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Anselm Grün

»Keiner kann dich verletzen, außer du selbst« • Matthäus 7,24–27 und Lukas 6,47–49

Jesus schließt die Bergpredigt mit einem Gleichnis ab. Er will damit eindrücklich zeigen, dass es nicht genügt, seine Worte nur zu hören. Es geht darum, sie auch zu tun. Er verwendet hier das griechische Wort poiein, es bedeutet: die Worte in Handeln übersetzen. Aber poiein heißt auch: kreativ mit diesen Worten umgehen, sich von den Worten zu neuen Verhaltensweisen anregen lassen, die ganz neue Wege eröffnen gegenüber dem, was alle tun. Der östliche Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos schätzt gerade diese Methode Jesu, nicht einfach Forderungen aufzustellen, sondern durch eine bildhafte Rede uns das, was er sagen möchte, eindrücklicher vor Augen zu stellen. Chrysostomos schreibt: »Hätte er (Jesus) nur gesagt, der Tugendhafte werde unüberwindlich sein, der Böse dagegen leicht zu besiegen, so hätte dies doch nicht den gleichen Eindruck gemacht wie jetzt, da er von einem Felsen redet und einem Haus, von Flüssen, Regen und Sturmwinden und anderen derartigen Dingen« (Matthäus-Kommentar, 24. Homilie, 103).

Das Symbol Haus steht immer auch für das Lebenshaus des Menschen. Im Traum beschreibt das Haus den Bewusstseinszustand des Menschen. Der Keller steht für das Unbewusste, das Wohnzimmer für die bewussten Bereiche, in denen wir leben. Die Frage ist dann, ob wir unser Lebenshaus auf Felsen oder auf Sand bauen. Auf Sand bauen wir es, wenn die Grundlagen Illusionen sind, etwa die, dass wir alles im Griff haben, dass uns nichts passieren kann. Illusionen sind auch zu große Bilder von uns, beispielsweise, dass wir immer perfekt und erfolgreich und cool sein müssen. Ein solches »Haus« wird bald zusammenbrechen. Es sollte also besser auf Felsen stehen. In der Bibel wird Gott oft als Fels beschrieben. Das meint nicht nur, dass wir unser Haus auf Gott aufbauen sollten, sondern zudem auf feste Grundsätze, die unserem Wesen entsprechen.

Wir können es auch als gemeinsames Haus bauen: das Haus unserer Ehe und Familie. Auch dann stürzt das Haus schnell zusammen, wenn die Grundlage Illusionen sind. Der Eheberater Hans Jellouschek nennt einige solcher Illusionen, die das Haus einer gemeinsamen Ehe leicht zum Einsturz bringen. Da ist etwa die Illusion, in der Ehe würden wir immer Nähe erfahren. Eine Beziehung braucht dagegen Nähe und Distanz. Wer nur die eine Seite erleben will, wird bald erfahren, dass zu große Nähe Aggressionen erzeugt und so das Haus der Ehe zum Einsturz bringt. Eine andere Illusion ist, dass wir in der Ehe immer glücklich sind. Jellouschek meint, die Ehe sei keine Glücksveranstaltung, sondern ein Übungsweg, auf dem wir immer wieder Glück erfahren dürfen. Sowohl das Haus unserer Ehe als auch das Haus unseres Unternehmens oder unserer Institution sollen wir auf felsigen Grund bauen, das sind kluge Maßstäbe. Und letztlich ist Gott selbst beziehungsweise Christus der Fels, auf den wir unser Haus bauen. Jesus versteht seine Worte selbst als den Felsen. Wenn wir uns nach ihnen richten, wird unser Haus alle Stürme und Regengüsse aushalten.

Johannes Chrysostomos deutet die Regengüsse als »die menschlichen Schicksale und Leiden, wie zum Beispiel Verleumdungen, Nachstellungen, Trauer- und Sterbefälle, Verlust des Eigentums, Kränkungen durch andere, überhaupt alles, was man die Unbilden des Lebens nennen kann« (Matthäus-Kommentar, 100f). Als Felsen sieht der Kirchenlehrer die Lehre Jesu: »Seine Satzungen sind ja fester als Gestein und machen, dass man über alle menschlichen Schicksalsschläge erhaben wird« (Matthäus-Kommentar, 101). Er ist der Ansicht, dass Menschen uns nicht wirklich schaden können, denn Jesus hat uns gelehrt, das Eigentum loszulassen. Wir sind also sozusagen schon in der Welt gekreuzigt. So kann uns niemand, der uns etwas Weltliches raubt, schaden. Er meint: »Wer auf einen Diamanten schlägt, verletzt sich eben nur selbst; und wer gegen den Stachel ausschlägt, wird selbst gestochen und schwer verwundet. Ebenso bringt sich selbst in Gefahr, wer den Tugendhaften Nachstellungen bereitet« (Matthäus-Kommentar, 105).

Interessant ist, dass Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert nach Christus dieses Gleichnis im Dialog mit der stoischen Philosophie deutet. Er interpretiert es von einem Grundsatz aus, den der Philosoph Epiktet etwa 100 nach Christus aufgestellt hat. Die stoische Philosophie könnte man vergleichen mit dem, was heute die Psychologie ist. Ihr geht es darum, wie das Leben gelingen kann. Sie stellt dazu letztlich psychologische Grundsätze auf. Einer lautet: »Keiner kann dich verletzen, außer du selbst«. Zu diesem Grundsatz gehört noch ein weiterer: »Nicht die Menschen verletzen dich, sondern die Dogmata, die Vorstellungen, die du dir vom Menschen machst«. Beide Grundsätze klingen sehr rational. Man darf sie sicher auch nicht verabsolutieren. Aber Chrysostomos scheut sich nicht, diesen Grundsatz christlich zu deuten. Er hat darüber eine ganze Abhandlung geschrieben: »Dass niemand verletzt wird, außer durch sich selbst« (PG 52,459–480). Er möchte in seiner Rede zeigen, »dass kein Opfer Opfer eines anderen ist, sondern sein von ihm selbst verhängtes Geschick erleidet« (PG 52,461). Für ihn liegt die eigentliche Kraft des Menschen in der richtigen Vorstellung, die er sich vom Leben macht, und in der Geradheit und Stimmigkeit seines Lebens. Der Mensch, der die rechte Vorstellung von der Wirklichkeit hat, kann durch äußere Dinge keinen Schaden erleiden. Das zeigt der Kirchenvater am Beispiel Hiobs: Das äußere Unheil konnte ihm nicht schaden, weil er im Glauben an Gott die richtige Vorstellung von der Wahrheit hatte, weil er die richtigen Maßstäbe an die Beurteilung der äußeren Dinge anlegte. An biblischen Geschichten wie der von Joseph, den drei Jünglingen im Feuerofen und von Paulus versucht er zu beweisen, »dass der, der sich selbst nicht verletzt, von keinem anderen verletzt werden kann, auch wenn die ganze Welt einen heftigen Krieg gegen ihn führt« (PG 52,473).

Die Richtigkeit dieser These zeigt er dann am Beispiel der Rede Jesu vom Haus auf dem Felsen. Weder die Regengüsse noch die Fluten können ihm schaden. Wer auf Christus, den Felsen, sein inneres Haus gebaut hat, der kann durch keine Verletzung von außen erschüttert werden. Wer auf Christus sein Haus baut, der baut es auch auf die richtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit. Er sieht die Wirklichkeit mit den Augen Jesu. Wer aber aus Unwissenheit, Leichtsinn oder Verdorbenheit sein Haus auf Sand baut, der schadet sich selbst. Nicht der Sturm ist schuld am Einsturz des Hauses, sondern seine eigene Nachlässigkeit und seine falschen Vorstellungen vom Leben und von der Wirklichkeit der menschlichen Seele. Chrysostomos schließt dann seine Betrachtung: »Wer sich selbst nicht verletzt, der geht auch dann, wenn er unendlich viel zu erleiden hat, gestärkt daraus hervor. Wer sich aber selbst verrät, der leidet von selbst (automatoi), er fällt in sich zusammen und geht zugrunde, auch wenn keiner gegen ihn ist« (PG 52,473).

Chrysostomos deutet den Fall des Hauses nicht wie manche Exegeten auf das Schicksal nach dem Tod. Er beschreibt vielmehr, dass die, die ihr Haus auf Sand bauen, schon im Jetzt immer wieder erleben müssen, was Jesus von diesem Haus sagt: »Sein Fall war groß« (Mt 7,27). Denn der, der sich vom Bösen leiten lässt und nicht von den Worten Jesu, muss »ein ganz elendes Leben führen in steter Begleitung von Furcht, Mutlosigkeit, Sorgen und Kämpfen. Das hat auch ein weiser Mann angedeutet mit den Worten: ›Der Gottlose flieht, ohne dass ihn jemand verfolgt‹ (Spr 18,1). Solche Leute zittern vor Schatten, sind voll Argwohn gegen Freunde, Feinde, Diener, Bekannte und Unbekannte, und leiden schon hienieden die schwersten Strafen, noch bevor sie von denen im Jenseits betroffen werden« (Matthäus-Kommentar, 107). Interessant ist, dass er die Menschen, die ihr Haus auf Sand bauen, beinahe aus psychologischer Sicht beschreibt: Sie haben hier schon ein angstbesetztes und unruhiges Leben. Sie spüren, dass es auf keinem guten Fundament steht, und leben ständig in der Angst, dass ihr Haus zusammenfallen könnte.

Mit dieser Deutung des Gleichnisses vom Haus auf dem Felsen interpretiert Chrysostomos zugleich die ganze Bergpredigt. Diese besteht für ihn nicht in erster Linie aus moralischen Folgerungen. Vielmehr beschreibt Jesus in der Bergpredigt die richtigen Vorstellungen, die wir uns vom Leben und von unserem Miteinander machen sollen. Jesus ist der Weisheitslehrer, der uns zeigen möchte, wie Leben gelingt. Für den Kirchenlehrer Chrysostomos besteht kein großer Unterschied zwischen der psychologisch geprägten stoischen Lehre des Epiktet und der Bergpredigt Jesu. Doch die wahre Weisheit liegt in seinen Augen bei Jesus. Jesus stellt nicht nur Forderungen auf. Er beschreibt in vielen Bildern und Beispielen, wie Leben gelingt. Und ein wichtiger Weg, den Jesus in der Bergpredigt aufzeigt, ist, dass wir uns nicht als Opfer von Feinden fühlen sollen, sondern dass wir die Feinde lieben sollen. Dann können sie uns nicht verletzen. Denn nicht der Feind selbst verletzt uns, sondern die Vorstellung, die wir von ihm haben und die er von uns hat. Feindschaft hat immer mit Projektion zu tun: Wir projizieren das auf den anderen, was wir an uns selbst ablehnen. Wenn wir die Projektion auflösen, ist eine gute Beziehung zum vermeintlichen Feind möglich.

Verstehen statt verurteilen

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