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UNTERWASSERTRÄNEN

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»Verdammt, das ist nicht fair! Du hast es mir versprochen, und ich will mit!«

Auf keinen Fall würde ich mit Sandra hier im kalten Deutschland bleiben, während Till nach Mexiko reiste und dort ohne mich das tun würde, wovon er mir seit Jahren vorgeschwärmt hatte: in einer Cenote zu tauchen und ihre mystische Unterwasserwelt zu erforschen. So lange schon träumte ich davon, ihn zu begleiten und mit ihm zusammen hinab in ihre Tiefen zu schwimmen. Diese Vorstellung war eine Art Lebenselixier für mich gewesen, manchmal auch ein Überlebenselixier.

Doch mein Temperamentsausbruch überraschte mich jetzt selbst. Erschrocken hielt ich inne und schlug die Hand vor meinen Mund, und auch Onkel Till und Sandra starrten mich an, als sähen sie mich so zum ersten Mal. Nie zuvor hatte ich laut geflucht, und schon gar nicht hatte ich die beiden angebrüllt. Oder irgendjemand anderen – selbst, wenn sie mich noch so sehr geärgert hatten. Wütend sein war nicht cool, wenn man dabei weinte. Und ich weinte bei nahezu jedem Anlass. Meistens war ich noch nicht einmal traurig dabei. Es passierte einfach, ohne dass ich es kontrollieren konnte – meine Augen liefen über, und binnen Sekunden waren meine Wangen nass, als hätte ich meinen Kopf unter Wasser gehalten. Auch jetzt kullerten dicke Tränen über mein Gesicht, doch gleichzeitig zitterte ich vor Zorn. Ja, ich war sauer, richtig sauer, und Onkel Till sollte das ruhig wissen. Allerdings war es ziemlich anstrengend, wütend zu sein. Meine Knie fühlten sich schon ganz weich an, und ich musste mich mit der Hand an der Stuhllehne abstützen, um nicht ins Torkeln zu geraten. Trotzdem hielt ich Tills Blick stand, als ich meinen letzten Satz wiederholte, etwas leiser als eben noch, aber unmissverständlich. »Du hast es mir versprochen!«

»Ach, Vicky, ich hab dir doch erklärt, das ist viel zu gefährlich für dich da unten …« Till zuckte hilflos mit den Schultern und wechselte einen fragenden Blick mit Sandra, die nicht darauf reagierte, sondern mich aufmerksam musterte. »Wir kennen diese Cenote noch nicht! Genau deshalb haben sie mich engagiert; ich soll sie zusammen mit den anderen erforschen … Das ist eine Angelegenheit für Profis.«

»Das hab ich alles verstanden, ich bin ja nicht blöd«, erwiderte ich gereizt und gab der Schwäche in meinen Knien nach, indem ich langsam auf meinen Stuhl sank. »Aber hier geht es um ein Versprechen, das du mir gegeben hast. Du hast gesagt, wenn du irgendwann wieder nach Mexiko fliegst, nimmst du mich mit, und dann darf ich auch in einer Cenote schwimmen … vielleicht sogar schnorcheln oder tauchen. Und du hast mir das nicht nur einmal gesagt. Sondern fast jeden Abend.«

»Ja, weil du damals dringend Trost gebraucht hast.«

»Also war das gar kein echtes Versprechen? Sondern nur eine Ausrede?« Mein Gesicht fühlte sich an wie frisch geduscht. Die Tränen tropften auf meinen Kragen, liefen in meine Ohren und hinterließen dunkle Punkte auf meiner Hose. »Du hast mich wirklich angelogen?«

»Nein.« Flehend blickte Till zu Sandra, doch sie ignorierte ihn, während sie mich weiterhin prüfend anschaute. Irgendetwas an mir schien sie gerade sehr spannend zu finden. »Ich hab das schon ernst gemeint. Aber du bist noch zu jung und … zu …« Seufzend brach er ab und warf Sandra einen weiteren Blick zu. »Sag doch bitte auch mal was, Schatz.«

»Ich finde, sie hat recht.«

»Was!? Na, besten Dank …« Till verdrehte die Augen, lehnte sich gegen die Wand und schaute ratlos an die Decke, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Habt ihr euch etwa gegen mich verschworen?«

»Ich sag ja nicht, dass es eine gute Idee ist«, lenkte Sandra vorsichtig ein. »Das ist es nicht, Vicky, freu dich nicht zu früh! Ich mag keine Höhlen und mit Wasser gefüllte Höhlen erst recht nicht, das weißt du, Till. Aber ein Versprechen ist nun mal ein Versprechen, da stimme ich ihr zu. Und wenn sie nicht so allergisch gegen Chlor wäre, würde sie wahrscheinlich längst im Jugend trainiert für Olympia-Team schwimmen. Sie bewegt sich im Wasser so sicher wie keine andere.«

»Ihr kapiert es nicht, oder?« Till löste sich von der Wand und stemmte die Arme in die Seite, während er uns finster anstierte, was ihm nicht sonderlich gut gelang.

Mühsam unterdrückte ich ein Lächeln. Till war von Kopf bis Fuß durchtrainiert, trug seine rötlichen Haare meistens raspelkurz und garnierte sie gern mit einem stacheligen Sieben-Tage-Bart. Außerdem hatte er eine tiefe, brummige Räuberhauptmann-Stimme. Aber seine Augen waren die liebsten, die ich kannte. Dunkelbraun, riesig und mit einem dichten Wimpernkranz. Echte Schokoladenaugen. Er konnte seine Brauen zusammenziehen, sosehr er wollte; böse gucken war nicht seins. Vor allem aber liebte ich ihn über alles. Selbst wenn ich so wütend auf ihn war wie jetzt.

»Das ist eine Cenote, ein Höhlensee mitten im Dschungel. Und wenn ich sage Dschungel, meine ich auch Dschungel. Da gibt’s Schlangen, Skorpione und riesige Spinnen, die Luft wimmelt nur so von Insekten, es ist schwül und stickig, und wir haben dort weder ein richtiges Klo noch eine echte Dusche … Das ist eine Expedition, kein Strandurlaub!«

»Klingt spannend«, erwiderte ich kühl, obwohl mir gerade viel zu heiß war vor lauter Zorn. »Aber ich will immer noch mitkommen. Vielleicht hast du mich angelogen, als du gesagt hast, du würdest eines Tages mit mir in einer Cenote tauchen. Aber du hast nicht gelogen, als du davon erzählt hast, wie glücklich es einen macht, wenn man da unten ist und die Sonne von oben ins Wasser scheint … und wie schön diese Höhlenseen sind … wie geheimnisvoll … Das weiß ich genau!«

Ich erinnerte mich noch an jedes einzelne Wort. Abend für Abend hatte Till mir von seinen Tauchgängen in den mexikanischen Cenotes und ihren magischen Tiefen erzählt, nachdem meine Eltern bei diesem blöden, überflüssigen Unfall gestorben waren und ich glaubte, nie wieder lachen zu können. Taucher lachten, wenn sie aus dem Wasser auftauchten, hatte Till immer wieder beteuert. Ganz egal, was vorher in ihrem Leben geschehen war. Das war ihre erste Reaktion, sobald sie die Maske vom Gesicht nahmen: Sie lachten. Und sollte ich glauben, wirklich nie wieder lachen zu können, werde er mit mir in einer Cenote tauchen, und ich würde mein Lachen dort unten, im tiefen Blau, wiederfinden. Ganz sicher.

»Ja, mich macht es glücklich«, entgegnete Till überraschend sanft. »Das stimmt. Doch ich bin seit zwanzig Jahren Berufstaucher und weiß daher genau, wie riskant es sein kann, sich in einer unerforschten Höhle zu bewegen. Wir können nächstes Jahr gerne mal einen ganz normalen Urlaub auf Yucatan buchen und in einer der öffentlichen Cenotes schwimmen, die haben außerdem auch Umkleidekabinen und Treppen und sind ungefährlich …«

»Willst du mir nicht lieber gleich das Planschbecken aufpusten und ins Wohnzimmer stellen?«, unterbrach ich ihn schluchzend und schniefend. Ich verschluckte mich beinahe an meinen Tränen. »Ich bin vierzehn Jahre alt, keine vier! Ich will nicht in einer doofen Touri-Cenote schwimmen!«

Sandra schüttelte in sich gekehrt den Kopf und deutete mit der Linken in meine Richtung. »Schau, es geht schon wieder los …«, murmelte sie Till zu. »Und sie scheinen ganz ihrer Meinung zu sein.«

Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, auf welches Phänomen sie mit ihren Worten anspielte, denn ich hatte schon zu Beginn unserer Diskussion gespürt, dass sie näher kamen. Wann immer ich länger als ein paar Minuten an meinem Esstisch-Platz vor dem Aquarium saß, begannen die Fische sich hinter mir um meinen Kopf herum in einem Kreis zu versammeln. Irgendetwas an meinen lockigen Schlangenhaaren schienen sie hochinteressant zu finden. Vielleicht erinnerte ich sie an eine Wasserpflanze aus ihrer Heimat. Auf der anderen Seite war ich diejenige, die sie jeden Tag fütterte und mit ihnen sprach, und Fische waren nicht so dumm, wie die Menschen immer behaupteten. Sie reagierten auf meine Stimme, und der dicke Buntbarsch ließ sich sogar ab und zu seinen Rücken von mir streicheln. Ich war sogar fest davon überzeugt, dass sie mich verstanden, vielleicht besser als so manche Menschen.

Schweigend beobachteten Till und Sandra, wie die Fische sich um meinen Schopf herum positionierten, und ich musste trotz meines Zorns beinahe lachen, als ich mir vorstellte, wie wir gemeinsam diese beiden Menschen anschauten. Es passte; ich sah meinen geliebten Fischen tatsächlich ein wenig ähnlich mit meinen großen, leicht hervortretenden Augen und meinen üppigen Lippen. Noch ein paar Jahre, und jeder würde denken, ich hätte sie mir künstlich aufspritzen lassen.

»Es tut mir leid, ich bleibe dabei.« Till verschränkte entschieden die Arme, wobei seine Schultern leise knackten. »Es ist zu gefährlich für dich, und ich werde dort keine Zeit haben, mich um ein junges Mädchen zu kümmern. Es geht nicht.«

Tills Worte klangen so endgültig, dass ich aufgab. Doch meine Wut blieb. »Ich glaube dir nie wieder etwas. Nie wieder!«, schrie ich ihn an, wobei meine Lunge seltsam blubberte. Dann stand ich auf und stolperte in mein Zimmer, wo ich mich heulend auf mein Bett fallen ließ. Binnen Sekunden bildete sich ein nasser Fleck auf meinem Kopfkissen, und ich wusste aus Erfahrung, dass es wahrscheinlich Stunden dauern würde, bis meine Augen sich wieder beruhigt hatten. Schon jetzt fühlte ich mich wie kurz vor dem Verdursten. Blind griff ich nach der Wasserflasche neben meinem Nachttisch, setzte sie an meine Lippen und trank gierig, wobei ich die Hälfte verschüttete.

Till hatte nicht nur sein Versprechen gebrochen. Er war überhaupt nicht ehrlich zu mir gewesen. Ja, eine unerforschte Cenote war sicherlich etwas anderes als ein Swimmingpool. Und ein tropischer Dschungel war nicht der Schwarzwald. Das sah ich alles ein. Aber das war es nicht, was ihn davon abhielt, mich mitzunehmen. Er dachte, ich sei zu labil für eine solche Reise, zu … na, zu sehr Vicky. Vicky mit all ihren merkwürdigen Besonderheiten. Zu wenig, um als behindert zu gelten, zu viel, um als normal durchzugehen. Zu zartbesaitet vor allem. Zu nah am Wasser gebaut … Warum verstanden sie nicht, dass das viele Weinen mir gar nichts ausmachte? Für mich war es normal. Ich weinte, wenn ich traurig war, wenn ich fröhlich war, wenn ich mich aufregte, wenn ich einen spannenden Film sah, wenn ich ein Kind singen hörte, meine Fische zu mir kamen – und so weiter. Für meine Augen gab es tausend gute Gründe zu weinen, und ich war machtlos dagegen. Doch es war keine Krankheit. Im Gegenteil, wenn ich mal ein paar Tage nicht weinte, fühlte ich mich elend. Für mich war es gut, viel zu weinen. Es fühlte sich natürlich an. Leider glaubte mir das niemand.

»Können wir denn wirklich keinen Kompromiss finden?«

»Was für ein Kompromiss denn, Herrgott?«, wetterte Till. »Der Dschungel macht keine Kompromisse!«

Jetzt sprachen sie also wieder miteinander – ohne zu ahnen, dass ich sie hörte. Ich hörte sie immer, wenn sie sich unterhielten und ich in meinem Zimmer war. Es sei denn, ich stopfte mir wie jede Nacht Oropax in die Ohren. Still war es dann zwar auch nicht, aber immerhin verstand ich ihre Worte nicht mehr. Ich vernahm nur noch ein undeutliches Genuschel, das mich manchmal sogar beruhigte. Mein empfindliches Gehör gehörte zu den vielen Vicky-Schrullen, doch nie hatte ich jemandem verraten, wie gut ich wirklich hörte. Die Neurodermitis, mein schwankender Gang und meine ständigen Tränen reichten vollauf.

»Jetzt bleib mal auf dem Teppich, Till. Es ist Yucatan, nicht der Kongo. Jedes Jahr fliegen Zigtausende von Touristen dorthin und lassen sich gepflegt die Sonne auf den Bauch scheinen.« Stühle rückten, dann knarzte das Sofa. Sie hatten es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. »Okay, ich mach dir einen Vorschlag: Was wäre denn, wenn ich unseren Mädels-Skiurlaub absage und Vicky und ich uns stattdessen dir anschließen? Schließlich sind dann Weihnachtsferien. Beste Reisezeit für Mexiko. Wir könnten ein nettes Hotel direkt am Strand buchen, für die ersten Tage, und zu euch stoßen, wenn euer Lager steht und ihr euch mit der Location vertraut gemacht habt. Vicky darf die Füße in die Cenote hängen lassen, aber ich fürchte mich ganz schrecklich vor Spinnen und Schlangen und ekle mich vor dem Plumpsklo, und nach einer Nacht haben wir die Nase voll und fahren zurück ins Hotel. Deal?«

Ein abgrundtiefes Seufzen drang durch die Wand. Ich blieb starr liegen, ohne zu blinzeln, um auch ja kein Wort zu verpassen, während die Tränen weiterhin in Strömen aus meinen Augenwinkeln rannen und das Kopfkissen langsam, aber sicher in einen Schwamm verwandelten. Doch es kühlte meine erhitzten Wangen, und ich schlief gerne auf einem nassen Kissen ein. Jetzt allerdings war ich so wach wie noch nie zuvor.

»Du weißt, was ich meinem Bruder versprochen habe, bevor er …« Till verstummte.

Bevor er starb, führte ich seinen Satz in Gedanken zu Ende. Mama war sofort tot gewesen, nachdem der Kleinbus gegen die Gangway gekracht und in Flammen aufgegangen war. Papa hatte noch zwei Tage durchgehalten und war zwischendurch wach genug gewesen, um mit Till sprechen und ihn darum bitten zu können, mich bei sich und Sandra aufzunehmen – und das, obwohl Till damals die meiste Zeit des Jahres in Unterwasserhöhlen rund um den Erdball unterwegs gewesen war. Meine Eltern waren nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie waren ums Leben gekommen, bevor sie das Flugzeug überhaupt bestiegen hatten, weil der Fahrer des Busses einen Herzinfarkt erlitten und die Kontrolle über das Steuer verloren hatte. Die Trauer um sie hatte mich regelrecht aufgefressen, und dabei spielte es nicht die geringste Rolle, dass sie nicht meine biologischen Eltern waren. Mama und Papa hatten nie mit mir darüber gesprochen, dass ich als Baby von ihnen adoptiert worden war, aber ich hatte es immer gewusst. Ich war nicht ihr leibliches Kind. Das hatte mich jedoch nie davon abgehalten, sie von ganzem Herzen zu lieben, und meine Sehnsucht nach ihnen hatte dafür gesorgt, dass ich manchmal weder essen noch schlafen konnte. Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal seit Langem wieder so intensiv an sie denken müssen, dass es richtig wehgetan hatte. Doch die schlimmste Trauer hatte sich gelegt. Trotzdem lag das Unglück wie ein dunkler Schatten über meinem Leben. Und als ob Till befürchtete, dass mir Ähnliches passieren könnte wie ihnen, war ich bisher nicht einmal in die Nähe eines Flughafens gekommen. Unsere Urlaube beschränkten sich auf Ziele, die mit dem Auto erreichbar waren, und wenn Till auf einer Expedition war, ließ er Sandra und mich zu Hause, und wir unternahmen eigene, ungefährlichere Ausflüge. Sandra hatte keine Lust, ihm wie ein Hündchen hinterherzulaufen, wenn er seine »Männerabenteuer« pflegte. Aber es war auch wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass ich für Expeditionen nicht geeignet war und einer bei mir bleiben musste. Selbst am Meer passten sie unentwegt auf mich auf, dabei konnte ich mich in der Brandung besser halten als sie.

»Ja, das weiß ich«, sagte Sandra nach einem kurzen Moment der Stille. »Und du hast dieses Versprechen auch gehalten. Du hast dich wie ein echter Vater um sie gekümmert und machst dir wie ein echter Vater Sorgen um sie. Aber wir können sie nicht ihr ganzes Leben lang in Watte packen, und Vicky auf Skiern … Ich mag es mir gar nicht ausmalen. Das kann nicht gut gehen. Sie ist dafür nicht gemacht.«

Ich wollte mir das auch nicht ausmalen. Wahrscheinlich würde ich die meiste Zeit auf dem Rücken die Piste hinunterschlittern und mir dabei alle Knochen brechen. Ich tanzte gerne, am liebsten allein in meinem Zimmer, und dabei bewegte ich mich sicher und geschmeidig. Aber beim Sport war ich eine echte Katastrophe, und alles in mir sträubte sich dagegen, mir zwei Bretter unter meine Füße zu schnallen und mich einen steilen Hang hinunterzustürzen, auch wenn die klare Luft der Alpen meiner Haut guttat. »Sie hat immer noch keine Freunde im Gymnasium gefunden, die anderen ziehen sie nur auf oder meiden sie … Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer oder mit mir«, sprach Sandra weiter. »Vielleicht wäre es gut für sie, mal eine aufregende Reise zu machen und etwas zu erleben, wovon die anderen nur träumen. Dann hat sie nach den Ferien etwas zu erzählen und kann tolle Fotos posten.«

»Aber was ist mit ihrer Haut? Was, wenn es in der Hitze schlimmer wird?«, wandte Till ein. »Wir wissen ja immer noch nicht, was genau sie eigentlich hat …«

»Ja, richtig. Wissen wir nicht. Nur – sie hat vorhin zum ersten Mal klar gesagt, was sie will, und sie hat ein Versprechen eingefordert. So hab ich sie noch nie erlebt. Sie war richtig sauer! Vicky braucht Selbstbewusstsein, um sich in ihrem Umfeld zu behaupten. Wenn sie endlich mal selbstbewusst auftritt, sollten wir das vielleicht fördern und nicht bestrafen. Denn anders wird sie nicht durchs Leben kommen. Sie ist viel zu lieb und zu gut für diese Welt.«

»Hm«, brummte Till, und wieder machte sich Schweigen breit.

Gespannt lauschte ich in die Stille hinein. In meinen Ohren rauschte das Blut, ein ständiges Auf und Ab, das mich an die Brandung des Meeres erinnerte. Ich hatte Till nie erzählt, dass ich fast jede Nacht von den Cenotes träumte und dabei weit hinabtauchte. In diesen Träumen konnte ich unter Wasser atmen. Ich fühlte mich schön und gesund und so zufrieden, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Mir war klar, dass ich das auf diese Weise nicht erleben würde, wenn wir dort waren. Aber allein die Vorstellung, eine Cenote zu sehen, direkt vor mir, erfüllte mich mit solcher Sehnsucht, dass mein Herz schmerzte. Von mir aus konnte meine gesamte Haut schuppig werden und sich schälen, das war mir egal. Im Wasser spürte ich das Jucken und Brennen sowieso nicht mehr. Nur jetzt, im Winter, unter mehreren Kleidungsschichten, machte mich die Schuppenflechte schier verrückt. Dann konnte ich mich nur davor bewahren, mich blutig zu kratzen, indem ich abends stundenlang in der Badewanne lag und vergaß, dass ich das »Schuppenmonster« war, wie mich meine Klassenkameraden in der Schule manchmal hinter meinem Rücken nannten. Oder »Froschgesicht«, wenn meine Haut ausnahmsweise mal in Ordnung war. Irgendetwas fanden sie immer.

»Na gut, in Ordnung, ihr habt gewonnen. Versuchen wir es.«

Mit der Hand vor dem Mund unterdrückte ich einen Freudenschrei. Hatte ich das richtig verstanden? Till gab sein Okay, er war zu Sandras Kompromisslösung bereit?

»Such du ein passendes Hotel in der Nähe, und wenn wir dort sind, erkunde ich erst einmal mit dem Team die Location. Aber dieses Mal verspreche ich gar nichts. Denn ich habe keine Ahnung, was uns dort erwartet. Jede Cenote ist anders. In dieser ist niemand zuvor getaucht, weil sie erst vor ein paar Monaten entdeckt wurde. Ich weiß nur, wo sie grob liegt und dass sie wahrscheinlich eine direkte Unterwasser-Verbindung zum Meer hat. Alles andere erfahre ich erst vor Ort. Also, bitte kein Drama, falls ihr die gesamten Ferien über im Hotel bleiben müsst.« Till versuchte, streng zu klingen, was ihm dank seiner tiefen Stimme erstaunlich gut gelang. Doch Sandra ließ nur ein unbeeindrucktes »Pffff« ertönen, was ihn wider Willen zum Lachen brachte, während ich inzwischen beide Hände fest auf den Mund presste, um nicht laut zu jubeln.

Ich hatte es geschafft, es würde passieren! Ich würde ins Land meiner Träume reisen und das mystische Blau der Cenotes nicht nur auf Fotos und YouTube-Videos anschauen können, sondern wahrhaft vor mir sehen. Mit etwas Glück würde ich sogar darin schwimmen können, um mich herum das dichte Grün des Dschungels und unter mir – unter mir der Ruf des Meeres.

»Danke, Till, danke, danke, danke …«, flüsterte ich lächelnd und presste meine heißen Wangen an das kühle, nasse Kissen. »Ich hab dich schrecklich lieb. Denn du hast dein Versprechen gehalten. Das werde ich dir niemals vergessen.«

Entspannt schloss ich die Augen und genoss das sanfte Rauschen in meinen Ohren. Mir war, als dürfte ich nach einer langen, langen Irrfahrt endlich heimkehren.

Aqua Mystica

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