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Der Ruf der Freiheit

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An einem sonnigen Maitag – man konnte selbst in der Straße, in der Khaled wohnte, den Atlantik riechen – verließ der frisch gebackene Abiturient mit einer Dokumentenmappe unterm Arm das Haus. Auf der Straße spuckte er aus. Er ekelte sich vor sich selbst, wenn er sich sein eigenes Gesicht in diesem Moment vorstellte. Das, was er nun auf dem Boden sehen konnte, entstammte seinem Mund. Sein Gesicht öffnete sich, um diese schleimige Substanz aus seinem Rachen, durch den auch seine Stimme gehen musste, loszuwerden.

Der Geruch, den er sich auf diese Weise regelrecht vom Hals schaffen wollte, entströmte der Glut aus der Schale, die seine Nachbarin, die Hellseherin Mina, Tag für Tag auf die Treppe stellte. Früh am Morgen begann diese, die als Hexe verschrien war, mit ihren unheimlichen Tätigkeiten, so dass Khaled jedes Mal, wenn er die Treppe benutzte, an der Schale vorbeimusste. Die Glut darin verströmte den Geruch von verbrannten Mäusehäuten, menschlichen Nägeln, Schlangenhäuten, Federn seltsamer Vögel und Stacheln von Igeln. Khaled konnte die Gerüche der organischen Fragmente, deren Herkunft seine Mutter ihm verraten hatte, nicht voneinander unterscheiden, aber die Mischung stieg ihm jedes Mal aufs Neue unangenehm in die Nase. Und der Rauch ängstigte ihn, vor allem, wenn er an die Partikel der Schakale dachte, die sich auch darin befanden. Der Geruch eines Schakalhirns versetzte Khaled immer in völlige Verunsicherung.

Auf der Straße angekommen, atmete er tief durch, verfluchte jegliche Art von Unwissenheit, wie sie durch diese abergläubischen Rituale zum Ausdruck kamen, und zündete sich eine Zigarette an. Tief sog er den Rauch ein und ging dann die Straße hinunter, nach rechts und links grüßend. Alle waren da, wie immer, wie jeden Tag: Ba Lahcen, der Minzverkäufer, Mustafa, der Fleischer, Ba Khdim, der Gemüsehändler, Ba Mohammed, der Krämer, Ba Lâarbi, der Obsthändler, Cham, der Tischler an der Ecke und Aziz, der einzelne Zigaretten verkaufte und den Spitznamen deutscher Affe trug.

Aziz hockte wie stets an seinem kleinen Tisch, einen Joint in der Hand. Khaled hatte ihn noch nie anders gesehen; zu jeder Tageszeit beobachtete er die Menschen, die die Straße bevölkerten. Abgesehen von ihm und Ba Lahcen hielten sich die anderen Händler in ihren Geschäften auf.

„Labas?“ Ba Mohammed grinste ihn an. Khaled nickte ihm zu.

„Salam Aleikum!“

Geht’s dir gut – Friede sei mit dir … Khaled liebte es, die alten, heiseren Männerstimmen zu hören, ihre aus den alten Körpern hervorgestoßenen Grüße und Rufe. Jede dieser Stimmen war einzigartig und dennoch flüchtig: Mustafas war eher energiegeladen und von einem schnellen Sprechtempo geprägt, sowohl der Obstverkäufer als auch der Gemüsehändler sprachen hingegen langsam. Diese beiden, mit der Zeit wie die Gesichter ihrer Sprecher faltig und narbig gewordenen Stimmen waren die ältesten der Straße.

Ba Mohammed tat offensichtlich gut daran, Nichtraucher zu sein, denn das schonte seinen Kehlkopf und seine Stimmbänder vor Entzündungen und bescherte ihm eine wohlklingend weiche Stimme. Aziz, der Zigarettenverkäufer, hingegen klang trotz seines jungen Alters immer überlegend und verschrumpelt. Cham wiederum hatte eine spontane und klare Stimme. Wenn er sich von anderen umgeben sah, lächelte er und grüßte mit lebhafter, aufgeweckter Gestik, den Kopf aufrecht, den Rücken gerade und die Brust nach vorne geschoben.

Khaled hielt sich einen Moment bei ihm auf, um mit gedämpfter Stimme – so wie die Tradition es erforderte – ein bisschen über Politik zu sprechen und anschließend umso aufgebrachter und lauter über Fußball. Dann setzte er seinen Weg fort und ließ die Geräusche des Frühlings durch seine Ohren strömen.

Der Tag versprach, lebhaft zu werden. Khaled legte seinen üblichen Halt bei Ba Lahcen, dem Minzverkäufer, ein, der immer als erster von allen Händlern seinen Platz einnahm. Dieser rätselhafte alte Mann mit seinem runden Gesicht, seinen kleinen Augen unter den schütteren Brauen und seinem spitzbübischen, frechen Blick rief gleichzeitig Furcht und Bewunderung bei allen Bewohnern des Viertels hervor. Er faszinierte die Menschen um sich herum; alle wollten sich in seiner Nähe aufhalten.

Niemand wusste, wann Ba Lahcen aufstand, noch, wie es ihm gelang, sich mit einer solch großen Menge von Minze und Absinth zu versorgen. Man erzählte sich, dass er in einer Villa nahe dem Hermitage-Park wohne und dass er Verbindungen zu sehr einflussreichen Familien pflege. Was ihn noch rätselhafter machte, war, dass man ihn noch nie mit den Vertretern der örtlichen Autoritäten oder mächtigen Personen gesehen hatte. Trotzdem, das wussten alle, waren sie da und verfolgten, ohne sich zu zeigen, sein Reden und Handeln. Auch Ba Lahcen wusste es und verhielt sich entsprechend der Vorstellungen, die man sich im Viertel von ihm machte.

Wenn man morgens aufstand, saß er bereits auf seinem Hocker hinter einem Berg von sorgfältig aufgeschichteten Pfefferminzbündeln. Von seiner Ecke aus war es Ba Lahcen leicht möglich, alles zu beobachten, ohne seine kleinen Augen zu sehr anzustrengen, obwohl sie sich unaufhörlich schnell und unregelmäßig bewegten.

„Salam aleikum, Ba Lahcen.“

„Aleikum salam, Khaled. Möchtest …Tee …“

Khaled hatte nur das Wort „Tee“ vernommen, denn der Alte hatte eine flüchtige, pfeilschnelle Stimme. Sie wurde nie laut und schien trotz ihrer Flinkheit ständig zu zögern. Weder Wut noch in ihrer Folge ausgestoßene Beleidigungen änderten daran etwas.

Ba Lahcen, dieser gewandte Sprecher, reichte Khaled, der sich neben ihn gesetzt hatte, nun stumm ein Glas Tee.

Obwohl ihm klar war, dass er einen erneuten vergeblichen Versuch unternahm, wollte der junge Mann den Urzustand dieser Stimme erfassen. Wieder einmal gelang es ihm nicht.

Als er schließlich aufstand, um seinen Weg fortzusetzen, machte er sich Vorwürfe.

„Das muss aufhören, und zwar sofort“, überlegte er laut. „Ich darf den alten Mann nicht auf seine Stimme reduzieren. Sie ist natürlich außergewöhnlich, aber jeder versteht ihn. Man muss eben aufmerksam zuhören, wenn man die interessanten Gechichten, die er zu erzählen hat, erfahren will. Die anderen lachen immer, wenn sie ihm zuhören, und ich tue nichts anderes.“

Khaled bog in die erste Straße rechts ein und ging dann durch die Straße Nummer 10, die zur Moukataa führte, der Stadtverwaltung seines Viertels El Fida Mers Sultan. Als er etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, kam er an dem kleinen öffentlichen Park vorbei, der als Verkehrsinsel diente, und setzte sich eine Weile gedankenversunken auf eine Bank. Kurz darauf erhob er sich wieder, fixierte den Boden und ging müden Schrittes und mit gekrümmtem Rücken geradewegs auf die Stadtverwaltung zu.

Vor dem Gebäude zogen die drei Maulbeerbäume neben dem Haupteingang seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren völlig kahl. Die Trockenheit hatte sich unübersehbar über das ganze Land verbreitet und nichts verschont.

Ein unverschämter Polizist mit Maschinengewehr und Patronengurt stand am Eingang. Khaled lachte spöttisch über den Anblick und ging auf den Wächter zu.

„Salam aleikum! Entschuldigen Sie bitte, kann ich den Caid sprechen, den Chef der Verwaltung?“

Der Polizist betrachtete ihn ungerührt. „Wer sind Sie und was wollen Sie?“

„Ich würde gerne meinen Pass beantragen, weil ich gerade mein Abitur gemacht habe und möchte gerne …“

Der Polizist wendete den Blick ab und spuckte auf den Boden, bevor er keifte: „Hau ab, kleines Arschloch, oder ich schieße dir die Eier weg!“ Gleichzeitig stieß er sein Maschinengewehr in Khaleds Magen. Khaled machte einen Schritt zurück, sah aber trotz seiner Angst dem Polizisten in die Augen. Als er das von der heißen Sonne fast glühende Gewehr in der Nähe seines Geschlechts spürte, zuckte er zusammen.

Seine Angst verstärkte sich noch, als der Atem des Wachpostens sein Gesicht anwehte. Eine flüsternde Stimme, die aus dem Brustkorb dieser Bestie aufstieg, übersäte Khaled mit wüsten Beschimpfungen. Heiß und nach Tabak und leerem Magen stinkend, war der Atem ekelerregend.

Mit klopfendem Herzen betrat Khaled das Gebäude und fand sich zunächst in einem kalten, grauen Flur mit einfachem Mosaik wider. Das ununterbrochene Kommen und Gehen von Angestellten und Bürgern schuf ein ständiges Getöse, und das Geflüster der vielen Menschen vereinigte sich zu einem einzigen, unregelmäßigen Gesang.

Dieser stieg zur hohen Decke auf, um kurz darauf wie eine Schar heruntersausender Pfeilspitzen die Ohren zu durchbohren.

Die Schlange vor dem Schalter, an dem Khaled sich anstellen musste, war unendlich lang. Er wartete über drei Stunden, dann ging er zurück nach Hause. Noch war das Mittagessen nicht fertig, und so legte Khaled eine kleine Pause bei Ba Lahcen ein, der Witze erzählte, deren Details Khaled nicht immer verstand. Die Sonne war dabei, jeden Winkel der kleinen Straße zu erobern.

Ein großer, kräftiger Mann, der eine schneeweiße Djellaba, das traditionelle, kaftanartige marokkanische Gewand, und einen roten Fez trug, ging an ihnen vorbei und grüßte alle Händler mit einem Nicken. Er unterschied sich von den anderen Männern vor allem durch die Form seines Schnurrbartes. In seiner Person vereinigten sich Autorität und Dekadenz. Ba Lahcen stand ungewöhnlich schnell auf, küsste ihm die Hand und kehrte an seinen Platz zurück. Versonnen sah er dem Mann nach.

„Wenn man ihn sieht, könnte man ihn für einen Minister halten. Aber in Wahrheit ist er ein jämmerlicher Zuhälter“, sagte der Alte zu Khaled und beide brachen in Gelächter aus.

Dieser mächtige Mann aus Oujda, der Wirtschaftsmetropole ganz im Osten des Landes, war der neue Ehemann der Hellseherin Mina, die eine Etage unter Khaleds Familie wohnte. Auch wenn sie seine vierte Ehefrau war, gelang es nur ihr, ihn zappeln zu lassen. Immer wenn ihr danach war, ihn zu sehen, bestellte sie ihn ganz nach ihrem Belieben zu sich. Sie entfachte sein Feuer und er tanzte so lange vor seinen anderen Frauen und Kindern herum, bis er den nächsten Flug nach Casablanca genommen hatte.

Gleich nach seiner Ankunft aber war Minas Feuer meist schon wieder erloschen. Der Fremde verströmte einen Geruch von Amber und Aloe, der sich im ganzen Haus breitmachte und so jedes Mal den Geruch nach Moschus und den köstlichen traditionellen, aber fettigen Gerichten vertrieb.

Weil Khaled nun schon der Magen knurrte, verabschiedete er sich von Ba Lahcen, stieg schnell die Treppe hinauf und betrat durch die immer offenstehende Tür in der zweiten Etage die Wohnung. Als er seine Mutter sah, umarmte er sie.

Seine Schwester Khadija, die dabei war, den Flur zu wischen, verbot ihm, das Wohnzimmer durch den Flur zu betreten. Er regte sich erst auf, beruhigte sich aber schnell, als er an ihr Schicksal dachte. Khaled saß auf einem Hocker in der Küche und wartete darauf, dass der Boden trocknete. Khadija tat ihm immer Leid. Sie war älter als er und hatte schon die meisten der schönen Ereignisse, die ein junges Leben prägen, hinter sich gelassen. Nach der Mittleren Reife im Collège Prince Sidi Mohamed hatte sie sich entschieden, eine Ausbildung als Bäckerin im Maarif – einem modernen und schicken Viertel in Casablanca – zu absolvieren.

Nur einige Wochen hielt sie durch, bevor sie, ohne eine Erklärung abzugeben, das Handtuch warf. Nun half sie wieder, wie schon jahrelang zuvor, ihrer Mutter im Haushalt.

Khadija war nicht hübsch und ihre dicke Brille trug nicht gerade zu ihrem Charme bei, denn das billige Gestell, welches man hatte bezahlen können, saß unvorteilhaft auf ihrer dicken Nase und machte das Gesicht hart. Hinter der Brille glänzten ihre schwarzen und immer lachenden Augen. Sie mochte Khaled gern. Er fand sie schlau. So wie das Äußere der Schwester durch die Brille dominiert wurde, war es ihre Art zu sprechen, die den ersten Eindruck ihres Wesens unterstrich. Khadija sprach so schnell, dass man immer glaubte, ihre Sprache käme ihr selbst zuvor. Das lag wahrscheinlich daran, dass die blitzschnell hervorgestoßenen Wörter nicht genauso schnell von Emotionen begleitet werden konnten. Während sie redete, blieb ihr Gesicht deshalb neutral. Sie schien von allem, was durch ihren Hals herausfloss, überrollt zu sein, die Kontrolle über alles, was sie sagte zu verlieren. Auch wenn sie merkte, dass die anderen sie nicht nur wegen der enormen Geschwindigkeit des Gesprochenen, sondern auch wegen der fehlenden Gemütsbewegungen oft nur schlecht verstanden, bremste sie sich nicht. Sie war gleichgültig.

„Mama, ich habe Hunger“, sagte er erwartungsvoll.

„Ein bisschen Geduld musst du noch haben, mein Sohn. Aber es dauert nicht mehr lange. In einer halben Stunde werden wir sicher essen können. Ruh dich solange im Wohnzimmer aus, der Tee wartet dort schon! Nimm dir ein Glas.“

Nachdem er ein paar Schlucke des köstlichen Getränks zu sich genommen hatte, das niemand so gut zubereiten konnte wie seine Mutter, döste Khaled ein wenig auf dem komfortablen Sofa ein. Plötzlich wurde seine Ruhe durch ein raues Husten, das wie das Bellen eines großen Hundes klang, gestört. Khaled kannte dieses Geräusch, welches tief aus dem Hals seines Bruders Houssine kam, und er verfiel in eine unermessliche Traurigkeit, als er daran dachte, dass Letzterer sein fensterloses, dunkles, kleines Zimmer eigentlich nur noch verließ, um zur Toilette zu gehen oder in die Küche. Immer wenn er sich in dem kleinen Flur vor der Küche aufhielt, nahm er tiefe Züge von seiner Zigarette und kniff dabei die Augen zusammen, um sie vor dem scharfen Qualm zu schützen. Er sprach nicht viel, aber wenn er etwas sagte, dann enthüllte seine Stimme nicht nur seine Atmung und seinen Husten, sondern auch die Narben seiner Erfahrungen. Dennoch liebte er es, seinem jüngsten Bruder Khaled von der Zeit seiner Strandabenteuer mit den Hippies in Spanien zu erzählen.

Seit geraumer Zeit schon hatte Houssine nicht mehr die klare Haut und die feinen Züge, die ihn so sanft erscheinen ließen. Sein Gesicht war nun von Falten gezeichnet, die an Haschisch und Second-Hand-Kleidung denken ließen – müde und verbraucht. Der einsame Aufenthalt in seinem Zimmer am Ende des Gangs trug dazu seinen Teil bei.

Houssine verbrachte seine Zeit mit Schreiben: er kombinierte Buchstaben, formte Wörter, Texte – aber ohne Wert. Auf seine Weise komponierte er und hörte damit auf, wenn er wollte. Manchmal passierte es ihm, dass er den Larousse (Großwörterbuch für Französisch) nahm, ihn zufällig aufschlug und alle Wörter aufschrieb, die er auf der völlig willkürlich geöffneten Seite sah. Morgens arbeitete er dennoch oft nach einer präzisen Methode: nachdem er irgendein Wort aufgeschrieben hatte, erklärte er es. Er war davon überzeugt, dass jedes Wort auf ein anderes verweist. Nicht mehr.

Während er die Erklärung aufschrieb, stieß er auf das nächste Wort, welches es nun zu erklären galt und so fort. Dieses Spiel endete nie und auch wenn die Aufgabe auf Außenstehende verrückt wirkte, ließen alle Houssine in Ruhe, wenn er sich ihr hingab, denn er schien zufrieden und wiegte sich in der Gewissheit, dass nur er diese Wahrheit entdeckt hatte.

Nachdem Khaled zu Mittag gegessen hatte, machte er sich erneut auf den Weg zur Verwaltung. Nach weiteren drei Stunden Wartezeit befand er sich endlich unmittelbar vor dem Schalter aus furnierten Brettern. Er beugte sich ein wenig nach vorne, um durch das Loch zu schauen, das als Öffnung diente und einem misslungenen Bogen glich.

Der kleine Bogen war so gestaltet, dass man nur den unteren Teil des Verwaltungsangestellten erblickte. Der junge Mann hörte ein Geräusch und identifizierte schließlich einen schwarzen Schnurrbart zwischen zwei weiten Nasenlöchern, darunter wulstige Lippen. Als diese sich öffneten, sah Khaled einen halben Sfenj – eine Art Pfannkuchen – in der Mundöffnung verschwinden, die sich sofort wieder schloss. Anschließend wurde ein Glas Tee in den Schlund geschüttet, der sich immer wieder auf primitive Art und Weise öffnete, um den Sfenj, Zähne, Zahnfleisch und Zunge unter einem provozierenden Geräusch zu befeuchten. Besonders ekelte es Khaled, als er sah, dass Teile des Gebäcks zwischen den zum Teil schwarzen Zähnen hängen blieben. Glücklicherweise blieb ihm der Anblick der oberen Gesichtshälfte erspart.

Nachdem alles verschlungen war, entfuhr dem Mund ein Grunzen: „Was willst du?“ Die vulgäre Art der Fragestellung verriet die Herkunft des Mannes.

„Ich möchte einen Reisepass beantragen“, sagte Khaled mit fester Stimme.

„Das geht hier nicht“, wies der Angestellte ihn barsch ab. „Da bist du hier falsch.“

Khaled seufzte in sich hinein. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass sein Anliegen unter fadenscheinigen Gründen zurückgewiesen werden würde. Es war allgemein bekannt, dass die Besitzer eines solchen Dokuments sich nach Flucht und Wohlstand sehnten. Auch ihm, glaubte Khaled, würde ein Reisepass Zugang zu Freiheit und Ausschweifungen gewähren. Die, denen der Antrag verwehrt wurde, fühlten sich immer zurückgelassen. Aber leider waren sie in der Mehrheit – die meisten, die einen Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses stellten, wurden abgewiesen. Oder aber man schickte sie endlos lange zwischen Moukataa, Kommissariat, Präfektur und Gericht hin und her, um ihnen dann zu erklären, dass einige Dokumente neu erstellt werden müssten, weil sie ihre Gültigkeit verloren hätten.

Hier ging es offenbar um Macht, die dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, dass man die Antragssteller erst warten und dann wieder zwischen den Institutionen hin- und herlaufen ließ – bis sie schließlich aufgaben.

Aber Khaled würde nicht aufgeben. Geduldig sah er zu, wie der Angestellte ein Dutzend Dokumente auf ein schmuddeliges Stück Papier notierte, die Khaled an den verschiedensten Stellen besorgen sollte. Er bedankte sich höflich, nahm den Zettel und ging davon.

Wie immer aß Khaleds Familie spät zu Abend und er nutzte die Zeit des Wartens, um noch einmal auf die Straße hinunter zu gehen. Dort setzte er sich neben Ba Laawni, den alten Kaktusfeigenverkäufer. Über ihn sagte man, dass er erst spät in seinem Leben aufgewacht sei. Mit 70 Jahren hatte er sein kleines Dorf in der Umgebung von El Jadida verlassen, um sich in Casablanca niederzulassen. In diesem Alter hatte er seine uralte Sebsi – seine kleine Haschpfeife – zerstört und angefangen, Joints mit jungen Kleinkriminellen zu rauchen.

Es war mittlerweile schon nach elf, aber immer noch herrschte reger Betrieb auf der Straße. Ein Auto hielt vor Ba Laawnis Karren an und ein etwa vierzigjähriger Mann stieg mit einem leeren Tablett in der Hand aus.

„Davon!“, sagte er, deutete auf die Kaktusfeigen, die Ba Laawni vor sich ausgebreitete hatte und nickte Ba Laawni zu.

Ba Laawni nahm sein Messer, mit dem er sorgfältig die stachelige Schale der Früchte entfernte, so dass der Kunde sie auf sein Tablett legen konnte, ohne in Kontakt mit den kleinen Stacheln dieser köstlichen Früchte zu kommen. Bei dieser Zeremonie geht der Verkäufer seiner Arbeit normalerweise so lange nach, bis der Kunde ihm, wenn er die gewünschte Anzahl von Kaktusfrüchten erhalten hat, signalisiert, dass seine Arbeit beendet ist. Dann erst werden die Früchte gezählt und der Preis ausgehandelt.

Bei Ba Laawni aber war es anders. Nachdem er bereits eine beträchtliche Menge Früchte von ihrer Schale befreit hatte, warf er, ohne dass der Kunde etwas gesagt hatte, sein Messer in einen kleinen Wassereimer. „Das reicht für dich“, sagte er, ohne seinen Kunden anzusehen.

„Was fällt dir ein?“ Der Kunde runzelte die Stirn. „Schäl weiter. Ich zahle dafür und werde noch 10 Dirhams drauflegen.“

„Hau ab mit deinen Dirhams“, brummte Ba Laawni. „Sogar meine Eier sind schon voller Stacheln und du wirst mich sicher nicht davon befreien!“

Alle Umstehenden brachen in lautes Gelächter aus, bis auf den Alten, der sich gelassen einen Joint anzündete.

Auch Khaled hatte nicht gelacht. Er saß nachdenklich und nur ein wenig schmunzelnd da und sah zu, wie der wütende Kunde einige Dirhams vor Ba Laawnis Tisch in den Staub warf und sich mit seinen Kaktusfrüchten davonmachte.

Eines Tages würde er diese Straße, dieses Land verlassen. Vielleicht würde er zurückkehren, aber, das spürte er deutlich, fürs Erste musste er fort.

Khaled ging nach oben, wo inzwischen das Abendessen nur noch auf ihn wartete. Seine Mutter und seine Schwester schlürften im Wohnzimmer heißen Pfefferminztee. Dass der Fernseher lief, hielt sie nicht davon ab, zu reden und zu lachen. Houssine hielt sich in seinem Zimmer auf und von Zeit zu Zeit hörte man ein Niesen von Ba Miloud, dem Familienoberhaupt.

Khaled sah seinen Vater nicht oft, aber dessen Anwesenheit in der Wohnung vermittelte wohl allen eine gewisse Sicherheit und trug zu einem angenehmen Gefühl der Ruhe bei. Ba Miloud verließ früh am Morgen das Haus und kehrte nicht vor 18 Uhr zurück. Er war Fahrer des Leichenwagens der städtischen Kommune Derb Ghallef. Dieser Mann, der fast das Rentenalter erreicht hatte, strahlte eine unglaubliche Ruhe und Sanftheit aus, sein Gesicht war stets von einem freundlichen Lächeln geprägt. Er vermied jeden unnötigen Konflikt und das waren seiner Meinung nach die meisten.

Wenn er von der Arbeit kam, wärmte seine Frau Mi Hlima ihm das Essen auf, welches sie ihm in seinem Zimmer servierte, wo dafür extra ein kleiner Holztisch und ein Stuhl bereitstanden. Er aß nie mit den anderen. Das Privileg einer Mahlzeit ohne Kindergeschrei und viel Gerede hatte er sich nie nehmen lassen.

Nach dem Abendessen ging Ba Miloud immer auf die Terrasse, wo er die rituellen Waschungen vornahm, bevor er sich anschließend dem Gebet widmete. Anschließend verbrachte das Familienoberhaupt den Abend vor dem Transistorradio. Khaled hatte viel darüber nachgedacht, warum sein Vater sich oft zurückzog und nicht viel sprach und hatte für sich einen Grund gefunden: Ba Miloud wollte vielleicht vermeiden, seine Umgebung zu stark durch seine Anwesenheit und seine Stimme zu prägen. Diese Erklärung machte den jungen Mann unendlich traurig.

Nachts, wenn alle Lichter gelöscht waren und die Familienmitglieder begonnen hatten, ihre Schlafplätze zu wärmen und die Augen geschlossen hatten, lauschten die Kinder, die inzwischen junge Erwachsene geworden waren, immer noch – wie seit vielen Jahren – den Stimmen ihrer Eltern, die vom Wohnzimmer aus zu hören waren.

Manchmal vernahmen sie, dass es um sie ging, um Urlaubspläne oder nahe Verwandte. Mi Hlima erzählte auch allabendlich ihrem Mann, wie der Tag zuhause verlaufen war. Khaled liebte diese Momente, in denen er mit geschlossenen Augen seinem akustischen Bauchgefühl freien Lauf ließ und die beiden Stimmen, die er so sehr liebte, auf ihn wirkten. Der Klang der Stimmen seiner Eltern vermittelte stets deutlich ihre Stimmung: Glück, Verdrossenheit oder auch Traurigkeit. Wie viel deutlicher war doch diese Wahrnehmung im Dunklen, wenn sie nicht von Bildern überlagert war. Und trotzdem glitt Khaled schon nach kurzer Zeit in einen sanften Schlaf.

So auch heute.

Am folgenden Tag saß Khaled wieder in der Verwaltung und wartete, wie immer, lange. Als er mittags unverrichteter Dinge nach Hause gehen wollte, stand er plötzlich vor einer verschlossenen Tür. Die Nachricht war wie ein Fallbeil auf alle Anwesenden niedergegangen: Niemand durfte das Gebäude verlassen, ohne vorher Blut gespendet zu haben. Die Verwaltung hatte sich in kürzester Zeit in einen abgeriegelten Ort verwandelt.

Allgemeines Murren setzte unter den Wartenden ein, doch dann schienen sie sich in ihr Schicksal zu fügen. Unter den Augen der wachsamen Wachmänner stellten sie sich in der Warteschlange an, die zum Raum führte, in dem das Blut gespendet werden sollte.

Auch Khaled nahm seinen Platz in der Schlange ein. Während er seine wütend oder frustriert dreinblickenden Leidensgenossen beobachtete, dachte er darüber nach, wie dieses System ihn derart einschloss, dass er sich nur völlig unterwerfen konnte. Musste es soweit kommen? Gab es eine ebenso ekelhafte Strafe, wie die, die er gerade durchlebte? Musste man so weit gehen, ihm das Blut auszusaugen, um ihn gefügig zu machen?

Ein Befehl hatte gereicht, damit eine Vielzahl von Bürgern, die sich zufällig unter demselben Dach trafen, zu manipulierbaren Körpern wurde. Die Situation, die Khaled an diesem Tag erlebte, machte aus den Eingeschlossenen Organismen, die man benutzen konnte.

Er stellte sich die Menge von warmem Blut vor, sah all das Blut in Behältern, die von den Hilfskräften aus dem Spendenraum getragen wurden. Als alle Behälter vollgelaufen waren, schaffte man große Töpfe aus der Kantine herbei, um das ganze Blut aufzufangen.

Ein Brechreiz erregender Geruch waberte durch das Gebäude. Khaled köchelte einige Momente in einem Ekel, der bei ihm nach diesem Tag chronisch werden würde. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Obwohl ihm nun sein eigenes Blut in den Kopf stieg, so dass er befürchtete, ohnmächtig zu werden, fasste er Mut, indem er an seinen Reisepass dachte.

„Der Nächste!“ Ein junger Mann in einem schmutzigen weißen Kittel winkte ihn herein. Khaled richtete sich auf, schob sich den rechten Hemdsärmel hoch und ging auf den bequemen Sessel zu. Für meinen Reisepass dachte er und spürte, wie ein Lächeln der Befriedigung sich auf seine Lippen setzte.

Während der unfreiwilligen Blutspende nahm Khaled sich die Freiheit, sich seine Zukunft auszumalen. Schnell wurde ihm klar, dass er sich diese nicht ohne seine Mutter vorstellen konnte. Ihre Aufrichtigkeit, gepaart mit allen Eigenschaften einer guten Mutter machte sie zu einer außergewöhnlichen Hausherrin. Sie war immer da und so war es normal, dass Khaleds erstes Wort, egal zu welcher Zeit er nach Hause kam, Maman! war. Sie antwortete stets Oui, fiston. Diese Worte, die ihre Stimmbänder hervorbrachten, klangen in Khaleds Ohren wie die magischsten Töne, die eine bestimmte Fingerhaltung auf den Saiten einer Oud erzeugte.

Khaled nahm sich vor, ihr heute eine Freude zu machen.

Wieder zuhause angekommen, schlug er seiner Mutter Lalla Hlima und seiner Schwester Khadija vor, ein bisschen rauszugehen. Die beiden Frauen ließen sich, wie immer, wenn der Sohn und Bruder diese Idee hatte, nicht lange bitten und warteten gegen 20 Uhr darauf, dass es losging. Als der junge Mann sie sah, lachte er sie liebevoll an.

„Worauf wartet ihr? Lasst uns ein Taxi nehmen und nach Ain Diab fahren, oder habt ihr etwas Besseres vor?“

Mutter und Schwester lächelten schüchtern, standen auf und stiegen die Treppen hinunter. Auf der Straße beschleunigten sie ihren Schritt und gingen geradewegs auf den Taxistand zu, wo auch zufällig ein Fahrer auf neue Kunden wartete. Khaled fragte, ob er sie fahren wolle und stieg, nachdem der alte Mann freundlich akzeptiert hatte, zu ihm nach vorne ins Auto. Die beiden Frauen nahmen hinten im Wagen Platz.

Während sich zwischen Khaled und dem Fahrer sofort ein Gespräch über die letzten Fußballergebnisse entwickelte, wurden die Augen der beiden Frauen von den lebhaften Lichtern der Avenue 2 Mars beeindruckt. Schon länger hatten sie ihr Viertel nicht verlassen, denn es war immer nur Khaled, der ihnen einen eine kleine Flucht aus der Routine des Alltags ermöglichte, die darin bestand, das Frühstück vorzubereiten, für das Mittagessen einzukaufen und zu kochen und die Wohnung in Ordnung zu halten.

Als der Wagen sich Ain Diab näherte, wurde die Welt dort draußen glitzernd und fröhlich. Es war Zeit, auszusteigen und für eine kleine Weile ein Teil von ihr zu werden. Khaled zahlte und dann flanierten die drei wie alle anderen Menschen, die hier den Alltag hinter sich lassen wollten, die Strandpromenade auf und ab.

In Khaled stieg ein großes Glücksgefühl auf, als er Mutter und Schwester reden und lachen sah. Es war ihm plötzlich bewusst, wie wichtig so ein kleiner Ausflug für die beiden war. Wenn er sein Studium im Ausland beendet haben würde, das nahm er sich in diesem Moment fest vor, dann würde er, auch durch die entsprechende Kleidung, aus seiner Mutter und seiner Schwester zwei Damen machen, die sich in dieser Welt nicht mehr fremd und ein bisschen unsicher fühlen würden.

Khaled ging näher an seine Mutter heran und fasste sie bei der Hand, als wenn er geahnt hätte, dass sie von einer Art Trunkenheit erfasst wurde, die sich auch in ihrem Herzen warm ausbreitete. Die von der täglichen Hausarbeit schwielige Hand der Mutter ließ in keiner Weise auf ihren inneren Zustand schließen. Khaled dachte vielmehr an die vielen, auch harten Arbeiten, die die Mutter ganz selbstverständlich erledigte: Sie kalkte Wände, wusch das Getreide auf der Terrasse, wusch mit der Hand auch große, schwere Decken. Es wurde ihm eng ums Herz und er ließ die Hand seiner Mutter los. Er blickte sie kurz von der Seite an und schlug dann sofort die Augen nieder, weil er kaum ertragen konnte, sie in der alten Djellaba und den abgetragenen Sandalen zu sehen. Sein Traum, Ingenieur zu werden, um dieser Frau bieten zu können, was sie verdient hatte, musste sich erfüllen! Seine Zukunft würde er vielleicht unter einem anderen Himmel erleben, seine Familie hoffentlich unter anderen Farben und Gerüchen.

Schließlich war es Zeit, ein kleines Café aufzusuchen, wo Khaled den beiden Frauen ein Eis und sich einen Kaffee bestellte. Noch vom Spaziergang erfüllt, sprachen sie nun kaum und gaben sich damit zufrieden, sich lächelnd anzuschauen. Nach einer Weile genügte ein aufforderndes Nicken Khaleds, um seine Mutter und seine Schwester zum Aufbruch aufzufordern. Sie nahmen wieder ein Taxi und auch hier wurde nicht mehr viel gesprochen. Ihre Stimmen waren leise geworden, als wenn jeder mit sich selbst spräche.

Den Rest der Woche brachte Khaled nicht mehr die Kraft auf, sich um seine Papiere zu kümmern. Er bewegte sich hauptsächlich zwischen Wohnung und Terrasse, ruhte sich aus und unterhielt sich mit seiner Familie. Zunächst gab er sich auch damit zufrieden, den späten Abend mit ein paar fröhlichen Freunden auf der Straße zu verbringen. Allmählich aber entkam er seiner Lethargie und zeigte wieder sein übliches Lächeln.

Kurze Zeit später besuchte er Hassan, einen ehemaligen Schneider, der seinen Beruf aufgegeben und aus dem einstigen Laden seine Behausung gemacht hatte. Die Jalousie war immer zugezogen, außer wenn Hassan einkaufen ging. Trotz des großen Altersunterschieds – Hassan war in den Sechzigern und Khaled hatte gerade das Abitur bestanden – verband die beiden eine bemerkenswerte Freundschaft. Khaled mochte Hassan sehr für seine Art, die Dinge zu sehen, vor allem für seinen Sinn für Humor und für den Sarkasmus, mit dem er seine eigene Weltanschauung vertrat.

Durch mehrere Krankheiten, die Hassan in der letzten Zeit heimgesucht hatten, war er geschwächt und verließ sein Zuhause nur noch selten. Aus diesem Grund wurden die Besuche, die Khaled ihm abstattete, auch häufiger. Die anderen Nachbarn, die ebenfalls um Hassans Gesundheitszustand wussten, dachten oft an ihn. Zu jeder Mahlzeit klopfte eine kleine Hand an Hassans Tür, eine Kinderhand, die ihm einen Teil des Essens brachte, welches die Familie für sich selbst zubereitet hatte. Aus Gründen der Diskretion war der Teller immer mit einem weißen Tuch bedeckt.

Wenn die Jalousie bei Hassan ein wenig zugezogen war, damit das weiße Licht nicht eindringen konnte, so wollte er ein bisschen frische Luft hereinlassen. Für ihn verging die Zeit seit langem kaum.

Da Khaled wusste, dass sein Freund eine Vorliebe für Haschisch hatte, besorgte er es regelmäßig bei einem für die gute Qualität der Ware bekannten Händler. An diesem Tag bat er seine Mutter zudem, ihm alle Zutaten für einen gelungenen Pfefferminztee hinzustellen. Er erklärte ihr, dass er die Absicht habe, Hassan zu besuchen und den Tee bei ihm zuzubereiten.

„Wie geht es Hassan?“, fragte seine Mutter ihn mit einer Stimme, die tiefe Melancholie verriet.

„Besser. Leider verweigert dieser Sturkopf einen Arztbesuch.“

„Aber Tante Hnia sagte mir, dass sie nur zu den Kräuterhändlern auf dem Jemaa- Markt ginge, um alles Notwendige zu besorgen.“

„Das klingt gut, aber ein Arztbesuch bleibt …“ Khaled unterbrach sich selbst, um seine Emotionen zu kontrollieren.

„Tante Hnia schwört, dass die Kräuter die besten Heilmittel seien“, fügte Khaleds Mutter mit ängstlich zitternder Stimme hinzu.

Khaled zuckte mit den Schultern. Er wollte das Thema nicht weiter vertiefen. Stattdessen nahm er die Zutaten und legte sie vorsichtig auf das bereitgestellte Tablett. Seine Mutter sah ihm mit gerunzelter Stirn dabei zu, aber schließlich lächelte sie doch, ein melancholisches Lächeln, das Khaled anrührte.

„Viel Freude“, sagte sie und streckte die Hand aus. Ihr Sohn nahm sie und küsste sie leicht, dann lächelte er zurück.

Khaled schob Hassans Jalousie ein wenig hoch, damit er eintreten konnte, zog sie dann aber von Innen wieder hinab. Als er das Tablett auf einem kleinen Tisch abgestellt hatte, begann der Geruch der Minze unmittelbar, den dunklen Raum zu erobern.

Hassan lag auf seinem Bett und hörte Houna London, einen englischen Sender, der auf Arabisch ausstrahlte. Als er seinen jungen Freund sah, richtete er sich auf und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken.

Khaled begann mit der Zubereitung des traditionellen Pfefferminztees. Zunächst gab er den grünen Tee in die Kanne, goss heißes Wasser darauf und schüttete kurz danach den Sud ab. Dann stopfte er die Minze in die Kanne und fügte den zerschlagenen Zucker hinzu. Zuletzt goss er heißes Wasser in das silberfarbene Gefäß, kochte das Ganze noch einmal kurz auf und stellte es auf den niedrigen Tisch.

Um einen gelungen Tee zuzubereiten, musste man Geduld haben. Also warteten die beiden Männer ein Weilchen, bis Khaled schließlich zwei Gläser einschenkte. Dann stopfte er die erste Kiff-Pfeife, die er Hassan reichte. Hassan dankte ihm lächelnd und sog genüsslich den ersten Zug ein. An seinem alten Freund mochte Khaled besonders das sarkastische Lächeln, das von seinem Gesicht Besitz ergriffen hatte, als er noch jung war, um für immer dort zu bleiben.

Khaled lehnte sich zurück. „Ich habe ein Stipendium für ein Auslandsstudium“, sagte er.

„Glückwunsch! Das ist mal eine gute Nachricht“, entgegnete Hassan hustend. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er seinen wagemutigen und wissbegierigen Blick behalten. Mit einer etwas rauen Stimme fügte er hinzu: „Ich gehe davon aus, dass du nach Frankreich willst, oder?“

„Nein, ich werde in die DDR gehen“, entgegnete Khaled lachend.

Hassan hob die Brauen und reichte Khaled die Pfeife hinüber. „Das ist ja fabelhaft“, sagte Hassan sanft und schmunzelte.

Khaled nahm erneut die Teekanne und hob sie hoch über die Gläser, damit das Aroma herausströmen konnte, während die Melodie der goldigen Flüssigkeit sprudelte. Wieder überreichte er das erste Glas seinem Freund, schenkte dann auch sich ein und bereitete schließlich eine zweite Haschisch-Pfeife vor. Plötzlich eroberte jugendliche Frische Hassans müde, alte Knochen. Er erhob sich erstaunlich behände und kramte in einer Schublade herum.

„Was suchst du, Ba Hassan?“, fragte Khaled verwundert und hielt dabei den Rauch der Sebsi in seinen Lungenflügeln zurück.

„Ich würde dir gerne Inta Oumri von Oum Kalthoum vorspielen“, erklärte Hassan.

„Wo hab ich es nur?“ Während Hassan weiter suchte, begann er plötzlich, das berühmte Liebeslied mit seiner schwachen, ein wenig zitternden Stimme zu singen.

Khaled lachte und fiel mit ein. Einen Moment später fand Khaled, was er gesucht hatte. „Hier!“, rief er zufrieden und hielt die Cassette hoch. „Damit werden wir uns einen schönen Abend machen!“

Khaled nickte. Oum Kalthoum, die berühmte ägyptische Sängerin, war vor Jahren verstorben, genoss in der arabischen Welt aber immer noch einen überwältigenden Ruf. Khaled mochte ihre getragene Stimme, aber ihm war auch bewusst, dass Oum Kalthoum sich gegen viele Widerstände ans Licht gekämpft hatte. Als Tochter eines strenggläubigen Imans hatte sie viel Kraft aufwenden müssen, um ihren Vater dazu zu bewegen, ihr eine Gesangskarriere zu gestatten und vom Dorf in die Großstadt Kairo zu ziehen.

Khaled selbst hatte es da leichter, seine Familie unterstützte ihn bei seinen Plänen. Dafür legte ihm der Staat selbst Steine in den Weg.

Aber Khaled würde sich nicht klein kriegen lassen, das schwor er sich, während er die Pfeife aus Hassans Hand entgegennahm.

In der folgenden Woche hielt sich Khaled hauptsächlich zwischen seinem Zuhause, dem kleinen Laden von Hassan und den meistens gut gelaunten Freunden auf der Straße auf. Anschließend verbrachte er wegen eines Führungszeugnisses geschlagene drei ganze Tage im Kommissariat. Als er es endlich in den Händen hielt, baute sich auch schon die nächste Hürde vor ihm auf.

Die beiden nächsten Wochen stand er während der Öffnungszeiten vor den Türen der Stadtverwaltung. Das Warten dauerte und mit der Zeit vergrößerte sich auch die Angst, dass es erfolglos bleiben würde.

Eines Nachmittags ging Khaled aus Neugierde zum Gericht. Da dieses sich in der Nähe der Stadtverwaltung befand, sagte Khaled sich, dass es vielleicht nützlich sein könnte, das Gebäude von innen kennen zu lernen. Außerdem könnte es interessant und wichtig sein, den Verhandlungen direkt beizuwohnen.

Ohne Probleme betrat Khaled das Gerichtsgebäude und suchte sich seinen Weg zu den Gerichtssälen im oberen Flur. Dort war alles ruhig, die beiden großen Flügeltüren direkt am Anfang des Flures waren geschlossen. Khaled zögerte, dann öffnete er vorsichtig die Tür des Sitzungssaals.

Am anderen Ende des Raumes erblickte er den ganzen juristischen Apparat. Angeklagte, Anwälte, Zeugen und Zuschauer fixierten mit ihrem ehrfürchtigen Blick die Richter. Es faszinierte Khaled, die Angeklagten zu sehen, die von den Richtern zu Objekten gemacht wurden. In diesem Raum also wurden die Urteile gesprochen – Urteile, die angeblich Kriminelle einem System der Inhaftierung und perfiden Techniken der Unterwerfung auslieferten.

Vor den Richtertischen gab es eine Barriere, um die Anzahl der Zuschauer im Saal zu begrenzen. Zwischen Barriere und Tür hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet; neugierige Zuschauer, darunter eine beträchtliche Anzahl von Frauen, zusammengepfercht wie in einer überfüllten Gefängniszelle. Ein idealer Ort, um – wie man im marokkanischen Dialekt sagt – l' bantage oder auch, literarisch ausgedrückt, le pointage, das Stempeln, zu praktizieren. Dabei stellen sich die betreffenden Männer an stark bevölkerten, öffentlichen Orten, vor allem im Bus, dicht hinter eine Frau, um deren Intimsphäre zu überschreiten. Sie pressen sich eng an sie und bewegen sich nicht mehr von der Stelle. Wenn sie sicherer werden, weil die Frau sich aus Scham nicht mehr rührt, überwinden sie das letzte Bisschen Distanz und reiben ihr Geschlecht am Hintern der Frauen, bis sie ejakulieren.

Gerade in diesem Moment, als Khaled den Gerichtssaal betrat, entdeckte er einen solchen Pointeur zu seiner Rechten. Er hielt sich tatsächlich eng hinter einer mit einer Djellaba bekleideten Frau, die ihren Rücken grazil und straff hielt. Die Frau war so auf den Prozess konzentriert, dass sie nichts zu bemerken schien.

Aber war das wirklich möglich?, fragte sich Khaled. Genau diese Frage, das war ihm klar, erregte solche Männer. Die Spannung hing also am seidenen Faden des Zufalls. Und hier hatte der Pointeur Glück. Die Frau hielt still, und nachdem der Mann seine Prozedur beendet hatte, richtete er sich wieder ordentlich her und bewegte sich dann ganz ruhig zum Ausgang.

Khaled versuchte den Gesichtsausdruck der Frau zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Und so richtete er seine Aufmerksamkeit schließlich auf die Verhandlung.

Später spazierte er noch eine Weile im Stadtzentrum herum, bevor er den Heimweg antrat. Er durchquerte die Innenstadt und passierte die Avenue 2 Mars. Der Tante- Emma-Laden auf der rechten Seite der um diese Zeit besonders stark befahrenen Straße roch immer nach teuren Lebensmitteln und Alkohol. Khaled betrat das Geschäft und wartete, bis er an der Reihe war.

„Einen chaud soleil, bitte!“, bestellte er ruhig. Der Name des Weins hatte ihm schon immer gefallen: Heiße Sonne, das passte gut.

Der Inhaber verschwand und kam kurz darauf mit einer Flasche Rotwein zurück.

„Hier hast du einen Liter Ochsenblut. 21 Dirhams bekomme ich.“

Khaled bezahlte, ohne etwas zu sagen, wickelte die Flasche in eine alte Zeitung und verließ das Geschäft. Gedankenverloren setzte er seinen Heimweg fort. Als er am Lycée Mohammed V angekommen war, blieb er abrupt stehen. Plötzlich war ihm fast übel.

Das heutige Erlebnis im Gerichtssaal erregte auch jetzt noch, in der Rückschau, seinen Ekel. Und dann noch die Erinnerung an das kürzliche Eingeschlossensein in der Behörde und die gewissermaßen gewaltsame Blutentnahme – diese beiden unsäglichen Erlebnisse riefen einen heillosen Zorn in ihm hervor.

Als er eine Bank in einem kleinen Park fand, setzte er sich. Glücklicherweise war er dort allein. So öffnete er die Flasche, nahm einen großen Schluck und verharrte nachdenklich. Der Alkohol schien ihm das einzige Mittel, um die unschönen Bilder zu vertreiben. Es war, als wollte er mit Hilfe des Ochsenbluts die erlebten Ereignisse hinunterspülen. Aber es gelang ihm nicht. Jedes Mal, wenn er nach der Flasche griff, zitterte er. Völlig verschwitzt war er dennoch entschlossen, die Flasche zu leeren.

Aber als er sie schließlich erneut zum Mund führen wollte, fühlte er sich von allen Seiten beobachtet. Daher warf er sie weg, obwohl sie noch halb voll war.

Die Übelkeit kam zurück, aber diesmal überwältigte sie ihn. Khaled beugte sich vor und übergab sich.

Was für eine Welt war das bloß, in der er da lebte? Und würde es woanders wirklich besser sein?

Abgewickelt

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