete britische Messingtrommel und das berühmte, von Gilbert Stuart gemalte Ölgemälde des Kriegshelden. Einer der Höhepunkte in der Geschichte des Hauses war der Besuch des legendären französischen Generals Lafayette anlässlich der Eröffnung des Bunker-Hill-Memorials im Jahr 1825. Wie stolz Allan und Maria auf diese Familiengeschichte waren, zeigt sich daran, dass sie ihren Stammhalter Gansevoort nannten. Auch Herman konnte sich, wie aus seinen Werken und Briefen immer wieder hervorgeht, diesem prägenden Einfluss nicht entziehen. Die Gegensätzlichkeit zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Einfluss und der frühe tragische Tod des Vaters hinterließen in Melville seelische Wunden, die er nie überwinden konnte und die seine spätere innere Zwiespältigkeit begründeten.

In New York besuchte Herman ab seinem sechsten Lebensjahr vier Jahre lang die New York Male Highschool und anschließend ein Jahr lang die elitäre Grammar School am Columbia College. 1826 beschreibt Vater Allan seinen Sohn in einem Brief an Onkel Peter Gansevoort als einen „waschechten Knickerbocker“, der im Vergleich zum brillanten Bruder Gansevoort zwar „sprachlich etwas zurückgeblieben und von langsamer Auffassung ist“ (Leyda, 25), aber durch seine Ernsthaftigkeit und solide Wesensart seinen Vorfahren in Albany durchaus Ehre macht. Vier Jahre später kam er noch einmal zu einer ähnlichen Beurteilung. Die angeblichen kaufmännischen Ambitionen, die er darin Herman zuschreibt, entsprachen jedoch eher seinem eigenen Wunschdenken als der Realität:

Herman macht größere Fortschritte als vormals, und obwohl er kein glänzender Schüler ist, hält er sich achtbar und würde besser vorankommen, wenn man ihn dazu bringen könnte, mehr zu lernen – er ist ein höchst liebenswertes und unschuldiges Kind, und ich kann’s nicht über mich bringen, ihn zu zwingen, vor allem da er sich offenbar das Kaufmännische als bevorzugtes Berufsziel erwählt hat, und diese praktische Tätigkeit kann wohl ohne viel Buchgelehrsamkeit auskommen. (S/G, 11)

Die grüblerische und phantasiebegabte Veranlagung seines Sohnes blieben ihm offensichtlich ebenso verborgen wie seine eigenen kaufmännischen Schwächen. Trotz seiner Weltläufigkeit und Bildung und der guten Beziehungen zu prominenten Verwandten und Freunden entpuppte sich Melvilles Vater auf Dauer als ein äußerst zweifelhafter Geschäftsmann. Immer häufiger war er durch fehlgeschlagene riskante Transaktionen gezwungen, hohe Kredite aufzunehmen, ohne sie zurückzahlen zu können. Nach außen ließ er sich das drohende Desaster nicht anmerken, hielt an seiner großzügigen Lebensweise fest und verspekulierte sich dabei immer mehr. Wenn ihm die Gläubiger allzu sehr auf den Fersen waren, lieh er sich vom Vater, von seinem Schwager Peter oder von seinem besten Freund, dem Bostoner Richter Lemuel Shaw, größere Geldbeträge. Aber die schlechte Wirtschaftslage ging auch an diesen Sponsoren nicht spurlos vorüber und verstärkte ihre Sorge um den Erhalt des Familienvermögens. Als der Großvater nach der Wahl Andrew Jacksons zum amerikanischen Präsidenten seine Beamtenstellung in der Bostoner Hafenbehörde verlor, schützte er seine Frau und die drei unversorgten Töchter vor drohenden finanziellen Verlusten, indem er Allans Schulden von dessen Erbanteil abzog. Darüber, ob Maria von dem sich zusammenbrauenden finanziellen Zusammenbruch Bescheid wusste, gibt es nur Vermutungen. Als sich die Krise zuspitzte, litt sie an Angstzuständen, Kopfschmerzen und Depressionen und übersiedelte mit ihren Kindern ins elterliche Albany.

Steigende Importzölle, unvorhergesehene Zinserhöhungen, ein immer stärker werdender Konkurrenzdruck sowie eine gravierende Fehlinvestition in ein scheiterndes Handelsunternehmen trieben Allan schließlich in den finanziellen Ruin. Trotz verzweifelter Bemühungen musste er im Dezember 1830 Bankrott anmelden und die Firma auflösen. Das Haus am Broadway musste aufgegeben, die Dienstboten entlassen und sogar wertvolle Stücke der Bibliothek verkauft werden. Maria wurde nach New York zurückgerufen, um mit dem ältesten Sohn Gansevoort den Abtransport der Familienmöbel nach Albany durchzuführen. Der Vater harrte indes mit Herman im leer geräumten Haus am Broadway aus, bevor auch sie bei Nacht und Nebel in einem Dampfboot nach Albany abreisten. Wie schwer der elfjährige Herman unter dem dramatischen Ereignis litt, beschreibt er zwanzig Jahre später in Redburn: „Aber ich darf an diese köstlichen Tage nicht denken – es war vor dem Bankrott und dem Tode meines Vaters nach dem wir aus der Stadt wegzogen –, denn wenn ich daran denke, steigt mir etwas in meiner Kehle hoch und droht mich zu ersticken“ (R, 42).

Herman Melville

Подняться наверх