Читать книгу Verstehen statt verurteilen - Anselm Grun, Bernd Deininger, Clemens Bittlinger - Страница 4

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Vorwort

Eine der zentralen Haltungen Jesu ist: den Menschen zu verstehen, statt ihn zu verurteilen. Jesus lässt sich auf die Menschen ein, auf ihre Verletzungen und Wunden, auf ihre Leidenschaften und Sehnsüchte. Und er zeigt ihnen Wege auf, wie sie sich selbst verstehen können. Während seines Wirkens trifft er viele, die sich selbst verurteilen. Jesus urteilt nicht. Er nimmt den anderen an, wie er ist. Aber er zeigt auch Wege der Heilung und Verwandlung auf. Seine Wege der Heilung beziehen sich zunächst auf den Einzelnen, sie zielen aber letztlich immer auf ein neues Miteinander.

So haben in diesem Buch Bernd Deininger als evangelischer Arzt und Psychoanalytiker und Anselm Grün als katholischer Mönch und Seelsorger Texte aus den vier Evangelien ausgelegt, jeweils von ihrem spirituellen Hintergrund und von ihrer therapeutischen oder seelsorglichen Arbeit her. Sie haben dabei einen Dialog geführt zwischen den Texten und ihren Erfahrungen aus der Begleitung und so die Geschichten der Bibel neu verstanden. Umgekehrt haben die Texte ihnen geholfen zu verstehen, was in der Begleitung von Menschen geschieht. Sie haben ein neues Licht auf das geworfen, was geschieht, wenn Menschen sich in der Begleitung und in den Therapien der eigenen Wahrheit stellen und bereit sind, sich selbst und andere zu verstehen.

Verstehen ist der erste Schritt in der Begleitung, aber auch bei der Menschwerdung. Der zweite Schritt aber ist Verwandlung. Es geht darum, das, was ist, in die einmalige Gestalt zu verwandeln, die Gott jedem von uns zugedacht hat. Jesus lässt den Menschen nicht einfach dort stehen, wo er ist. Er bietet ihm einen Weg der Verwandlung und Heilung an. Die Voraussetzung dafür ist, genau hinzuschauen, was im Menschen ist. Schon die Kirchenväter kannten den theologischen Grundsatz: »Nur, was Jesus angenommen hat, kann erlöst werden«. Weil Jesus ganz Mensch geworden ist, hat er den Menschen so, wie er ist, erlöst. Diesen Grundsatz haben dann die christliche Spiritualität und auch die humanistische Psychologie übernommen: Nur das, was wir anschauen und verstehen, lässt sich verwandeln.

Das Verstehen richtet sich zunächst auf uns selbst. Wir sollen uns nicht verurteilen, wenn wir in uns masochistische oder sadistische Gedanken vorfinden, wenn wir voller Ängste und Zwänge sind, wenn Aggressionen uns beherrschen. Wir sollen verstehen, woher sie kommen und was sie uns sagen wollen. Wer sich selbst versteht, der kann zu sich stehen. Wer zu sich selbst steht, ist auch bereit, weiter zu wachsen. Jesus zeigt ihm den Weg, wie er durch die Wirklichkeit hindurch, die er in sich erlebt, zu dem einmaligen Menschen werden kann, als den Gott ihn gewollt hat.

Verstehen, statt zu verurteilen bezieht sich aber nicht nur auf unsere Schattenseiten. Es geht auch darum, sich selbst in seiner Würde zu verstehen. Jesus hat uns immer wieder auf unsere unantastbare Würde verwiesen. Er hat uns aufgezeigt, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. Gerade in den Worten des Johannesevangeliums hören wir, dass wir nicht nur von der Erde, sondern auch von Gott sind. Diese Worte klingen manchmal sehr spirituell. Aber wir werden unserem Wesen nicht gerecht, wenn wir nicht zugleich verstehen, dass wir durch Jesus eine göttliche Würde erhalten haben.

Wer sich selbst versteht, statt sich zu verurteilen, wird auch andere versuchen zu verstehen, ohne sie zu bewerten. Wir sind häufig schnell damit, andere zu bewerten, uns über sie zu entrüsten, sie zu verurteilen. Doch damit stellen wir uns über sie. Und wir projizieren oft genug unsere eigenen Schattenseiten auf die anderen. Anstatt uns der eigenen Wahrheit zu stellen, schauen wir voller Schadenfreude auf die Fehler anderer. Das spaltet die Gesellschaft. Wir machen den anderen zum Sündenbock, auf den wir allen Dreck werfen. Solange wir aber den Schmutz im eigenen Herzen nicht anschauen und verwandeln lassen, werden wir immer neue Sündenböcke brauchen, auf die wir das Verdrängte in uns projizieren. Gegen diese spaltende Tendenz hat Jesus das berühmte Wort vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen Auge gesetzt (vgl. Mt 7,3f). Jesus weist uns dagegen darauf hin, dass wir den anderen immer als Spiegel für uns selbst sehen sollen. Alles Negative, das wir im anderen entdecken, wirft ein Licht auf das Dunkle in uns selbst. Jesus fasst das in dem Wort, das Bernd Deininger ausgelegt hat: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie« (Joh 8,7). Wenn wir aufhören, einander zu verurteilen, wird ein neues Miteinander möglich.

Wer sich als Sohn oder Tochter Gottes versteht, der sieht auch den anderen mit neuen Augen. Er wird auch in ihm den Himmel entdecken, so wie Jesus im Sünder Zachäus den Himmel sieht. So führt das Verstehen des eigenen Menschseins und des anderen mit seinen Schattenseiten, aber auch mit seiner göttlichen Würde, zu einem neuen Miteinander, bei dem wir uns annehmen, in dem wir einander einen Raum ermöglichen, weiter zu wachsen, uns zu verwandeln und dem Bild immer ähnlicher zu werden, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.

Anselm Grün, Bernd Deininger

Verstehen statt verurteilen

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