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Bernd Deininger

Die Mächtigen – als Täter und Opfer • Matthäus 14,1–12 und Markus 6,17–29

Johannes der Täufer gilt als Wegbereiter Jesu und als dessen Lehrer. In den Evangelien bei Markus und Matthäus werden die besonderen Umstände seines Todes mit einem dramatischen Akzent versehen, weshalb diese Geschichte eine starke und anhaltende literarische Verwertung erfuhr. Hier stehen sich große Gegensätze gegenüber: Es geht um Recht und Ordnung gegen Leidenschaft, um Körperlust gegen Tod, um Schönheit und Ästhetik gegen Brutalität und Grausamkeit, um verführerischen Tanz und bedrohlichen Absturz.

Die Figur der Salomé ist in den biblischen Quellen nicht begründet. Sie kommt aber namentlich bei dem bedeutenden Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes, Flavius Josephus, vor. Er berichtet von einer Salomé in den »Antiquitates Judaicae«. Salomé bewegt sich innerhalb der komplizierten Beziehungen des Herodes-Hauses, die von Inzest und Mord geprägt sind. Ihre Mutter Herodias hat sich von ihrem ersten Mann Phillippus, einem Bruder des Herodes, getrennt und in zweiter Ehe Herodes geheiratet. Salomé entstammt ihrer ersten Ehe, der im biblischen Text beschriebene Herodes Antipas ist also nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Stiefvater und Onkel. Herodes hat wegen der leidenschaftlichen Liebe zu Herodias seine erste Frau verlassen und seinen Bruder (eigentlich Halbbruder) verstoßen. An diese Genealogie des Herodes-Hauses, die von Flavius Josephus niedergelegt ist, knüpfen die Evangelisten an, verbinden die historische Salomé-Figur mit der Geschichte von Johannes dem Täufer und bringen sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dessen Enthauptung.

In der Erzählung werden zwei Grundmotive deutlich. Das erste ist der Konflikt zwischen Herodes und Johannes: der eine lebt im Luxus, der andere nimmt freiwillig Entbehrungen auf sich und wird so zum Propheten und Vorbild für viele Menschen. Das zweite und destruktivere Motiv ist die Feindschaft der Herodias gegenüber Johannes, die es dem Propheten verübelt, dass er auf den doppelten Ehebruch des Königspaares hinweist. Die biblische Erzählung geht zudem auf eine frühere Erzählung aus dem antiken Rom zurück. Der römische Schriftsteller Livius berichtete nach einer Anklageschrift des Cato, dass der Konsul Flaminius etwa 192 v. Chr. während des Krieges gegen die Gallier bei einem Mahl einen Gefangenen erschlug, um seinen Lustknaben das Schauspiel einer Enthauptung zu bieten. Das wurde in die Erzählung des Johannes auf die geeignete Konstellation in Judäa übertragen. Die weibliche Rolle in der biblischen Geschichte wurde auf zwei Personen verteilt: die intrigante Mutter und die bestrickende Tochter.

Den Kirchenvätern war Salomé ein Dorn im Auge. Ihr Tanz wurde als Warnung vor dem den Frauen zugeschriebenen Verführungspotenzial gedeutet. Johannes Chrysostomos beispielsweise wies darauf hin, dass Gott den Menschen die Füße nicht zum Tanz gegeben habe, sondern um damit auf dem rechten Weg zu wandeln. Augustinus gestaltete den Märtyrertod des Johannes aus. Herodias wurde zur bösen treibenden Kraft, die Tochter wurde dann in der späteren Dichtung mit einer grellen Leidenschaftlichkeit gezeichnet.

Ganz anders ausgedeutet wurde das Motiv in Oscar Wildes Tragödie »Salomé«: Das Schöne stellt sich im Bösen dar. In diesem Werk vollendet Wilde die Emanzipierung der Salomé-Figur zur existenziellen Außenseiterin und stellt sie an die Seite anderer jüdischer Schicksalsschwestern wie Judith und Dalila. Bei Wilde ist Salomé weder die Erfüllungsgehilfin ihrer Mutter noch Spielball der stiefväterlichen Launen. Wilde zeigt die Bestrickung des Herodes durch Salomés Tanz. Tanz und Bitte geschehen also nicht auf Wunsch der Mutter, obgleich Herodias glaubt, dass Salomé ihr zuliebe die Forderung stellt, sondern Salomé tanzt in eigener Sache, um sich an Johannes, der sie abgewiesen hat, zu rächen.

Wer war nun dieser Johannes aus den Evangelien, dieser »größte aller Propheten«, wie Jesus ihn nannte? Er setzte sich mit verzehrender Leidenschaft für Recht und Ordnung ein und taucht in der Bibel im Habitus der altisraelitischen Propheten auf: einfach gekleidet, ohne den geringsten Luxus, ernährte er sich von Heuschrecken und Honigwasser. Er zog durch die Dörfer und Landschaften und wies die Menschen, die ihm begegneten, auf ihre Schuld vor Gott hin. Es ist zu vermuten, dass auch Jesus diesen Propheten traf, ihm gefolgt ist und ihn wohl anfangs als seinen Lehrer akzeptierte. In Johannes sprach ein Mensch authentisch davon, wie ein gottgefälliges Leben aussehen könnte. Er konnte glaubhaft vermitteln, dass Gott durch ihn spricht und in ihm in seiner menschlichen Gestalt lebendig wird. Der Hinweis auf die Schuld des Menschen spielte bei Johannes eine wichtige und tragende Rolle. Dies hat ihm letztendlich, wie oben erwähnt, auch die Feindschaft von Herodes und Herodias eingebracht.

Wir können uns Johannes und Jesus als Brüder vorstellen, die beide vom Geist Gottes erfüllt waren, die aber auch deutlich menschliche Züge in der Beziehung zu Gott, ihrem Vater, hatten. Das schärft den Blick für die psychische Seite des Johannes: Als er Jesus im Jordan taufte, öffnete sich der Himmel und die Stimme des Vaters sagte zu Jesus: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe«. Was mag in diesem Moment in Johannes, in diesem Fall dem psychologisch gesehen älteren Bruder, vor sich gegangen sein? Gab es Neidgefühle dem Jüngeren gegenüber, der vom Vater in dieser Weise bevorzugt wurde? Hat er aufkeimende Neidgefühle umgewandelt, indem er Buße und Schuld predigte, um so in ganz besonderer Weise dem Vater imponieren zu können und von ihm ein ähnliches Lob zu erhalten? Dann könnte dies auch als eine Abwehr eigener negativer Gefühle gedeutet werden, die aber zu ganz normalen seelischen Vorgängen gehören, wie sie bei jedem Menschen ablaufen.

Johannes sah große Teile der Gesellschaft, in der er sich bewegte, auf eine Katastrophe zutreiben. Er versuchte durch die Taufe Menschen aufzuwecken und zu einem neuen, von Gott geprägten Leben zu bringen. Er stellte sich den Messias wohl auch als einen unnachgiebigen Richter vor, der zwischen gut und böse, Heil und Verlorensein, zwischen krank und gesund unterscheidet. Aber der neue Messias, Jesus, setzt sich gegen die Moral des Täufers ab. Er steigert die Drohungen seines Lehrers nicht weiter, macht sich nicht zum Richter, sondern er stellt Barmherzigkeit und Liebe in den Vordergrund. Die unerhörte Größe Jesu, die über die drohende Gestalt des Täufers hinausführt, zeigt den göttlichen Willen als Arzt und als Heiler, nicht als einen Richter. Dennoch ist festzuhalten, dass das Wirken Jesu ohne den aufrüttelnden Johannes wohl nicht so verlaufen wäre. Insofern kann Johannes tatsächlich als der psychologisch gesehen ältere Bruder Jesu bezeichnet werden.

In der Passionsgeschichte des Johannes geht es im Kern um Recht und Unrecht. Zu dem Mächtigen, dem König Herodes, spricht er: »Du hast kein Recht, die Frau deines Bruders zu deiner Frau zu machen!« Da kommt vieles zusammen: Ehebruch, sozialer Inzest, Verletzung des Gesetzes, Unterdrückung von Menschen. Für einen Mann wie Johannes, der für Recht und Ordnung eintritt, darf es nicht sein, dass er, wenn es für ihn gefährlich werden könnte, zurückschreckt. Er müsste sich sonst den Vorwurf gefallen lassen, dass er den kleinen Leuten Moral predigt, doch nicht die Kraft und den Mut besitzt, seinen Worten auch bei den Großen und Mächtigen Geltung zu verschaffen.

Aber welcher Mächtige lässt es sich gefallen, dass er auf Unrecht, das er begangen hat, hingewiesen wird? Wann wären je die Herrschenden imstande gewesen, Fehler zuzugeben, womöglich noch in ihrem eigenen privaten Bereich? Wie wir es auch heute in unserer Zeit sehen, gelingt das nicht. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von Macht jemand besitzt. Es kann die Macht über ein politisches Amt sein, aber auch die des Geldes oder eines Wirtschaftskonzerns. Letztendlich gilt das für alle. Wir sehen es immer wieder: Wenn sich zeigt und an die Öffentlichkeit kommt, dass Menschen oder Unternehmen korrupt sind, vertuschen und verdrängen, bleiben die Möglichkeiten, zurückzutreten oder ins Nichts, ins Namenlose gestoßen zu werden. Eine dritte Möglichkeit ist, alles zu leugnen und um den Erhalt der Macht zu kämpfen. Viele beschreiten dann diesen Weg. Die Mächtigen werden so lange lügen, wie sie können, sie werden so lange intrigieren, wie sie müssen, und immer mehr mit ihren eigenen Taten verschmelzen. Die biblische Geschichte bildet also in vielerlei Hinsicht die aktuelle Situation in weiten Bereichen der Welt ab.

Herodes ist als Herrscher eigentlich willens, Johannes umbringen zu lassen, hat aber Angst vor seinem Volk, Angst, gegen den Willen der Mehrheit öffentlich eine Handlung zu vollziehen, die ihn in Misskredit bringen kann. Was die Menge denkt, hat offensichtlich auf die Machthaber einen entscheidenden Einfluss. Häufig wird deshalb die Macht überschätzt, die Menschen sich selbst zuschreiben, wenn man nicht versteht, wie abhängig gerade die Herrschenden vom Urteil der Masse sind. In König Herodes verdichtet sich eher die Schwäche als die vermeintliche Stärke der Macht. Daneben erscheint Herodias in der Erzählung als die wirkliche Antreiberin, als die eigentliche Verführerin. Die Hinrichtung wird von ihr berechnend mit einer skrupellosen Zielstrebigkeit in Szene gesetzt.

Was kann für diese Frau aber ein tieferliegendes, psychologisch erklärbares Motiv gewesen sein? Wäre es zum Beispiel denkbar, dass diese Frau in ihrem tiefsten Inneren von einer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem jetzigen Mann und Partner getrieben wurde? Wenn dies so wäre, dann müsste man eine Vorgeschichte zu ihrem Ehebruch denken. Könnte es so gewesen sein, dass sie in einer jahrelang unglücklichen Ehe gelebt hat, einen Mann wählen musste, den sie nicht liebte, weil man ihn ihr aufzwang, sie in dieser Ehe immer mehr verkümmerte und merkte, dass sie innerlich zu sterben begann? Als sie dann ihre Leidenschaft dem Halbbruder gegenüber spürte, hat sie vielleicht einen Entschluss gefasst, alle alten Bindungen hinter sich zu lassen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, wie sie es bislang nicht kannte. Wenn dies so wäre, dann hätten wir eine Frau vor uns, die es in ihrer Verzweiflung gewagt hat, alles auf eine Karte zu setzen; sie wäre dann nicht hinterhältig oder verbrecherisch, sondern eher mutig und entschlossen.

Aber jetzt, wo sie alles erreicht hat, wofür sie gekämpft und viel riskiert hat, fühlt sie sich vom Täufer bedroht und ihrer neuen Existenz beraubt. Was hat denn dieser Moral predigende Mann für ein Recht, in den Zentren der Macht zu agieren und das Volk zum Widerstand aufzuhetzen? Wie kommt er dazu, sich in ihr Privatleben einzumischen und sie moralisch zu verdammen, wo er doch keine Ahnung von ihrer Vorgeschichte hat? Da drängt sich jemand in eine Sphäre, in die er nicht hineingehört, in der er nichts verloren hat. Wenn man die Figur der Herodias so betrachtet, würde alles etwas verständlicher. Weil er ihre Liebe bedroht, hasst Herodias den Täufer. Sein radikaler Moralismus gefährdet ihr mühsam aufgebautes Lebensglück. Um die Empfindungen, die Triebe und Affekte noch besser zu verstehen, muss man hinzufügen, dass Herodias durchaus weiß, dass sie gegen Ordnung und moralische Vorgaben verstoßen hat und eigentlich spürt, dass Johannes mit seiner Kritik richtig liegt.

Was passiert aber, wenn es nicht wahr sein darf, was geschehen ist, wenn der Betroffene mit diesen Wahrheiten überhaupt nicht leben kann? Wenn er, um weiterleben zu können, die Gefühle von Schuld und Vorwurf zur Seite schieben muss? Wie geht es Menschen, die in ein wirkliches Leben, in dem sie eine Chance haben, glücklich zu werden, nur um den Preis der Schuld eintreten können und hinter ihre Entscheidung dazu weder zurück wollen noch zurück können? Und dann stehen sie einem Menschen gegenüber, der nicht aufhört zu sagen: »Ehe sich diese Tatsache in deinem Leben nicht ändert, kann nichts in Ordnung kommen. Du kannst so nicht weiterleben, du musst wieder zurück«. Es gibt aber kein Zurück. Das versteht dieser Mensch mit seiner Moral und seiner Rechthaberei jedoch nicht. Was weiß er schon von der Liebe und den Gefühlen einer vernachlässigten und unglücklichen Frau? Er kennt keine tiefergehende Beziehung zu einem anderen Menschen, weil er asketisch lebt und nur Moral und Ordnung gelten lässt.

Es gibt auch noch weitere Tatmotive, zum Beispiel bei Herodes selbst. Er wollte eine Frau, mit der er eine leidenschaftliche Liebe leben kann. Warum also sollte er diese Frau öffentlich beleidigen lassen? Diesem Mächtigen fällt es jedoch schwer, sich mit der Schuld auseinanderzusetzen, die er auf sich geladen hat, als er die Frau seines Bruders zur Geliebten und Gattin nahm. Er versteckt sich hinter den Frauen, schiebt die Entscheidung Herodias und ihrer Tochter zu.

An dieser Stelle kommt dann die junge Frau in die Geschichte. Sie fordert den König zu einem Verbrechen auf, an dem sie selbst eigentlich kaum ein Interesse hat. Sie ist lediglich gehorsam ihrer Mutter gegenüber und fordert den Kopf des Täufers aus der Treue eines Kindes zu seiner Mutter. Aber es geht auch um mehr. Die Kulturgeschichte hat gezeigt, dass in Dichtung, Musik und Malerei der Tanz der Salomé in seiner morbiden Laszivität aufgegriffen und entsprechend dem Zeitgeschmack interpretiert worden ist. Die Tochter der Herodias wurde zum Inbegriff der tödlichen Macht weiblicher Verführung. Die Angst vor der kastrierenden Frau und die Sehnsucht nach der Kindfrau verschmelzen hier zu einem faszinierend-gruseligen Albtraum. Der weibliche Eros, der in Salomé Gestalt gewinnt, mobilisiert die männliche Lust zur Zerstörung, die Grausamkeit des Begehrens und den tödlichen Wunsch, zu besitzen.

Salomé bleibt die mächtige Verführerin, die ihrer Mutter zeigt, dass der lüsterne Stiefvater eigentlich lieber zu ihr ins Bett steigen würde als zu seiner alternden Gattin. Unter dem Mantel der Treue des Kindes zu seiner Mutter zeigt sich die Rivalität zwischen Frauen, die gnadenlos mit ihrer erotischen Kraft versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Dieser ödipale Konflikt wird über den biblischen Text hinaus insbesondere in Oscar Wildes Tragödie dargestellt.

Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf die gesamte Motivkette der Akteure dieses biblischen Dramas: Am Anfang steht die Schonung des Täufers aus der Angst des Königs vor der Meinung der Masse. Dann gibt es den Mut zum Ehebruch aus einer nicht erfüllten Liebe, entwickelt sich Hass auf den Menschen, der die Moral einklagt, um ein Leben zu schützen, das nie mehr in Ordnung kommen kann. Ein Eid wird geschworen, der wie ein Zwang wirkt, am Ende das zu tun, was man versprochen hat, und daraus entsteht eine Geschichte, in deren Mitte Menschen stehen, die vieles eigentlich nicht wollten, was sich so dramatisch ereignet hat. Sie sind sowohl Opfer als auch Täter, Getriebene ebenso wie Treibende.

Wie können wir nun in einer Welt zusammenleben, in der es Menschen gibt wie Herodes, Herodias, Salomé und all die anderen, die exemplarisch für unsere heutige Zeit stehen? Ein Weg wäre die Haltung Jesu, die uns eine andere Sichtweise ermöglicht. Stellen wir uns vor, es gäbe keine Vorwürfe mehr, nicht länger das Drohen mit erhobener Faust, sondern wir würden die Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, über eine längere Zeit begleiten. Herodias zum Beispiel müsste lernen, wie sie ihr Glück in der Liebe finden kann, sodass es für sie innerlich stimmt. Sie müsste Spielräume für ihre Gefühle zulassen, damit sie spürt, mit sich im Einklang ist und in Verhältnisse hineinfindet, die sie wirklich leben lassen. Ist es so einfach, dass wir sagen: Ehebruch ist Ehebruch und Wiederheirat ist Sünde? Kann man so urteilen, ohne irgendetwas aus der Vorgeschichte der jeweiligen zu wissen? Was geht in einer solchen Frau vor? Wenn man danach nicht fragt, versteht man weder den Menschen noch das, was Gott im Umgang mit Menschen meint.

Und wie bringt man einen Menschen wie Herodes dazu, nicht ständig auf die Wahlumfragen des nächsten Wochenendes zu schielen und zu registrieren, was die Masse denkt und von ihm erwartet? Wie führt man ihn dahin, dass er selbst ein Mensch ist, der aus dem eigenen Inneren entscheidet, der aus eigener Überzeugung lebt, der als Erstes sich selbst Befehle zu geben vermag?

Und schließlich: Wie bringt man Salomé dazu, eine unabhängige Frau zu werden und nicht nur die Erfüllungsgehilfin ihrer Mutter zu bleiben oder die Kurtisane ihres Stiefvaters? Was kann man tun, damit sie Menschen nicht in die Enge treibt, sondern eine Liebe entwickeln kann, die sie mit Stolz erfüllt, statt sich missbrauchen zu lassen?

Offensichtlich lebt keiner von diesen Menschen im Bannkreis der Macht wirklich selbst, das ist das Bedrohliche, das damals und heute Gesellschaften belastete und belastet. Dass jeder auf gewisse Weise innerlich tot war, ehe er selbst anfing zu töten, das ist das Furchtbare.

Damals wie heute bedarf jeder der Akteure eines langen Prozesses seiner eigenen individuellen Erlösung. Deshalb ist Jesus hinzugekommen. Er verkündete nicht die klaren gesetzlichen Anweisungen wie sein Lehrer Johannes, sondern warb für Güte, Verstehen, Mitleid, Reifung, Geduld, für angstfreie Selbstständigkeit. Aber genau das ist für viele Mächtige genauso schwierig wie die Moral- und Gesetzespredigt des Täufers. Doch nicht nur für die Mächtigen ist die Lehre Jesu bedrohlich, sondern für jeden von uns. Fühlen wir uns nicht am Ende auch in unserer eigenen Persönlichkeit bedroht? Ist es nicht für jeden von uns wichtig, dass wir uns mit unseren Schuldgefühlen auseinandersetzen, die im Lauf unseres Lebens aufgetaucht sind? Es ist ein langer Prozess, den wir alle, jeder von uns, zu durchlaufen haben. Das ist es, was uns die Geschichte von der Passion des Johannes aufzeigt: dass Gott uns die Möglichkeit gibt, diesen Weg zu gehen, dass es wahrhaftiger ist, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen, als sich unter eine äußerliche Moral zu stellen, die gegen jede seelische Struktur gerichtet ist. Lassen auch wir uns durch die Botschaft Jesu an die Hand nehmen und begleiten, damit wir unsere Angst verlieren und uns auf den Weg der persönlichen Reifung machen.

Verstehen statt verurteilen

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