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Vier Jahre im Pazifik (1840 –1844) Die Walfangreise

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Nach seiner Rückkehr nach Lansingburgh im Herbst 1839 versuchte sich Melville noch einmal als Lehrer – eine Tätigkeit, die weniger anstrengend und etwas besser bezahlt war als die eines Hilfsmatrosen. Aber schon nach wenigen Monaten verließ er die Schule, als diese bei den Gehaltsauszahlungen in Rückstand geriet. Da er obendrein die provinzielle Sesshaftigkeit nicht mehr länger aushielt, beschloss er wie viele tausende andere junge Menschen seiner Zeit, in den „Westen“ zu ziehen. Aus heutiger Sicht war es der Mittelwesten, der damals mit seiner expandierenden Landwirtschaft den Ostküstenbewohnern neue Lebenschancen versprach. Sein hoch verschuldeter Onkel Thomas hatte, nachdem die Farm in Pittsfield keine Gewinne mehr abgeworfen hatte, in Galena im äußersten Nordwesten von Illinois eine neue Existenz aufgebaut. Um ihn zu besuchen und eventuell über ihn eine Anstellung zu finden, brach Melville im Juni 1840 in Begleitung seines Freundes Eli Fly nach Westen auf. Die beiden fuhren auf von Pferdegespannen gezogenen Treidelbooten über den 1825 fertiggestellten Erie-Kanal nach Buffalo, mit dem Dampfboot über die Großen Seen nach Chicago und von dort weiter auf dem Landweg quer durch Illinois nach Galena. Aber zu Melvilles großer Enttäuschung hatte sich der Onkel in der Zwischenzeit erneut in finanzielle und strafrechtliche Probleme verstrickt, so dass die vorgefundenen Verhältnisse nicht vielversprechend waren. Im Juli kehrten die beiden Freunde über den Oberlauf des Mississippi und den Ohio River und dann per Kutsche und Eisenbahn über Pittsburgh nach New York zurück. Die Reise hatte sich als erfolglos erwiesen, fand jedoch in Melvilles späteren Werken ihren Niederschlag. Der Erie-Kanal und die ozeanischen Weiten der Großen Seen werden im „Town-Ho“-Kapitel von Moby-Dick überschwänglich geschildert, und die Heimreise auf dem Mississippi-Dampfer diente Melville 18 Jahre später als Schauplatz für seinen Roman The Confidence Man.

Der erfolglosen Reise in den Westen folgte zunächst eine weitere vergebliche Jobsuche in New York. In dieser ziellosen Lebensphase las Melville den 1840 erschienenen autobiographischen Seereisebericht Two Years Before the Mast von Richard Henry Dana. Das Buch ist der realistisch geschriebene Bericht eines jungen Ex-Harvard-Studenten aus Boston, der als Matrose auf einem Transportschiff über Kap Hoorn eine Reise in das damals noch mexikanische Kalifornien unternahm. Das in seiner Zeit ungemein populäre und erfolgreiche Buch begeisterte Melville und bestärkte seinen Wunschtraum, so wie sein Cousin Thomas zuvor auf eine Walfangreise zu gehen und möglicherweise später darüber zu berichten. Im Dezember 1840 war es endlich so weit. Begleitet von seinem fürsorglichen Bruder Gansevoort brach Melville nach New Bedford auf, um eine Heuer auf einem Walfänger zu finden.

Der hochseetüchtige Hafen an der Mündung des Acushnet war damals die Welthauptstadt der Walfangindustrie und eine Zeit lang eine der reichsten Städte der USA. Zwei Drittel der weltweiten Flotte von ca. 1000 Walfängern brachen alljährlich unter amerikanischer Flagge von ihren Heimathäfen New Bedford und Nantucket in die Weltmeere auf. Der Jahresumsatz des Walfangs belief sich auf mehrere Millionen Dollar und beschäftigte an die 15.000 Seeleute und 50.000 Menschen in der verarbeitenden Industrie. Aus dem Tran stellte man Lampenöl, Kerzen und Schmierstoffe her, das Walbein diente der Produktion von Korsettstangen und Regenschirmen, und der Walrat aus dem Kopf des Pottwals sowie das kostbare Ambra lieferten die Grundstoffe für Duftkerzen, Pomaden und Parfums und brachten zusätzliche Einnahmen. Da die Walfanggründe im Atlantik in dieser Zeit schon weitgehend erschöpft waren, fuhren die Schiffe in der Regel über Kap Hoorn in die endlosen Weiten des Pazifiks und kamen nach drei oder vier Jahren mit durchschnittlich 2000 Fass Öl zurück. Diese wurden auf den Kais der terrassenförmig angelegten Hafenstadt entladen, wo sie zusammen mit den umliegenden Tranfabriken einen penetranten Geruch verbreiteten.

Die Entdeckung von Petroleum in Pennsylvania im Jahr 1859 verdrängte schließlich das Walöl vom Markt und setzte dem Walboom ein Ende. Die legendäre „Stadt, die die Welt mit Licht versorgt“, wich der in den USA aufkommenden industriellen Revolution. Aus New Bedford wurde ein Zentrum der Textilindustrie mit ausgedehnten Fabrikanlagen und sein Hafen verlor die ursprüngliche Walfängeratmosphäre. Heute würde die kleine Industriestadt mit ihren knapp 100.000 Einwohnern kaum noch Besucher anlocken, hätte sie nicht den romantischen Flair, den ihr die Walfanggeschichte und ihr literarischer Chronist Melville einbrachten. Nach dem Riesenerfolg von John Hustons monumentalem Film „Moby-Dick“ (1956) mit Gregory Peck als Kapitän Ahab in der Hauptrolle besannen sich die Bewohner in den 1960er Jahren auf ihr kulturelles Erbe und begannen es zu vermarkten. Die alten Kopfsteinpflaster, Gaslaternen und Kais wurden wieder hergestellt und die historische Bausubstanz renoviert. Zu den 20 „historischen“ Gebäuden gehören vor allem die Seamen’s Bethel Church, das alte Custom House, wo Melville seine Heuer anmeldete, das Mariner’s Home und das Old Courthouse. Die größte Attraktion der Stadt ist jedoch das großartige New Bedford Whaling Museum (Heller, 2015, 208–243).

Melville hielt sich neun Tage in New Bedford auf, bevor er am 3. Januar 1841 auf der Acushnet von dem auf der anderen Seite des Flusses liegenden Fairhaven aus in See stach. Der kurze Aufenthalt wäre wohl bedeutungslos geblieben, wenn ihn nicht Melville als Einstieg in seinen Roman Moby-Dick ausführlich gestaltet hätte (s. Kap. „Ein Magnum Opus entsteht“). Die Seamen’s Bethel Church mit ihrer Kanzel in Form eines Schiffsbugs ist heute die wichtigste Melville-Gedenkstätte. Auf einer der hinteren Kirchenbänke erinnert eine Plakette an Melvilles Kirchenbesuch am Weihnachtsabend 1840. Auch sonst stößt man in New Bedford auf Schritt und Tritt auf den Autor, wenngleich biographische Realität, Fiktion und Legende oft weit auseinanderklaffen. So gab es die spektakuläre Kanzel zu Melvilles Zeiten noch nicht, denn sie wurde erst 1961 in Anlehnung an Hustons Film eingebaut. Und auch das Wirtshaus, wo in Moby-Dick der Ich-Erzähler Ishmael mit dem Südseeinsulaner Queequeg zwei unruhige Nächte verbringt, konnte nie eruiert werden. Es ist nicht bekannt, wo Melville und Gansevoort abstiegen, wahrscheinlich jedoch in einer Herberge in Fairhaven. Die drastische Schilderung des multikulturellen Treibens in der Hafenstadt hingegen klingt überaus authentisch:

In jedem bedeutenden Seehafen wird man auf den Straßen unweit der Kaianlagen häufig die seltsamsten, sonderbarsten Gestalten aus aller fremden Herren Länder zu sehen bekommen. […] Aber New Bedford übertrifft alle Waterstreets der Welt bei weitem. An den letztgenannten Orten sieht man nur Seeleute, doch in New Bedford stehen echte Menschenfresser schwatzend an Straßenecken, wahre Wilde, von denen manche noch ungetauftes Fleisch auf den Knochen haben. Da steht der Fremde, starrt und staunt. (MD, 77)

Was über Melvilles Reise in den Südpazifik bekannt ist, muss größtenteils aus seinen Seeromanen erschlossen werden. Mit Ausnahme von Auszügen aus dem Logbuch der Acushnet, einigen Reederberichten und Zeitungsausschnitten existieren nur wenige Belege und persönliche Hinweise. Nur ein Brief der Mutter an ihre Tochter Augusta berichtet über eine Aussage Gansevoorts, dass er seinen jüngeren Bruder „noch nie so vollkommen glücklich gesehen habe“ wie vor seiner Abreise (Parker, 186). Das Schiff war kurz zuvor in New Bedford vom Stapel gelaufen und gehörte einem Eigentümer-Konsortium von Nantucket-Quäkern. Der 43-jährige Kapitän Valentine Pease und die relativ homogene Mannschaft machten im Vergleich zu anderen Schiffen einen soliden Eindruck, wie Melville sechs Monate später in einem Brief an seine Mutter aus einem peruanischen Hafen bestätigte. Da er als einfacher Matrose anheuerte und nicht als Harpunier, war die Entlohnung extrem niedrig. Die Schiffseigentümer und der Kapitän strichen mit ca. 5000 Dollar den Löwenanteil des erzielten Gewinns ein, während den Mannschaftsmitgliedern nur winzige Bruchteile davon zustanden. So erhält Ishmael, Melvilles fiktionales Sprachrohr in Moby-Dick, nur den 175. Anteil des Profits zugesprochen, nicht viel mehr als 50 Dollar am Ende der Reise, während Queequeg als kompetenter Harpunier auf ein Neunzigstel Anspruch hat. Der Heuervertrag und die Schiffsartikel wurden am Weihnachtstag 1840 unterschrieben, und der fürsorgliche Gansevoort besorgte für seinen Bruder Ölzeug, ein rotes Flanellhemd, eine Segeltuchhose, eine Strohmatratze und andere Utensilien.

Im Roman Moby-Dick beginnt die Reise nicht in Fairhaven, sondern in Nantucket. Die Überfahrt Ishmaels und Queequegs auf einem Schoner zur Insel und die langen Heuer-Palaver mit den beiden schrulligen Quäker-Eigentümern, die im 16. Kapitel geschildert werden, sind fiktionale Erfindungen. Melville mag sie eingeführt haben, um seinen Lesern Nantucket, den legendären Ursprungsort des amerikanischen Walfangs, vor Augen zu führen. Er selbst kannte die Insel mit ihren schmucken Kapitänshäusern und alten Seemannstavernen zu diesem Zeitpunkt noch nicht; er besuchte sie erst 1852 auf einer Reise mit seinem Schwiegervater Lemuel Shaw (s. Kap. „Desillusionierung und neue Strategien“). Schon die indianischen Ureinwohner hatten auf Nantucket gestrandete Wale ausgeschlachtet oder vor den Küsten gejagt. Als der Quäker William Rotch als erster einer Reihe weiterer Entrepreneure zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein Walfangunternehmen von Nantucket in den hochseetauglichen Hafen von New Bedford verlegte, verlor die Insel rasch an Bedeutung.

Auch Melvilles Walfangreise selbst verlief anders als in Moby-Dick. Während die Route der fiktionalen Pequod über die Azoren und das Kap der Guten Hoffnung durch den Indischen Ozean in den Pazifik führt, steuerte die Acushnet zuerst die Pottwalgründe im Bereich der Kapverdischen Inseln an und im Anschluss daran die Westküste Südamerikas. In Rio de Janeiro wurden im März 1841 die ersten 200 Fässer der Tranausbeute gelöscht und auf ein Schiff nach Boston umgeladen. Über die Falklandinseln und das stürmische Kap Hoorn fuhr das Schiff in den Südpazifik ein, segelte parallel zur Küste Chiles nach Norden und ging Ende Juni 1841 im peruanischen Hafen Santa Martha vor Anker. Von dort steuerte sie im Oktober die Galapagosinseln an und ging im Umkreis des Äquators auf Walfang. Die einzige Abwechslung in diesen monotonen Monaten waren die verschiedenen Begegnungen (gams) mit anderen Walfangschiffen und der Austausch von Informationen, Berichten und Briefen. Einer dieser Kontakte sollte für Melville besonders wichtig werden. Am 23. Juli 1841 begegnete er an Bord des Walfängers Lima aus Nantucket dem 16-jährigen Sohn von Owen Chase, dem Verfasser des damals großes Aufsehen erregenden Berichts Narrative of the Most Extraordinary and Distressing Shipwreck of the Whale-Ship Essex, of Nantucket (1821). Das Buch erzählt von einem riesigen Pottwal, der 1820 das Walfangschiff Essex rammte und zum Kentern brachte. Bei dem Zusammentreffen erzählte der Sohn Melville die abenteuerliche Geschichte des Vaters (s. Kap. „Ein Magnum Opus entsteht“).

Die Walfangerträge der Acushnet waren zu diesem Zeitpunkt mäßig. Da der Kapitän nur bereit war, mit einer profitablen Menge von gefüllten Ölfässern die Rückreise anzutreten, war kein baldiges Ende der Fangreise in Aussicht. Die Stimmung an Bord verschlechterte sich zusehends und im November 1841 kam es in der peruanischen Hafenstadt Payta zu einem Zwischenfall. Zwei Maate desertierten und die Mannschaft legte beim amerikanischen Konsul Protest gegen das tyrannische Verhalten des Kapitäns ein. Es kam zu langwierigen Verhören und Verhandlungen, bevor die Acushnet wieder auslaufen konnte. Im Januar 1842 kam es noch einmal zu einem Zwischenstopp bei den Galapagosinseln, den Melville später für seine Erzählungen „The Encantadas, or Enchanted Isles“ (1854) auswertete.

Die vielen Monate des Walfangs schildert Melville im Detail erst neun Jahre später in seinem sechsten und größten Roman Moby-Dick. Die Acushnet muss ganz ähnlich ausgesehen haben wie die 1841 in New Bedford vom Stapel gelaufene Charles W. Morgan, das einzige im Original erhaltene amerikanische Walfangschiff des frühen 19. Jahrhunderts. Es liegt heute als Schauobjekt im maritimen Freilichtmuseum von Mystic Seaport, Connecticut, und enthält das komplette Walfang-Instrumentarium, das Melville in Moby-Dick vor dem Leser ausbreitet. Der massige Rumpf des Schiffes war 37 Meter lang und die drei Masten ragten 36 Meter über das Hauptdeck empor. Obwohl die Rahen bei voller Takelage an die 4000 Quadratmeter Segelfläche tragen konnten, war das Schiff nicht auf Geschwindigkeit und Wendigkeit ausgerichtet, sondern auf die Gewinnung und Lagerung großer Mengen von Öl. Genau genommen war es eine schwimmende Fabrik mit allen dazu nötigen Einrichtungen und konnte bis zu 2700 Fässer Öl mit einem Gesamtgewicht von 320 Tonnen aufnehmen. Gesteuert wurde die Charles W. Morgan nicht mehr mit einer Ruderpinne wie die Pequod, sondern mittels eines Steuerrades und eines Kompasshäuschens am Achterdeck.

Die Unterbringung der Offiziere im Achterdeck und der Mannschaft im sogenannten „Vorkastell“ unterschied sich nur wenig von der eines Handelsschiffes wie der in Redburn beschriebenen Highlander. Anders waren nur die Einrichtungen und Ausstattungen, die dem Walfang und der Walverarbeitung dienten: An beiden äußeren Schiffsflanken hingen in hölzernen Kranbalken die vier Fangboote, die bei Sichtung eines Wals in wenigen Sekunden zu Wasser gelassen werden konnten. An der Steuerbordseite war eine Winde- und Hebevorrichtung angebracht, mit deren Hilfe der Riesenkörper eines getöteten Wals aus dem Wasser gehoben und mit Ketten an der Schiffswand befestigt wurde. Bei der Verarbeitung trennte man zuerst den Kopf des Wals ab, um daraus den kostbaren Walrat zu bergen. Im Anschluss daran schälten die Flenser mit den Walspaten die tonnenschwere Speckschwarte vom Walkörper ab und hievten sie mit Seilwinden und Eisenhaken auf Deck. Dort wurde sie von den Harpunieren mit säbelartigen Messern zerteilt, im „Speckraum“ zwischengelagert und vor dem Verkochen zu Öl in kleine „Bibelseiten“ zerschnitten. Die dazu dienenden Tranöfen mit zwei oder drei eingebauten Kupferkesseln standen in einem durch Metallrahmen verstärkten Ziegelaufbau am Hauptdeck. Die bis zu 7000 Liter Öl, die aus einem einzigen Wal gewonnen werden konnten, wurden in Fässer gefüllt und schließlich durch die Hauptluke in den Schiffsladeraum hinabgelassen. Der gesamte Auswertungsprozess (trying out) dauerte drei Tage und Nächte und verbreitete einen penetranten Gestank. Der abgeschälte Walkadaver wurde am Ende vom Schiff abgekettet und den Haifischen und Seevögeln überlassen. Abschließend musste das mit Blut, Fett und Tran beschmierte Deck, die Wanten, Spaten, Kessel, Gabelstangen und Schöpfpfannen von der gesamten Mannschaft gereinigt werden, bevor die Prozedur beim nächsten Fang von vorne anfing (Vincent, 329–341).


Walfangschiff „Charles W. Morgan“ (1848)

Die Jagd und Erlegung des Wals war die aufregendste und gefährlichste Phase. Während heute die Walfänger ihre Harpunen mit Kanonen auf die aufgetauchten Wale abfeuern, erfolgte die Waljagd zu Melvilles Zeiten von acht Meter langen Fangbooten aus. Fünf Ruderer brachten unter Anleitung des Bootssteuermannes die Boote an jene Stelle, wo ein Wal zuletzt abgetaucht war. Bei seinem Wiederauftauchen versuchte der im Bug stehende Harpunier, die mit Widerhaken versehene Harpune durch einen kraftvollen Wurf im Walkörper zu versenken. Da die Walleine in fester Verbindung mit einer Haspel im Fangboot stand, war dies ein riskanter Augenblick. Häufig nahm das verwundete Tier panikartig Reißaus und zog das Boot mitsamt der Mannschaft in einer rasanten „Schlittenfahrt“ mit bis zu 40 Stundenkilometern hinter sich her. Wenn der Wal zu tief abtauchte, musste die Walleine gekappt und der Fang aufgegeben werden. Manche „Walveteranen“ konnten mehrere Male entkommen und ihre Körper waren über und über mit Harpunen und Lanzen bespickt. Erst wenn den harpunierten Wal die Kräfte verließen, konnte er mit mehreren Lanzenstößen in die Lunge getötet werden. Eine blutige Fontäne aus dem Blasloch war das untrügliche Zeichen seines bevorstehenden Todes. Die an der Wasseroberfläche treibende Walleiche wurde mit einem roten Wimpel markiert, bevor sie vom Hauptschiff aufgenommen wurde. Eine Waljagd konnte auch tragisch enden, wenn der Wal im Todeskampf mit seiner riesigen Schwanzflosse das Fangboot zum Kentern brachte, es zerschmetterte oder im schlimmsten Fall das Walfangschiff selbst attackierte.

Melville war an den meisten Tätigkeiten außer dem Harpunieren beteiligt, etwa als Ruderer in einem Fangboot oder bei der Trangewinnung. Es war harte Knochenarbeit und ließ zusammen mit dem Auftakeln und Reffen der Segel, dem Ausspähen der Wale vom Ausguck sowie den vielen Wartungs- und Reinigungsarbeiten wenig Zeit zur Muße. Nach ununterbrochenen sechs Monaten auf See verschlechterte sich die Stimmung an Bord drastisch. „Sechs Monate kein Land gesichtet“, so beginnt Melville seinen ersten Roman Typee, „auf der Jagd nach dem Pottwal unter der sengenden Sonne des Äquators, auf den Wogen des weithin rollenden Stillen Ozeans umhergeworfen – den Himmel über uns, die See um uns, und weiter nichts. Schon vor vielen Wochen war unser ganzer frischer Proviant aufgezehrt“ (T, 13). Auf den wachsenden Unmut der Mannschaft reagierte der Kapitän mit rigorosen Maßnahmen, und nur die Aussicht auf einen bevorstehenden längeren Aufenthalt auf der legendären Marquesas-Insel Nukuhiva konnte die Missstimmung im Zaum halten:

Die Marquesas! Welch einzigartige Visionen exotischer Dinge gaukelt uns schon der bloße Name vor! Begehrenswerte Huris – Kannibalengelage – Korallenriffe – tätowierte Häuptlinge und Bambustempel; sonnige Täler mit Brotfruchtbäumen – geschnitzte Kanus, die auf dem leuchtend blauen Wasser tanzen – finstere Wälder, von schrecklichen Götzenbildern bewacht. Das waren die seltsam verworrenen Erwartungen, die mich auf der Fahrt von unseren Fanggründen verfolgten. Mich ergriff ein unbezähmbarer Drang, jene Inseln zu sehen, die von den Weltreisenden der Vergangenheit in so glühenden Farben geschildert worden waren. (T, 16)

An den Abenden zogen sich die Seeleute nach dem Verzehr von Zwieback und Pökelfleisch im verrauchten und dunklen Mannschaftsraum erschöpft in ihre Kojen zurück. Nur während der nächtlichen Wachdienste kam es gelegentlich zu Gesprächen. Zweifellos tauschten Melville und sein Seekamerad Richard Tobias Greene (Toby) bei solchen Gelegenheiten Gedanken über eine mögliche Desertion aus und schmiedeten Pläne. Als die Acushnet in die Hafenbucht von Nukuhiva in den Marquesas einlief, waren die beiden jedenfalls fest entschlossen „durchzubrennen“ (T, 36).

Das unerlaubte Verlassen des Schiffes oder das Überwechseln zu einem anderen war ein schwerer Verstoß gegen das Seegesetz und wurde, wenn ein Seemann dabei erwischt wurde, mit Kerker bestraft. Dennoch waren Desertionen von Walfangschiffen damals an der Tagesordnung. Bis zu 3000 entlaufene Seeleute trieben sich als „Strandläufer“ (beachcombers) auf den Inseln Polynesiens herum, wurden von den Eingeborenen zumeist freundlich aufgenommen und in vielen Fällen sogar zum Bleiben ermuntert. So überrascht es nicht, dass von den 25 Seeleuten, die 1841 auf der Acushnet in Fairhaven anheuerten, am Ende nur noch elf mit dem gleichen Schiff zurückkehrten. Auch in Nukuhiva desertierten neben Melville und Toby noch drei weitere Matrosen, wurden jedoch von der französischen Küstenwache aufgegriffen und auf das Schiff zurückgebracht. Melville fühlte sich trotzdem verpflichtet, sein Fehlverhalten vor den Lesern moralisch zu rechtfertigen: „Die Behandlung an Bord war tyrannisch“, schreibt er im zweiten Kapitel von Typee. „Die Kranken hatte man in unmenschlicher Weise vernachlässigt; die Lebensmittel wurden in kümmerlichen Rationen zugeteilt und die Fahrt wurde unbillig in die Länge gezogen. Schuld an diesen Missständen war der Kapitän“ (T, 37). Diese Darstellung entspricht nur zum Teil der Realität, denn Kapitän Pease war zwar ein Autokrat, aber zweifellos kein amerikanisches Gegenstück zum Bösewicht Bly auf der legendären britischen Bounty. Außerdem war Melvilles Wunsch, die Insel zu besuchen wie sein Cousin Thomas Melvill zwölf Jahre zuvor, zweifellos das stärkste Motiv für seine Desertion. Andererseits hatte Melville keinen allzu langen Aufenthalt im Sinn und wollte bei nächster Gelegenheit auf ein anderes Schiff überwechseln. Während die Acushnet weitere 17 Tage in der Hafenbucht vor Anker lag, desertierten Melville und sein Gefährte am 9. Juli 1842. Dies ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von Melvilles erstem Roman Typee: A Peep at Polynesian Life (1846; dt. Taipi) einsetzt.

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