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Kapitel 3

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Der entscheidende Satz – den ich erst nicht verstand

In der Regelschule ging es also jetzt für mich nicht weiter. So musste ich - zum Leidwesen meiner Eltern - im Sommer 1971 zur Sehbehinderten-Schule nach Dortmund wechseln. Ich wurde am Morgen gegen 06:00 Uhr mit einem Schulbus abgeholt, dann ging es zwei Stunden nach Dortmund und am Nachmittag wieder zwei Stunden zurück. Dies war für meine Eltern natürlich eine Katastrophe. Und für mich…

Wie man sich vermutlich vorstellen kann, war meine Lernbegeisterung in der Zwischenzeit eher auf dem Nullpunkt. So beschränkte sich mein Interesse zu der Zeit im Wesentlichen auf zwei Dinge: 1.) wie werde ich am schnellsten Millionär und 2.) wie finde ich am schnellsten ein Mädchen? Ich gebe zu, es waren zu der Zeit nicht die besten Voraussetzungen, um in der Schule erfolgreich zu sein. Aber – zu dieser Zeit hatte ich das große Glück, dass ich das Leben noch einigermaßen gelassen sehen konnte

Mit zunehmendem Alter, also mit der Pubertät, wurde es dann immer schwieriger, und die Phasen des „Traurigseins“ – heute würde man vermutlich eher dazu neigen, von Depressionen zu sprechen -, wurden immer stärker und häufiger.

Meine soziale Bindung zu meinem Heimatort Hemer war so gut wie aufgehoben - es gab sie nicht mehr. Dadurch, dass ich nicht mehr in dem Ort zur Schule ging, hatte ich auch keinen direkten Kontakt mehr zu den dortigen Jungen und Mädchen. Wenn es dann doch einmal passierte, dass sich einige Jungen zusammengefunden hatten, um beispielsweise im Sommer Fußball und im Winter auf einem kleinen See Eishockey zu spielen und ich aufgefordert wurde, als Mitspieler mitzumachen, was selten genug war, dann stand bereits meine Mutter hinter mir und holte mich rein, weil Mannschaftssport für einen „Sehbehinderten“ nicht gut sein konnte - nach ihrer mütterlichen Meinung. So etwas kommt natürlich bei Jungen in dem Alter unheimlich gut an – also war ich in meinem Heimatort mehr oder weniger alleine, und mit den Klassenkameraden in der Schule konnte erst gar kein richtiger Kontakt entstehen, da die eine in Lünen, der andere in Bergkamen und so weiter wohnten.

Auch wenn ich in Hemer keinen großen Kontakt zu den Jungen meines Alters hatte, so durfte ich doch von außen feststellen, dass sie in einer rasenden Geschwindigkeit an mir – in der Entwicklung – vorbeizogen.

Die Jungen fuhren mit ihren (Sport)-Vereinen an den Wochenenden zu Turnieren, hatten mit 15 Jahren fast alle ein Mofa und dann mit 16 Jahren ein Mokick oder besser noch ein Moped. Ich sah, wie sie durch den Ort fuhren, die Mädchen auf dem Rücksitz hielten sich eng angedrückt an ihnen fest, deren Haar im Wind wehte (zu dieser Zeit fuhr man selbstverständlich ohne Helm) und wusste, dass ich all diese Dinge niemals würde tun können. Sollte irgendwann einmal ein Mädchen Lust bekommen, mit mir zusammen sein zu wollen, was ich zu dem damaligen Zeitpunkt für nahezu ausgeschlossen hielt, dann könnte ich sie maximal zu einer Busfahrt einladen, was bei den damaligen Verkehrsverbindungen auch nicht besonders zielführend gewesen wäre.

Mit anderen Worten, ich machte mir mehr und mehr Gedanken – vielleicht eher sogar Sorgen – über (m)eine sinnvolle und lebenswerte Zukunft.

Als ich in der 10. Klasse war, also 1978, machten wir von der Schule aus eine Abschlussfahrt. Zu dieser Zeit fuhren die Schüler einer Abschlussklasse nach London, Amsterdam, Paris … Berlin war seinerzeit sehr angesagt. Und wir, wir fuhren im April, nach den Osterferien, in ein Kloster ins Sauerland. Das war natürlich der absolute Hit. Aber wohin wollte man auch fahren mit einer Klasse pubertierender sehbehinderter bzw. fast blinder Schüler? Da waren die Alternativen relativ begrenzt.

Ich erinnere mich noch ganz genau an diese Fahrt, sie sollte im Nachhinein mein Leben verändern.

Wir kamen am späten Vormittag in dem Kloster an und versammelten uns zunächst in einem großen Gemeinschaftssaal, in dem sich üblicherweise die Mönche zum Essen oder zu Gemeinschaftsgesprächen versammelten.

Wir nahmen rechts und links an dem Tisch Platz und vor Kopf stand der Abt – also der Chef des Hauses. Er erzählte uns ein wenig über die Historie des Hauses, über die Menschen, die dort lebten – über das, was wir in dem Kloster durften und vor allem darüber, was wir nicht durften. Der Abt beendete seine Ansprache mit dem Hinweis, dass er täglich in einem kleinen Zimmer, das er uns per Handzeichen zeigte, in der Zeit von … bis … (die Zeit weiß ich jetzt nicht mehr genau) saß und, wenn einer von uns reden möchte, dann könnten wir reden.

Nun hatten wir sicher in dem Alter alles Mögliche im Kopf, dazu gehörte aber sicher nicht, mit einem Geistlichen zu sprechen.

Aus irgendeinem Grund zog es mich dann doch am Tag vor der Abreise zu ihm. Ich stand vor dem Zimmer, klopfte an, ich erhielt Einlass. Da saß er nun, dieser weise, ruhige Mann in seiner Mönchskutte mit einem Buch in der Hand und einem Wasser vor sich auf einem kleinen Tisch. Auf der anderen Seite des Tisches stand noch ein leerer Holzstuhl, auf den ich mich setzte. Der Abt legte sein Buch zur Seite, stellte die Beine nebeneinander, faltete die Hände und begann das Gespräch mit den Worten: „Mein Junge, wie ist dein Name? Was bewegt dich?“

Ich sagte brav meinen Vornamen und begann zu erzählen. Ich berichtete ihm von meinen Sorgen und Ängsten, von meinen Wünschen und Träumen. In bildlicher Sprache erzählte ich davon, dass ich vermutlich nie eine Frau kennenlernen werde, die mich liebt und die ich lieben werde, dass ich nie einen Beruf bekommen werde, der mir Spaß machen wird und darüber, dass ich nie einen Führerschein machen kann, was zu diesem Zeitpunkt für mich besonders schmerzlich war.

Der Abt unterbrach mich nicht und hörte mir sehr aufmerksam zu. Als ich fertig war und zu sprechen aufhörte, entstand eine kurze Pause des Nachdenkens. Er schaute einen Moment aus dem kleinen Fenster, nahm sein Glas Wasser und nippte kurz daran und dann sagte er folgendes – fast wörtlich: „Weißt du, Axel, all das, was du mir hier sagst, kann ich nicht nachvollziehen. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht gut sehen zu können – ich kann sehen. Ich weiß nicht, wie es ist, keinen Beruf zu finden, der keinen Spaß macht – ich habe meine Berufung gefunden und bin glücklich dabei. Ich weiß nicht, wie es ist, keine Frau zu bekommen – ich bin Mönch und für mich stellt sich diese Frage nicht. Und ich weiß nicht, wie es ist, keinen Führerschein zu haben – ich habe eine Fahrerlaubnis, habe ein Auto und kann, wenn ich möchte, hinfahren, wohin und wann ich will. ABER – eines weiß ich genau: es gibt keinen Menschen auf dieser Erde, der nichts hat. IRGENDETWAS HAT JEDER. Der eine ist zu groß – der andere zu klein. Der eine ist zu dünn – der andere zu dick. Wie auch immer – irgendetwas hat jeder und du (da er Geistlicher war, hat er es entsprechend christlich ausgedrückt) hast von dem lieben Gott die Augen bekommen, die du hast. Frage nicht warum und weshalb – es ist, wie es ist. Und nun lebe damit und fertig …! Auch du wirst irgendwann einmal eine Frau kennenlernen, die dich liebt. Auch du wirst eine Arbeit finden, die dir Spaß macht und, wenn du keinen Führerschein machen kannst, dann fahre mit dem Bus oder deine Frau wird Dich fahren – Punkt. Konzentriere dich auf das, was du kannst und bist und nicht auf das, was du nicht kannst und nicht bist …!“

Ich bin aufgestanden, denke, dass ich mich nicht einmal bedankt habe und dachte bei mir: na super – das hat mir ja nun wirklich sehr geholfen – war ein tolles Gespräch. Ich denke, dass ich den Inhalt des Gespräches genauso schnell wieder vergessen hatte, wie es gedauert hat.

Nie habe ich auch nur mit irgendjemanden darüber gesprochen, dass ich bei diesem Abt war und ich denke, dass ich noch nicht einmal darüber nachgedacht habe.

Es dauerte fast zehn Jahre, da fiel es mir in einer bestimmten Situation wieder ein und es sollte meine Einstellung zu mir und meiner Behinderung im Allgemeinen und zum Leben im Besonderen verändern.

Dazu später mehr.

Es ist, wie es ist - ich bin, wie ich bin

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