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Kapitel 1

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Limburger nieuws vom 19. Oktober 2021 – Polizeibericht:

Vaals. In der Nacht von Sonntag auf Montag wurde vor dem Restaurant »De Zwarte Madonna« auf dem Eschberg in Vaals eine Madonnenfigur entwendet. Dabei sind der oder die Täter mit großer Raffinesse vorgegangen. Anstatt die schwere Figur gewaltsam aus ihrer Bodenverankerung zu reißen, haben sie mühsam und zweitaufwendig das Sockelfundament ausgegraben und anschließend die Befestigungsschrauben gelöst. Das von einem belgischen Künstler erstellte, aus Blaustein gehauene, modern gestaltete Standbild ist 1,78 Meter hoch und weist erhebliche Zeichen der Verwitterung auf. Dass der oder die Täter nicht in das Restaurant oder in das gegenüberliegende Museum eingebrochen sind, wo über 200 Heiligenstatuen und andere religiöse Kunstgegenstände eine leichtere Beute gewesen wären, könnte ebenso darauf hinweisen, dass es sich nicht um Profis handelt, wie die Tatsache, dass sie eine relativ wertlose Staue gestohlen haben, verglichen mit den anderen Madonnenfiguren im Park, der zum Restaurant gehört. Möglicherweise sind der oder die Sakralschänder unter der Bevölkerung von Vaals und Umgebung zu suchen.

Sachdienliche Hinweise an die Politie Limburg Zuid …

»Oha!«, entfuhr es dem belgischen Kriminalhauptkommissar Frederic Le Maire, als er diese Zeilen las. Er saß gerade vor dem Café »d’r Koffereck« in Vaals und blätterte in der hiesigen Tageszeitung. Obwohl es herbstlich kühl war, hatte er es vorgezogen, draußen auf seine Lebenspartnerin Angelika zu warten, anstatt es sich in der warmen Gaststube des beliebten Lokals gemütlich zu machen.

Es war Dienstag, also Markttag. Und weil der weit über die Landesgrenzen hinweg bekannte Wochenmarkt auf dem nahe gelegenen Koningin Julianaplein beim Rathaus abgehalten wurde, musste er nicht allein der Frische des herbstlichen Vormittags trotzen. Denn während die Frauen eifrig das knackige Obst und Gemüse oder das frische Fleisch und das umfangreiche Fischangebot an den Marktständen prüften, um es nach Beendigung der Corona-Pandemie endlich wieder tütenweise davonschleppen zu können, gönnten sich einige ihrer Männer im »Koffereck« schon mal das erste Bierchen des Tages und andere – wie Le Maire vor dem Café – zusätzlich ein Zigarettchen.

»Fehlt nur ein Schild: ›Wir müssen draußen bleiben‹«, lästerte Peter Schreckmann, einer der Kettenraucher und dienstäglicher Stammgast im »Koffereck«. Wie viele andere kam er mit seiner Frau Lorette jede Woche aus dem wenige Autominuten entfernten ostbelgischen Grenzort Kelmis hierher, um es sich gut gehen zu lassen, während seine ständig vor sich hin schnatternde Gattin saisonale Köstlichkeiten besorgte.

Die anderen Raucher lachten über Schreckmanns mehr als abgedroschenen Witz und Frederic blätterte unbeeindruckt weiter in der Zeitung. Gerade hatte er den Polizeibericht über den Madonnendiebstahl fertig gelesen, als ihm Angelika zurief, er solle ihr beim Tragen der vielen Tüten ins gegenüberliegende Parkhaus helfen.

Weil Angelika eine extrem gut aussehende Frau mit einer Wahnsinnsfigur war, schaute nicht nur ihr Partner auf. Während Frederic Sekunden später über die Straße schlurfte, um ihr zu helfen, genoss er die bewundernden Blicke der anderen in seinem Rücken. Dabei hörte der Mordermittler, wie einer der Männer bemerkte: »Die gehört zu ihm? Unglaublich!«

Wenn man einen Menschen nur auf das Äußere reduzierte, mochte der Mann nicht einmal ganz falschliegen. Denn im Gegensatz zu seiner Angelika war Frederic optisch nicht gerade der Burner. Weil zu den größten Lastern des nur 1,65 Meter großen Mannes neben Selbstgedrehten auch original belgische Fritten und belgisches Bier gehörten, hatte er es im Laufe der Jahre zu einer bemerkenswerten Körperfülle gebracht. Und weil er zudem stets unrasiert war und im Gegensatz zu Angelika keinen allzu großen Wert auf ordentliche, geschweige denn auf modische Kleidung legte, mochten die beiden rein äußerlich überhaupt nicht zusammenpassen. Dennoch liebten sie sich und harmonierten in jeder Hinsicht bestens miteinander – es sei denn, Angelika mäkelte an seiner Kleidung herum und versuchte, ihm Designerklamotten aufzuschwatzen oder ihn in einen dieser schicken »Fresstempel« zu schleppen, die es im Dreiländereck zuhauf gab. Zu Frederics Leidwesen ging meist beides miteinander einher.

Ließ man dies beiseite, konnte man getrost sagen, dass die beiden auch über das Private hinaus ein nahezu perfektes Team waren. Deswegen hatten sie auch eine verzwickte Mordserie der niederländischen »Frittenmafia« gemeinsam lösen und »so ganz nebenbei« auch einen europaweit agierenden Menschenhändlerring ausheben können.

»Zwei Fliegen mit einer Klappe … Das machen wir zwei ab jetzt immer so!«, hatte Frederic Le Maire seinerzeit nach einer Belobigung im Brüsseler Rathaus zu der Aachener Rechtsmedizinerin gesagt.

Damals war er der leitende Kriminalhauptkommissar der Mordkommission Lüttich gewesen. Bei seinem nächsten Fall, bei dem es um raffinierte »Glühweinmorde im Hexenhof« gegangen war, die auf dem Aachener Weihnachtsmarkt ihren Anfang genommen hatten, hatte sich das geändert. Wegen seiner Liebe zu Angelika war er von seiner zentral gelegenen Lütticher Wohnung in der Rue de la Violette an den Ronheider Berg in Aachen gezogen. Seither war er der Leiter der Eupener Kriminalpolizei. Dort war alles etwas gemütlicher als in Lüttich und er hatte es in der »Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens« weniger mit Morden als mit mehr oder minder interessanten Delikten aller Art zu tun. Weil ihn dies bei Weitem nicht ausfüllte, dachte er sogar ernsthaft daran, sich ganz woandershin versetzen zu lassen. Und Le Maire wäre nicht Le Maire, wenn er nicht schon eine Idee im Kopf hätte.

Obwohl Lüttich von Aachen gute 50 Kilometer entfernt lag und eigentlich nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, durfte er – wie es in einem gesonderten Schreiben hieß, das er vom Polizeipräsidenten aus Brüssel erhalten hatte – »bei zwingender Notwendigkeit« offiziell mit dem Segen von oben über die belgischen Grenzen hinweg auch in Nordrhein-Westfalen und – wenn es unumgänglich war – auch in anderen Teilen Deutschlands sowie in den Niederlanden und sogar in Luxemburg ermitteln. Allerdings musste er in diesem Fall mit den jeweils vor Ort zuständigen Behörden eng zusammenarbeiten und die dortigen Leitstellen informieren. Weil Le Maire ein absonderlicher Einzelgänger war, der sich am ehesten mit seinen eigenen Leuten, vor allen Dingen aber mit der Aachener Rechtsmedizinerin kompatibel zeigte, mochte ihm dieser Zusatz überhaupt nicht gefallen.

Den Grundstein für diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit hatte Le Maire selbst gelegt. Denn nachdem er und sein Team ihren ersten internationalen »Doppelfall« gemeinsam mit ihren deutschen, niederländischen und englischen Kolleginnen und Kollegen spektakulär gelöst hatten, waren die Polizeichefs der Beneluxländer und Nordrhein-Westfalens zusammengekommen und hatten ein Dekret zur Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg unterzeichnet. Nach dem letzten medienwirksamen Erfolg wollte keiner der Polizeichefs riskieren, bei weiteren spektakulären Siegen über das internationale Verbrechen durch Frederic Le Maire nicht mit von der Partie zu sein.

Letztlich aber war dies dem eigenwilligen Ermittler egal; er tat sowieso, was er für richtig hielt, ob dies auswärtigen Kollegen passte oder nicht. Sein eigenbrötlerisches Verhalten konnte er sich nur erlauben, weil seine Erfolgsquote bisher unschlagbar gewesen war und weil er stets mit der toughen Aachener Rechtsmedizinerin zusammengearbeitet hatte.

*

»Nein, nein!«, wehrte Angelika ab, als Frederic Anstalten machte, sich wieder auf seinen Terrassenplatz vor dem »Koffereck« zu setzen, um eine seiner geliebten Selbstgedrehten zu rauchen. »Mir ist es hier etwas zu kühl! Meine Finger sind vom Taschenschleppen klamm geworden. Ich habe mir jetzt ein Gläschen Prickelwasser in einer wohlig warmen Gaststube verdient.«

»Merde«, fluchte Frederic bewusst so leise, dass sie es nicht hören konnte.

Nachdem ihr die Bedienung den Sekt und ihm ein Affligem-Bier gebracht hatte, war für sie die Welt in Ordnung. Lediglich Frederic war wegen des Rauchverbots in geschlossenen Räumen etwas säuerlich, was Angelika amüsierte. Seit sie sich vor vier Jahren kennengelernt hatten, tat sie alles, um ihn vom Rauchen abzubringen. Dies war der eigentliche Grund, weswegen sie im Lokal und nicht auf der Terrasse saßen.

Nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte, entfuhr Angelika ein zufriedener Seufzer. »Ist es nicht schön, dass wir beide zur selben Zeit eine Woche freinehmen konnten, um uns ein wenig in der Heimat zu entspannen? Zuerst in ›meinem‹ Nordrhein-Westfalen und dann in ›deinem‹ Belgien. Und jetzt sitzen wir hier im beschaulichen niederländischen Vaals.« Ohne seine Antwort abzuwarten, begann sie, die geplante Freizeitgestaltung an den freien Tagen vor ihm auszubreiten: »Weil du jetzt bei mir in Aachen wohnst, werden wir morgen von dort aus ein wenig durch die deutsche Eifel fahren. Vielleicht besuchen wir die Burg Satzvey und trinken dort …«

»… ein Gläschen Sekt«, ergänzte Frederic mit einem Lächeln. Er kannte seine Partnerin in- und auswendig. Er erinnerte Angelika daran, dass sie schon öfter die Burg besucht, aber er dort nie etwas Ordentliches zu trinken, geschweige denn zu essen bekommen hatte.

Angelika schürzte die Lippen und zuckte keck mit den Schultern. »Warum nicht? Wir können es ja noch einmal versuchen. Vielleicht hat sich das Angebot der Burggastronomie ja ein bisschen verändert, seit die junge Gräfin das Sagen hat.«

»Das glaubst du doch selber nicht«, konterte Frederic, weil er ahnte, dass es dort nach wie vor keine belgischen Fritten und kein belgisches Bier geben würde. Der einzige Maßstab, an dem sich gute Gastronomie in seinen Augen messen ließ.

»Dann fahren wir eben zum berühmten ›Krimihotel‹ nach Hillesheim. Dort gibt es ein Lokal, das dir gefallen wird. Wie das Hotel sind auch die Gasträume voll im ›crime style‹ eingerichtet. ›Themenkneipen‹ sind ja heutzutage voll im Trend!«, schlug Angelika vor.

Weil Frederic wusste, was es für ihn bedeutete, wenn sie beide nicht zur Arbeit mussten, seufzte er. »Hör mal! Als du vorhin auf dem Markt gewesen bist, habe ich mich ein wenig mit der hiesigen Zeitung beschäftigt. Da konnte ich lesen, dass irgendwelche Verrückten eine Madonna gestohlen haben und …«

»Eine Madonna?«, unterbrach ihn Angelika, weil sie glaubte, sich verhört zu haben.

»Ja!«, nickte Frederic. »Hier in Vaals! Es handelt sich um eine wettergegerbte Muttergottesfigur aus Blaustein, die vor dem Lokal ›De Zwarte Madonna‹ gestanden haben soll!«

»Vor der ›Schwarzen Madonna‹ in Vaals steht doch der ganze Park voller Heiligenfiguren. Und im Lokal hängen sie sogar an den Wänden. Da gibt es doch auch dieses ›Sakralmuseum‹«, entgegnete Angelika.

»Halleluja!«, entfuhr es Frederic lachend.

»Warum machst du dich darüber lustig? Ich dachte, dir gefallen themenbezogen eingerichtete Lokale. In diesem Lokal ist alles authentisch, das ganze Café ist christlich dekoriert und eingerichtet. Dort kannst du sogar beichten!«

»Nicht im Ernst, oder?«, wunderte sich Frederic, der im Gegensatz zu Angelika nie dort gewesen war.

»Natürlich nicht! Obwohl im Lokal ein Beichtstuhl steht. Aber sag mal, was kann man mit einer verwitterten Madonnenfigur anfangen? Gibt es in Antwerpen nicht auch ein Touristenlokal, das ebenfalls mit sakralen Statuen vollgestopft ist wie das Café hier in Vaals?«

Frederic nickte. »Ja! Das kenne sogar ich! Du meinst sicher das ›Elfde Gebod‹ neben der Onze-Lieve-Vrouwekathedraal, oder?«

Angelika zuckte wieder mit den Schultern. »Ich glaube schon, dass ich es kenne. Wenn, dann ist es aber sehr lange her, dass ich dort war. Jedenfalls scheint dies wirklich ein Trend geworden zu sein«, fügte sie an und bemerkte, dass es auf der hiesigen ›Mergellandroute‹ etliche Lokale gab, in denen Heiligenfiguren herumstanden.

»Du meinst, dass sich dieser Trend auch bei uns fortsetzen und möglicherweise Erfolg haben wird?«

»Was heißt hier ›bei uns‹? Meinst du ›dein‹ ostbelgisches Eupen oder ›mein‹ nordrhein-westfälisches Aachen? Wenn schon, dann passt eine Kneipe mit Heiligenfiguren in die Kaiserstadt, dort gibt es schließlich einen weltberühmten Dom! Aber wieso interessiert dich das überhaupt? Witterst du schon wieder einen Mord?«, scherzte sie und war dabei stolz darauf, was »ihr« Aachen alles zu bieten hatte.

Frederic lächelte Angelika an und ließ sie weiterreden: »Na ja, meine Freundin Eleonore hat mir erzählt, dass in Aachen, direkt am Dom, ein altes Haus zu einem Speiselokal umgebaut wird, in dem es ›Messwein‹ geben soll.«

»Messwein? Du meinst so einen Wein, wie ihn die Priester während der Messe trinken?«

»Ja, geweihten Wein.« Angelika nickte. »Eleonore ist für die Raumgestaltung und das Interieur zuständig. Auf Wunsch des neuen Besitzers soll das Lokal durch und durch mit sakralen Gegenständen ausstaffiert werden. Dadurch möchte der Wirt, der extrem gläubig sein soll, neben gottesfürchtigen Einheimischen auch Pilger aus aller Herren Länder als Gäste anlocken, beispielsweise auch zur ›Aachener Heiligtumsfahrt‹. Aber erstens ist es nicht so weit, zweitens haben wir nichts damit zu tun und drittens hast du Urlaub. Uuuuurlaub! Verstehst du? Bestell mir lieber noch ein Gläschen Sekt!«

Die »Aachener Heiligtumsfahrt« fand doch alle sieben Jahre statt? Und da möchte der Wirt Umsatz machen?, dachte sich Frederic, während er die Bedienung herbeiwinkte.

*

Der Kriminalhauptkommissar saß knappe 70 Kilometer vom niederländischen Vaals entfernt in seinem Büro im ostbelgischen Provinzhauptstädtchen Eupen. Der Urlaub war – Gott sei’s gejubelt, getrommelt und gepfiffen – endlich vorüber. Voller Tatendrang hatte der Chefermittler sein dreiköpfiges Team mitsamt seiner Sekretärin gleich am Morgen seines ersten Arbeitstages zum Rapport zusammengerufen.

Während einer nach dem anderen in seinem Büro eintrudelte, überlegte der Leiter des Eupener Kriminalkommissariats, weshalb er schlecht gelaunt war. Eigentlich müsste er doch glücklich darüber sein, den gemeinsamen Urlaub mit Angelika einigermaßen unbeschadet hinter sich gebracht zu haben und wieder an seinem geliebten Schreibtisch sitzen zu dürfen. Weiß Gott, er liebte dieses intelligente Vollblutweib, das so viele Vorzüge vorweisen konnte, wie er Mankos und Marotten hatte. Aber musste sie ihn ständig von einem Herrenausstatter zum nächstbesten Schuhladen und von einem Sternelokal in die nächste Champagnerbar schleifen?

Lediglich der von Angelika vorgeschlagene Ausflug nach Hillesheim hatte ihm ohne Punktabzug gefallen; denn das »Krimihotel«, in dem sie übernachtet hatten, war bodenständig gewesen. Zudem hatte sich das angegliederte »Kriminalhaus« mit seinen vielen Ausstellungsstücken und der großen Krimi-Bibliothek als äußerst interessant erwiesen. Und im dazugehörenden »Café Sherlock« hatte es nicht nur Kaffee und Kuchen, sondern auch feine Bierspezialitäten gegeben, zwar keine belgischen, aber trotzdem gut trinkbare. Die drei Tage in der deutschen Eifel hatten ihm so gutgetan, dass Angelika ihn sogar dazu hatte überreden können, den »Eifelkrimi-Wanderweg« über die gesamte Strecke hinweg mitzugehen und sich am »Krimi-Suchspiel« zu beteiligen.

»Das nenne ich eine gelungene ›Themengastronomie‹«, hatte Le Maire den Inhaber des »Kriminalhauses« gelobt, nachdem er einen Gutschein über eine urige Eifelbrotzeit für zwei Personen in Empfang genommen hatte, weil er beim »Kriminalisieren« von immerhin 18 Teilnehmern der Beste gewesen war. Bescheiden wie er nun einmal war, hatte er sich trotz Angelikas Drängen nicht als »echter« Kriminalbeamter zu erkennen gegeben.

Aber dann war es umso dicker gekommen: Von wegen Ausflüge in seine belgische Heimat! Stattdessen sämtliche Juweliere in Aachen, Boss-Outlet in Köln und der extravagante Philipp-Plein-Shop an der Düsseldorfer »Kö«. Mit Angelikas schickem SLK waren sie sogar zum Nobelschuhgeschäft von John Lobb bis nach Frankfurt hinuntergerauscht. An die sündhaft teure Übernachtung in einem der dortigen Viersternehotels durfte er gar nicht denken. Ja, geht’s noch?, hatte er sich gefragt, Angelika zuliebe aber nichts laut dazu bemerkt. Die kostspieligen »Fresstempel«, in denen die Ober stets distinguiert dreingeschaut hatten, wenn er sich ein frisch gezapftes Bier anstelle des Rotweins zum Rumpsteak bestellt und sich vorsichtig nach Fritten erkundigt hatte? Nein, das war nicht das, was er unter Lifestyle und Dolce Vita verstand! Und es war noch schlimmer gekommen: Anlässlich seines Geburtstages hatte Angelika ihn nach Bochum zum »Starlight Express« gelockt. Allerdings hatte er sich schon während der Vorstellung eingestehen müssen, dass es sich um ein rasantes Musical handelte. Jedenfalls war er – anders, als es bei solchen oder ähnlichen Events bisher eigentlich immer der Fall gewesen war – nicht eingeschlafen. Dennoch mochte er sich »so etwas« nicht mehr antun.

Sehr zum Ärgernis seiner Sekretärin Fabienne Loquie kaute er in Gedanken daran genervt auf einem Bleistift herum. Weil die 29-jährige untersetzte Frau ihren Chef vergötterte, wies sie ihn nicht darauf hin, obwohl sie dafür zuständig war, dass im Eupener Kommissariat mit Bürobedarf sparsam und pfleglich umgegangen wurde.

»Was steht an, Locki?«, bellte der Chef seiner Sekretärin entgegen, deren Wangen sich schlagartig knallrot färbten und deren Augen einen gefährlich wässrigen Glanz bekamen.

»Also …« Nachdem Locki, wie die Sekretärin wegen ihres lockigen Kurzhaarschnittes allseits genannt wurde, abschweifend berichtet hatte, was während seiner Abwesenheit im Kommissariat los gewesen war, kam Le Maire zu dem Schluss, dass sich nichts Interessantes ereignet hatte.

Nach Lockis wenig ergiebigem Vortrag über allerlei Administratives, Telefon- und Posteingänge sowie über pikante Interna aus anderen Abteilungen erhoffte Le Maire sich von seiner Stellvertreterin Agnès Devaux interessantere und wichtigere Informationen. Aber die im Gegensatz zu ihrem Chef übergenaue Kriminaloberkommissarin konnte zu Le Maires Verwunderung auch nicht allzu viel berichten, schon gar nichts von einem aktuellen Mordfall.

»War’s das schon, Devaux?«, fragte er sie nach Beendigung ihres kurzen Vortrages. »Kein einziger Mord? Nicht mal ein kleiner Totschlag? Ihr habt euch nur mit Kinkerlitzchen aus anderen Abteilungen beschäftigt?«

Devaux zog zuerst die Mundwinkel nach unten und die Stirn nach oben, bevor sie abwehrend ihre Hände hochhielt.

»Pierre! Herbert! Habt wenigstens ihr etwas?«

Weil Kriminaloberkommissar Pierre Vonderbank und Polizeihauptmeister Herbert Demonty nur wortlos ihre Köpfe schüttelten, beschloss Le Maire, auf den Balkon zu gehen, um sich eine Zigarette zu drehen. »Und dann bringst du mir einen deiner köstlichen Kaffees, Locki!«

»Ach, Chef! Noch etwas: Sie müssen sich bei Docteur Baguette in Lüttich zurückmelden!«

»Ich weiß, Locki! Danke! Du kannst mich gleich mit ihm verbinden, ich muss ihn sowieso kurz sprechen!«

»Aber erst nach dem Kaffee, oder?«, fragte sie in verführerischem Tonfall, den sie mit einem Augenzwinkern garnierte.

Le Maire nickte zustimmend.

Eine Kaffee- und Zigarettenlänge später hatte Le Maire seinen direkten Vorgesetzten Docteur Etienne Baguette am Telefon. Der hochrangige Beamte war der Chef einer von insgesamt drei Generaldirektionen mit Sitz in Lüttich, also ein »hohes Tier«. Über ihm stand nur das Generalkommissariat in Brüssel. Seine – also auch Le Maires Dienststelle – war Teil der Police Fédérale, der landesweiten Polizei Belgiens, die ihre Fühler in alle Richtungen ausstreckte, wenn es um das Verhindern möglicher Verbrechen oder um die rasche Aufklärung derselben ging.

Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln drang aus dem Telefonhörer Papierrascheln. »Mein guter Le Maire, ich komme gleich zum Punkt: Ich lese hier, dass Sie zu viele Überstunden haben und schleunigst wenigstens einen Teil davon abbauen müssen!«

»Schon wieder Urlaub? Jetzt gleich?«, schoss es entrüstet aus dem besten Mordermittler Belgiens heraus.

»Ja! Jetzt gleich! Das Jahr geht dem Ende entgegen! Weil offensichtlich alle Mörder in Ihrem Zuständigkeitsbereich in die Herbstferien gegangen sind, ist hier seit Wochen tote Hose! Deswegen habe ich sogar unseren neuen Rechtsmediziner kurzfristig auf einen Fortbildungslehrgang nach Brüssel geschickt.« Offenbar um Le Maire dazu zu bewegen, wenigstens ein paar Überstunden abzubauen, schmückte er dieses Argument aus: »Sie haben ja selbst gemerkt, dass der junge Mediziner keine Erfahrung hat und dass derzeit nichts los ist!« Docteur Baguette legte eine kurze Pause ein, bevor er ergänzte: »Fragen Sie mich nicht, warum momentan niemand umgebracht wird. Wie gesagt …«

»Ich weiß, lausige Zeiten für Mordermittler«, murmelte Le Maire.

»Was? … Äh … Sind Sie verrückt geworden, Le Maire?«, rügte Docteur Baguette seinen Hauptkommissar, nachdem er realisiert hatte, was der soeben von sich gegeben hatte. Er räusperte sich fast etwas verlegen und fuhr in gemäßigtem Ton fort: »Jedenfalls ist das die Gelegenheit für Sie, in diesem Jahr ein paar Urlaubstage dranzuhängen. Ich weiß, dass ich anderen Kollegen nicht zumuten kann, im November Urlaub zu machen. Aber Sie fahren ja – wie ich weiß – sowieso nie ins Ausland in die Ferien.«

»Das stimmt nicht, Monsieur Docteur! Ich habe erst jetzt gerade ein paar Tage Urlaub in der Eifel gemacht!« Dass er gerne wieder einmal in sein geliebtes Katalonien oder ins schöne Allgäu fahren würde, verkniff er sich angesichts Baguettes drohendem Vorschlag.

»Jaja. Schon gut! Und jetzt genießen Sie zur Abwechslung einfach einmal unsere Heimat – Belgien ist wunderschön! Fahren Sie zur Küste hoch, oder …«

»Alles klar, Chef«, unterbrach Le Maire wieder. »Ich habe verstanden und beuge mich der Gewalt. Ich arbeite bis zum Wochenende einige Kleinigkeiten auf und lege dann ein paar Tage Urlaub drauf. Ist das für Sie in Ordnung?«

Le Maire bemerkte zwar Docteur Baguettes erleichtertes Ausatmen, der aber nicht Le Maires inneren Fluch.

»Ich wusste, dass Sie vernünftig sind!«, lobte Docteur Baguette, obwohl er sich denken konnte, dass in der Regel genau das Gegenteil der Fall war. Hauptsache, das Thema war für den Chef vom Tisch.

*

Endlich war die ungewöhnlich unaufgeregte Arbeitswoche ohne eine einzige Leiche zu Ende gegangen. Frederic wollte sich zuerst vom Büro zu seiner alten Wohnung in die Rue de la Violette begeben, die mitten im Zentrum von Lüttich lag. Dort würde er seinen Kulturbeutel und ein paar Klamotten in seinen 40 Jahre alten mintfarbigen Citroën packen und dann in die gemeinsame Wohnung nach Aachen zu seiner Angelika fahren. Dabei wusste er jetzt schon, dass er den neuen Designeranzug und die hippen Schuhe, die nach Angelikas Aussage »perfekt« zum Anzug passten, in seiner Lütticher Wohnung geflissentlich vergessen würde.

*

Am Nachmittag des folgenden Tages hatte der beurlaubte Kommissar eine Art Déjà-vu. Wie vor knapp zwei Wochen in Vaals machte Angelika Besorgungen, während er relaxt vor einem Lokal saß. Dieses Mal an einem Samstag und auf der Terrasse des Café-Restaurants »Elisenbrunnen« in seiner neuen Wahlheimat Aachen. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel und blätterte das »Aachener Tagblatt« durch. Dabei stolperte er über den Polizeibericht:

Aachener Tagblatt vom 30. Oktober 2021. – Polizeibericht:

Aus der Nachbarschaft. Wie die Aachener Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen erst heute mitteilt, ist es im niederländischen Grenzort Vaals zu einer Leichenfledderei gekommen. Als am frühen Morgen des 19. Oktobers einer der Friedhofswärter über den Friedhof zur Aussegnungshalle gehen wollte, entdeckte er einen Erdhügel, der dort nicht mehr sein sollte, weil mit dieser Erde tags zuvor ein frisch ausgehobenes Grab zugeschüttet worden war. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass das Grab der am Vortag darin beerdigten Frau wieder ausgehoben und der Inhalt des Sarges verschwunden war. Von Leiche und Leichendieb fehlt bislang jede Spur. Sachdienliche Hinweise …

Schon wieder Vaals? Dort geht es derzeit ja zu wie im Chicago der 1920er-Jahre! Ich glaube, ich lasse mich nach Holland versetzen, dachte Le Maire grinsend, schob den irrsinnigen Gedanken aber sofort wieder beiseite.

Weil die niederländische Provinz Limburg, zu der das ansonsten eher beschauliche Grenzstädtchen zählte, nicht zu seinem Revier gehörte, hatte er dort nichts zu melden. Allerdings scherte sich der belgische Kriminalbeamte normalerweise nie um Grenzen, an denen seine Kompetenzen als »ein im deutschsprachigen Gebiet Belgiens tätiger wallonischer Kriminalhauptkommissar« normalerweise endeten.

Die Sache mit dem Leichendiebstahl in Vaals interessierte ihn brennend. Aber: Es ging ihn wirklich nichts an.

Deswegen schlug er die Zeitung zu und zog nachdenklich ein paar Mal an seiner Zigarette. Schließlich war er für ermordete Menschen und nicht für verschwundene Friedhofsleichen aus dem Ausland zuständig – es sei denn, sie hatten etwas mit einem Mordfall zu tun, den er und sein Team bearbeiteten. Aber derzeit gab es eben nichts zu bearbeiten. »Keine Leiche, keine Arbeit! So einfach ist das«, seufzte er leise in sich hinein.

*

Frederics ganz persönliche »Urlaubswünsche« waren insofern in Erfüllung gegangen, dass Angelika nicht schon wieder freibekommen hatte und er seine Freizeit zumindest tagsüber weitgehend selbst im direkten Umfeld gestalten konnte. So hatte er es gemütlich angehen lassen und Angelika fast täglich zur Arbeit gefahren. Danach war er meist planlos durch Aachen geschlendert, ohne sich um das dortige Geschäftsleben zu kümmern. Manchmal hatte er sich in ein Café gesetzt, um ganz einfach Menschen zu beobachten.

Erst nach Angelikas Feierabend in der Aachener Rechtsmedizin war es für ihn das eine oder andere Mal etwas stressig geworden. Angelika hatte ihn dazu überredet, mit einem oder zwei befreundeten Pärchen ins »Aachener Brauhaus« oder in den »Domkeller« zu gehen, zwei der wenigen verbliebenen urigen Öcher Bierkneipen. Wie immer, wenn sie sich mit Freunden trafen, hatte Angelika sich die eine oder andere neckische Bemerkung wegen ihres Berufes anhören müssen wie beispielsweise: »Hast du dir auch schön die Hände gewaschen?« Weil die coole Leichenbeschauerin diese dummen Sprüche zur Genüge kannte, nahm sie das Ganze stets locker.

Frederic konnte nicht immer alles so leicht nehmen wie seine Partnerin. Denn während Angelikas beste Freundin, die 42-jährige Innenarchitektin Eleonore Olbrich, von ihrem aktuellen Projekt zwischen Münsterplatz und Fischmarkt erzählte und von der ersten Madonnenfigur schwärmte, die dort zur Dekoration eingetroffen war, nervte ihr Mann. Bert Olbrich war ein äußerst geschwätziger Psychologieprofessor der RWTH Aachen, der immer alles besser wusste – sogar besser als Frederic.

Während Frederics »Single-Urlaubs« hatte Angelika sich lediglich zweimal durchsetzen und ihn in die nordrhein-westfälische Spitzengastronomie schleppen können; einmal davon sogar in ein japanisches Edelrestaurant in Köln, in dem das Fleisch vor ihren Augen auf einem »Teppanyaki-Grill« zubereitet wurde.

»Jaja! Dann trinke ich in Gottes Namen eben ein japanisches Bier!«, hatte Frederic sehr zu Angelikas Missfallen geknurrt, nachdem ihn der freundliche Koch gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. »Asahi-Bier! Wenn ich das schon höre, Asahi! Da lobe ich mir mein belgisches Jupiler«, hatte er gemault und das Getränk mit einer todesverachtenden Mimik in sich hinein- und einen Shōchū hinterhergeschüttet.

Da hatte es auch nichts genützt, dass Angelika ihm erklärt hatte, dass er ein Sapporo- oder ein Yebisu-Bier hätte bestellen können. »Das Asahi …«, hatte sie mit erhobenem Zeigefinger geschulmeistert, »… ist das teuerste japanische Bier, das sie hier haben, also wird es wohl auch das Beste sein. Und jetzt hör endlich mit deiner Motzerei auf!« Sie hatte ihn sogar so laut gerügt, dass der Chefkoch erneut an den Tisch gekommen war, um nochmals nachzufragen, ob alles in Ordnung sei.

»Jaja … Ein Bier, bitte!«

Im »La Bécasse«, einem französischen Nobelrestaurant in Aachen, hatte er sich ein paar Tage später zwar schnell an die landestypische Zubereitung des Steaks mit der leckeren Soße gewöhnt. Allerdings gab es als Beilage keine Fritten, sondern nur Kroketten. Französische Kartoffelstäbchen hätte er – im Gegensatz zu deutschen Pommes frites – seinem Magen sogar angetan, obwohl er normalerweise nur belgische Fritten akzeptierte.

Was die Getränke betraf, so war er wenigstens diesbezüglich etwas zufriedener gewesen. Die Bierqualität war deutsch. Und damit konnte sich das japanische Gebräu trotz aller Bemühung nicht messen.

So waren die Tage vergangen, ohne dass Angelika die Zeit gehabt hatte, mit ihm ausschweifend shoppen zu gehen. Hier und da waren sie zwar in die von Frederic gerne gemiedene »Elisengalerie« oder in den von ihm gehassten Konsumtempel »Aquis Plaza« gehetzt, aber mehr hatte sie ihm nicht zugemutet. Weil Angelika bei den wenigen Einkaufsmöglichkeiten ganz auf sich selbst fixiert gewesen war, hatte sie ihn weitestgehend verschont. Die Camouflage-Jogginghose, die in einer Geschäftsauslage gelegen hatte, hatte sie ihm dann aber doch kaufen müssen.

Ich bin Polizeibeamter und kein Soldat. Nur gut, dass ich die ausschließlich zu Hause tragen muss und mich niemand damit sieht, hatte er sich gedacht, als er das Geschenk mit einem verzerrten Lächeln in Empfang genommen und ihr ein Küsschen gegeben hatte.

*

Zur Abwechslung war Frederics Lebensgefährtin übers Wochenende mit ihm nach Lüttich gefahren, wo sie sich erst einmal damit befassen musste, Frederics ehemaligen Erst- und heutigen »Ausweichwohnsitz« auf Vordermann zu bringen.

»Aha. Da also hast du deinen neuen Anzug und die Schuhe versteckt«, hatte Angelika in ruhigem Ton gesagt und die beiden hippen Teile demonstrativ auf dem Bett ausgebreitet. Das Schuhwerk hatte sie ebenfalls gut sichtbar direkt davor auf den Boden gestellt. Frederic war nichts anderes übrig geblieben, als den topaktuellen Anzug mit der, wie er fand, schrecklichen Jacquardmusterung zu loben. Um keinen Streit zu provozieren, hatte er sogar beschlossen, sich kampflos in sein unausweichliches Schicksal zu ergeben. Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich Soldat geworden wäre, hatte er sich gedacht und sich gnädig gezeigt: »Weißt du was, Angelika? Zum Dank lade ich dich heute zum Essen ein!«, hatte er an diesem frühen Samstagabend verheißungsvoll getönt und – um seiner Geliebten zu gefallen – den Anzug angezogen, den er ansonsten niemals »freiwillig« tragen würde.

*

»Sag mal, spinnst du? Willst du mich natzen!«, schimpfte Angelika, die in ihrem engen Kostümchen eine ganz besonders gute Figur abgab, obwohl ihr die Zornesröte ins Gesicht geschossen war.

»Wieso?«, wunderte Frederic sich allen Ernstes, als sie durch die Tür der »Friterie du Perron« an der Ecke Rue de Rey nahe seiner alten Wohnung spazierten, wo Angelika ungläubig auf die frittierten Kartoffelstäbchen in der Auslage starrte, während er im Geiste bereits genüsslich damit begonnen hatte, sein Menü zusammenzustellen.

Fast angewidert wandte Angelika ihren Blick ab und schaute wehmütig zum Fenster hinaus. Anklagend zeigte sie über die Hauptstraße zum »Place du Marché« hinüber. »Hättest du mich nicht wenigstens ins ›Å Pilori‹ einladen können? Ist das nicht eines deiner beiden Stammlokale gewesen, als du noch in Lüttich gewohnt hast? Weshalb haben wir uns so rausgeputzt? Nur dass du mich in eine gewöhnliche Frittenbude schleppst?«

»Entschuldige, mein Schatz! Weil ich schon lange nicht mehr bei meinem alten Freund ›Fritten Ralf‹ war, dachte ich mir …«

»Was dachtest du dir?«, unterbrach Angelika schroff. »Nichts hast du dir dabei gedacht, als du mich ohne Vorwarnung hierhergebracht hast.« Während Angelika so richtig loslegte, brummte es in Frederics Hosentasche. Egal, wer dran ist, der Anruf kommt genau zur richtigen Zeit, dachte er sich und fischte sich zu Angelikas Erstaunen sein ausnahmsweise einmal betriebsbereites Mobiltelefon aus der Tasche. Dass der Akku seines Handys geladen war, lag nur daran, dass er sehnlichst darauf hoffte, endlich Arbeit zu bekommen, derentwegen er seinen Urlaub würde abbrechen müssen.

Als Angelika weiterschimpfen wollte, sagte er nur: »Entschuldige bitte.«

»Schon gut!«, schnaubte sie, aber ihr Unmut war noch lange nicht verraucht.

»Oh, Locki! Du bist es! Was gibt’s? … Aha! … Schon gut!« Gleich darauf schoss ein erschrocken wirkendes und irgendwie doch zufrieden klingendes »Was?« aus ihm heraus. Nachdem er einige Male still genickt hatte, fragte er seine Sekretärin: »Wo?« Gleich darauf sagte er in versehentlich gut gelaunt klingendem Tonfall: »Ich fahre sofort los. Ruf die uniformierten Kollegen in Clermont an, dass sie alles absperren und nichts berühren oder verändern sollen!«

Angelika hatte sich zwar vorgenommen, umgehend weiterzupoltern, sowie Frederic sein Telefonat beendet haben würde, ahnte aber, um was es darin gegangen war. »Wer war das?«, säuselte sie und spielte dabei die Uninteressierte.

»Das hast du doch gehört, Schatz! Es war Mademoiselle Loquie, meine Sekretärin!«

»Und? Was ist los? Nun sag schon!«

Frederic atmete tief durch, bevor er antwortete: »Es tut mir leid, aber ich muss weg! Wir haben eine Leiche!«

»Wo?«

»Keine 30 Kilometer von hier!«

»Wo?«, wiederholte sie genervt.

»In Clermont!«

»Meinst du Thimister-Clermont in der belgischen Wallonie? Das kenne ich! Ein süßes mittelalterliches Örtchen.«

»Entschuldige bitte, Angelika. Ja! Selbstverständlich meine ich dieses Clermont und nicht das Clermont in Frankreich oder gar in Florida!«

Während Frederic sich insgeheim darauf freute, endlich wieder einen Mordfall lösen zu dürfen, anstatt mit Angelika einen auf fein machen zu müssen, holte sie ihr nagelneues iPhone hervor und versuchte, damit ins Netz zu gelangen.

»Also … Äh … Ich muss jetzt fahren!« Wenn der Kriminalbeamte hoffte, sich so einfach loseisen zu können, irrte er sich gewaltig. Angelika fragte ihn, ob er sie nicht mitnehmen mochte.

Der Mordermittler überlegte einen Moment lang. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte, dass er grundsätzlich nichts dagegen habe, es aber nicht ihr Fall sei, weil der Tote, »… wie wir nun ja festgestellt haben«, in der Provinz Lüttich aufgefunden worden sei. Damit – so glaubte er – sei die Sache vom Tisch.

»Da irrt sich der Herr Kriminalhauptkommissar aber gewaltig!«, entgegnete sie selbstbewusst.

»Wie … Wie meinst du das?«, wunderte sich Frederic.

»Sieh selbst!«, sagte sie und hielt ihm triumphierend ihr Smartphone entgegen.

»Ja und? Du hast einen Routenplaner aufgerufen. Was soll das?«

Angelika lachte siegessicher auf, bevor sie ihm erklärte, dass es von Lüttich nach Clermont genau 28,4 Kilometer, von Aachen aus aber nur 23,3 Kilometer waren. »Also liegt Aachen näher am Tatort als Lüttich, oder? Außerdem ist dies sowieso nicht dein Fall, weil du in Eupen und nicht mehr in Lüttich arbeitest! Hast du das vergessen?«

Nun triumphierte Frederic: »Dennoch wurde ich angerufen! Und von Eupen aus sind es nur gute 14 Kilometer!«

Er sah Angelikas fordernden Blick und fluchte still in sich hinein. Er wusste, dass er sagen konnte, was er wollte, er hatte schon verloren. Also gab er sich lieber gleich geschlagen, als sich auf eine lange Diskussion einzulassen, bei der er am Schluss sowieso den Kürzeren ziehen würde. »Von mir aus!«, knurrte er. »Möglicherweise hast du Glück.«

Angelikas Augen weiteten sich erwartungsvoll. »Weshalb?«

»Na ja, ich hatte dir doch davon erzählt, dass der junge Nachfolger von Docteur Brülèe zur Fortbildung in Brüssel ist. Somit ist die Gerichtsmedizin in Lüttich derzeit verwaist.«

Bevor es sich Frederic doch noch überlegte, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn. »Danke, Lemmi!«

Nun stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst! Und nun lass mich in Ruhe mit meinem Chef telefonieren, damit er unserer neuerlichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zustimmen kann! Das klappt nur, wenn er seinen Segen gegeben hat. Und den bekommen wir nur, wenn es Docteur Baguette gelingt, Oberstaatsanwalt Delieux ebenfalls mit ins Boot zu nehmen.«

»Aber das war doch sicher nicht zufällig, dass sie in Eupen angerufen und dich zu dem Fall gerufen haben, oder?«, wunderte sich Angelika und setzte keck nach: »Dann gibt es sicher auch keine Probleme, wenn ich dich bei der Aufklärung dieses Falls unterstütze.«

Goldmadonna

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