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DSCHUNGELFANTASIEN

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»Bist du wirklich sicher, Vicky? Sollen wir das durchziehen?« Entkräftet lehnte Sandra sich an einen wuchtigen Baumstamm, über dessen Rinde unzählige rötliche Ameisen wuselten und dessen Wurzeln einen seltsam fauligen Geruch verströmten. Mit einem großen Blatt, das sie vorhin auf dem Boden gefunden hatte, fächelte sie sich Luft zu, während Till mit dem Rücken zu uns am Kofferraum des Jeeps stand und Vorräte in einen gigantischen Rucksack packte. »Ich geh hier noch kaputt, es ist so schwül …«

»Ja, ich bin absolut sicher.« Okay, besonders gut ging es mir heute auch nicht. Sandra und ich hatten die ersten zwei Tage nach unserer Ankunft größtenteils auf der Toilette verbracht, weil uns Montezumas Rache heimgesucht hatte – angeblich eine Art heilige Tradition unter den Yucatan-Touristen. Nur die wenigsten blieben davon verschont. Am dritten Tag hatten wir immerhin wieder mit Appetit essen können, fühlten uns aber wie lebendige Leichen. Erst am Tag vier hatten wir einen Abstecher an den Strand gewagt, und genau in dem Moment, als die erste Welle meine Füße überspülte und ich mich gerade kopfüber ins Meer stürzen wollte, war Tills Nachricht reingekommen. Normalerweise gab es nichts, das mich hätte stoppen können, in die Brandung zu laufen, doch dieses Mal drehte ich mich um und beugte mich neugierig über Sandras Schulter. Langsam scrollte sie nach unten; für Tills Verhältnisse war seine Nachricht ein echter Roman.

Alles so weit okay hier, wir haben sogar echte Dixie-Klos und eine Hütte mit Dusche. Küche steht auch, mit eigenem Koch. Luxus-Expedition! Die Cenote ist klein, aber traumhaft schön. Hole euch morgen Mittag ab; mein Zelt ist groß genug für drei. Fühlt euch umarmt, bis bald, Till.

»Da hat wohl einer Sehnsucht bekommen …«, hatte Sandra mit leicht gequältem Lächeln gemurmelt, während ich vor Freude um sie herumsprang, wobei ich zwei Mal gestolpert und fast der Länge nach hingefallen war. Anstatt zu baden, liefen wir zurück auf unsere Zimmer, um unsere Rucksäcke zu packen und anschließend Lebensmittel einzukaufen, um die Till uns in einer weiteren Nachricht gebeten hatte. Nachts konnte ich wieder kaum schlafen – dieses Mal nicht wegen Bauchschmerzen, sondern wegen Bauchflattern, das sich anfühlte, als würden kleine Fische um meinen Nabel kreisen und ihn ständig anstupsen. Außerdem war das Rauschen in meinen Ohren laut wie nie zuvor, aber nicht auf unangenehme Weise. Ich fühlte mich davon sanft geschaukelt, und gleichzeitig ließ es mein Herz höherschlagen, eine merkwürdige Mischung aus Nervosität, Vorfreude und Schwindel.

Vielleicht schaffte ich es deshalb heute kaum, einen geraden Schritt vor den anderen zu setzen, aber ich war dabei definitiv besser gelaunt als Sandra, der die Hitze trotz ihrer kurzen Haare mehr zu schaffen machte als mir und die mich sorgenvoller anschaute, als ich es von Till je erlebt hatte.

»Ich bin okay, ehrlich«, beteuerte ich und streckte wie zum Beweis meine unbedeckten Arme aus. Seitdem wir angekommen waren, war der übliche Juckreiz nach einem ersten, plötzlichen Aufflammen stündlich weniger geworden, und meine Haut wirkte beinahe glatt. Dafür spielten meine Haare verrückt und probierten ständig neue Locken und Wellen aus. Um mein Gesicht herum kringelten sie sich sogar und bildeten fingerdicke Spiralen, ganz egal, wie oft ich sie kämmte. Deshalb hatte ich es aufgegeben, sie zu bändigen. Sollten sie doch machen, was sie wollten. Sonnenbrand hatte ich bisher auch keinen bekommen, und ja, meine Knie waren wie Pudding, und zu rennen, hätte mich vermutlich umgebracht. Trotzdem drängte alles in mir in das grüne Palmen- und Kakteendickicht hinein, weg von diesem öden, staubigen Parkplatz am Rande der Straße, die sich schnurgerade durch den Regenwald zog – und der Cenote entgegen. Klein, aber wunderschön, hatte Till geschrieben … ich konnte es nicht erwarten, zu erfahren, was genau er damit gemeint hatte. Hoffentlich war sie nicht zu klein.

»Es gibt um Talum herum eine Menge Maya-Ruinen, teilweise direkt am Strand, und Cenotes zum Schwimmen, außerdem ist in der Nähe ein Wasserpark mit Delfinen, wir könnten jeden Tag etwas anderes unternehmen, es würde dir nicht langweilig werden.« Sandra zwang sich zu einem Lächeln. »Das hier, das ist …« Mit einem Stöhnen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. »Ehrlich gesagt viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe.«

»Wir sind doch noch gar nicht da«, erwiderte ich belustigt und sah einem dicken, blau schillernden Brummer nach, der zwischen uns hindurchgeflogen und dabei haarscharf an Sandras Kopf vorbeigesegelt war. Die Luft um uns herum wimmelte von Insekten und Schmetterlingen.

»Nein, deshalb sage ich dir das ja. Wir können uns noch anders entscheiden. Was du aber nicht willst, oder? Okay, du willst es nicht, ich hab verstanden«, schloss Sandra resigniert und beobachtete skeptisch einen kleinen, graugrünen Leguan, der mit trübem Blick und watschelndem Gang den Parkplatz querte. »Ehrlich gesagt, ich hasse es, zu zelten. Ich hasse alles, was krabbelt und mehr als zwei Beine hat. Ich hasse enge, stinkende Dixie-Klos und vor allem …« Sie zeigte neben den kleinen Trampelpfad, wo sich auf der rechten Seite ein riesiges Spinnennetz zwischen zwei Bäumen spannte, in dem bereits zahlreiche Mücken zappelten. »Hasse ich Horror-Netze wie diese, die nur von haarigen Monsterspinnen gebaut werden können. Leider weiß man nicht, wo die Monsterspinne sich gerade befindet. Vielleicht springt sie mich aus dem Dickicht an, wenn wir daran vorbeilaufen. Und wir müssen daran vorbeilaufen. Shit.« Jetzt musste sie über sich selbst lachen und schüttelte dabei kapitulierend den Kopf. »Bin ja selbst schuld. Ich hätte Till auch einfach zustimmen können. Dann würden wir jetzt in einer gemütlichen Hütte in Österreich sitzen und uns die Bäuche mit leckerem Kaiserschmarrn vollschlagen.«

»Oder du würdest dabei zusehen, wie ein Arzt mir beide Beine eingipst, weil ich mich drei Mal überschlagen habe«, entgegnete ich. »Hier bin ich besser aufgehoben, glaub mir.«

»Komm, lass mich deine Ohren noch mal anschauen, bevor wir uns in die grüne Hölle stürzen.«

»Die sind in Ordnung, kein Problem«, versuchte ich sie auf Abstand zu halten. »Ich würde es schon merken, wenn da was nicht stimmt.«

»Ich möchte mich aber gerne selbst davon überzeugen.« Resolut trat Sandra auf mich zu und umfasste meine Schultern, um erst mein linkes Ohr und dann mein rechtes an der oberen Muschel zu fassen und leicht nach vorne zu ziehen. »Die Pflaster sind trocken und sauber, aber … lieber machen wir frische darauf.«

»Ich finde, ich brauche gar keine Pflaster«, murrte ich, doch Sandra hatte schon damit begonnen, das erste abzuziehen, behutsam wie immer. Es tat kaum weh.

»Und ich finde, du brauchst sie dringender denn je. Keine Ahnung, was hier für Keime durch die Luft schwirren, und … hm«, unterbrach sie sich selbst und stockte, als würde sie ihren Augen nicht trauen. »Sieht alles sauber aus. Aber es sind nun mal offene Wunden.«

»Sind es nicht«, flüsterte ich, hinderte sie jedoch nicht daran, die Pflaster von heute früh durch neue, wasserdichte zu ersetzen. Ich hatte diese merkwürdigen Kerben hinter meinen Ohren schon von meiner Geburt an, und sie hatten mich nie behindert oder gestört. Kein einziges Mal hatten sie sich ernsthaft entzündet. Manchmal bluteten sie plötzlich, seit unserer Ankunft auf Yucatan sogar jeden Tag, ohne dass sich anschließend ein Schorf bildete. Aber sie taten nicht weh, wenn sie bluteten, sondern kitzelten nur ein bisschen, als würden sie ganz leicht zittern. Kein Arzt hatte uns je erklären können, wodurch sie entstanden waren, aber alle vermuteten, dass sie im Mutterleib schon da gewesen waren, womöglich ein erblicher Defekt. So ähnlich wie eine Hasenscharte oder ein Wolfsrachen. Meine dichten Locken verdeckten sie die meiste Zeit, und ich sah sie ohnehin nur, wenn ich mich mithilfe eines Handspiegels im normalen Spiegel von hinten betrachtete.

»Gut, das haben wir.« Sandra verstaute die alten Pflaster in ihrem Kosmetikbeutel und stopfte ihn zurück in ihren Rucksack. »Sobald sie anfangen, heiß zu werden, zu pochen oder zu brennen, sagst du Bescheid, ja?«

»Klar.« Und wenn ihr schlaft, löse ich die Pflaster. Wie jeden Abend und wann immer ich einige Stunden für mich bin. Errötend sah ich zu Boden, als ich Sandras wissenden Blick bemerkte, und wollte mich gerade entschuldigen, als sie mich sanft am Unterarm berührte und den Kopf schüttelte.

»Sorry. Ich mach mich nicht gut als besorgte Mutter, aber ich will es wenigstens ab und zu versuchen. Vor allem hier in der Wildnis.«

»Bist ja auch nicht meine Mutter«, erwiderte ich leise. »Genau das mag ich an dir.« Sandra hatte sich schon immer eher wie eine gute alte Freundin angefühlt als wie eine Mutter – und ich wollte das nicht missen. Wir konnten über fast alles miteinander reden. Ich war gerne mit ihr zusammen und sie mit mir. Manchmal sagte sie sogar ihren monatlichen »Mädelsabend« ab, um mit mir einen Film zu schauen, ungenießbare Kekse zu backen oder Musik zu hören. Allerdings hatte sie ab und zu ein schlechtes Gewissen, weil sie dachte, es wäre besser für mich, Freundinnen in meinem Alter zu haben und eine reifere »Adoptiv-Tante«. Aber ich war zufrieden so, wie es war, und hatte es sowieso noch nie geschafft, mehr als ein paar Stunden in die Zukunft zu denken. Ich würde es schon merken, wenn ich mich nach jemandem in meinem Alter sehnte. Da war ich sicher.

»Und du …« Noch einmal schüttelte Sandra den Kopf und brach ab. »Egal. Dann ziehen wir es also durch?«

Wie zur Bestätigung schlug Till den Kofferraumdeckel zu, hievte sich den schweren Rucksack auf den Rücken und trat zu uns.

»Ja«, bestätigte ich mit fester Stimme und war froh, meine Sonnenbrille zu tragen, denn in meinen Augen sammelte sich schon wieder das Wasser; dieses Mal vor lauter Aufregung und Anspannung.

»Na, ihr beiden? Bereit?« Feixend schob Till seine Kappe ein Stück in den Nacken, um uns freundschaftlich anzublinzeln. Als er Sandras besorgte Miene sah, verblasste sein Grinsen jedoch. »Was ist los mit dir, geht es dir nicht gut?«

»Doch, schon, aber …« Sandra erschauerte, obwohl gerade ein warmer, feuchter Wind durch das Unterholz strich. »Ich hab ein komisches Gefühl im Bauch. Wie eine Vorahnung. Als würde es unser gesamtes Leben verändern, wenn wir da jetzt reingehen. In einer Art und Weise, auf die wir keinen Einfluss haben …«

Till atmete langsam aus und wieder ein, als wolle er sichergehen, nichts Unbedachtes zu sagen, während eine feine Gänsehaut über meinen Rücken wanderte und mich ebenfalls frösteln ließ. Aber nicht vor Angst, sondern aus Vorfreude, ohne dass ich mir das schlüssig erklären konnte. Denn Sandra schien sich zu fürchten. Und das passierte ihr fast nie (außer bei großen Spinnen). Allein deshalb waren ihre Worte ungewöhnlich.

»Na ja, du begleitest mich zum ersten Mal auf eine Expedition und siehst zu, wie ich dort tauche und …« Nun lächelte Till wieder und stupste Sandra liebevoll in die Seite. »Zuzusehen ist anders, als sich etwas nur vorzustellen oder – zu verdrängen?«

»Verdrängen war echt klasse«, entgegnete Sandra trocken und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Darin bin ich Spezialistin.«

Ich wusste, worauf die beiden anspielten. Vor einigen Jahren hatte Till einen Tauchunfall gehabt und war unter Wasser bewusstlos geworden. Ein Kalksteinbrocken hatte sich aus der Höhlendecke gelöst, weil ein anderer Taucher mit seinen Sauerstoffflaschen dagegen gestoßen war, und ihn am Hinterkopf und am Rücken getroffen. Seine Kollegen konnten ihn heil nach oben bringen, aber wegen seiner Schädelverletzung lag er zwei Tage im Koma. Währenddessen hatten wir nicht gewusst, ob er noch der Alte sein würde, wenn er erwachte. Da seine Schulter ebenfalls verletzt worden war und er keine Ausrüstung mehr tragen durfte, hatte er anschließend fast zwei Jahre lang nicht mehr in Höhlen tauchen können – »zwei wunderbar entspannte, ruhige Jahre«, wie Sandra immer zu sagen pflegte. Mir war stets klar gewesen, dass sie ihm zu ruhig gewesen waren. Denn ich kannte seine Geschichten aus den Cenotes. Er konnte gar nicht anders, als wieder in ihnen zu tauchen. Sie waren quasi sein zweites Zuhause.

»Sieh es doch mal so – jetzt kannst du vor Ort erleben, was ich mache und wie viele Sicherheitsvorkehrungen wir beachten, und vielleicht wird es dadurch leichter für dich«, versuchte Till, Sandra ihre letzten Zweifel zu nehmen. »Aber wir müssen uns jetzt entscheiden, die anderen warten schon auf mich, und wir müssen den Tauchgang für morgen noch vorbereiten.«

»Das ist es ja gerade. Ich muss mich gar nicht entscheiden.« Sandra sah ihn verzweifelt an und seufzte. »Ich weiß, dass wir zusammen zur Cenote müssen. Geht gar nicht anders. Das wusste ich schon, als Vicky darum bat, mitkommen zu dürfen. Ich kann dir nur nicht sagen, warum. Denn eigentlich fahre ich ziemlich gerne Ski.«

»Aber ich nicht«, erwiderte ich bestimmt und schaffte es kaum noch, still zu stehen. »Und ich will jetzt endlich zum Camp laufen!«

»Ist ja gut.« Sandra trat einen Schritt zurück und wies mit einer übertriebenen Geste auf den Trampelpfad. »Geh du voran, Till, und töte alles, was uns gefährlich werden könnte, vor allem Spinnen und Schlangen.«

»Und Skorpione«, ergänzte Till lachend, gab mir einen sachten Klaps auf den Rücken und setzte sich an die Spitze unseres kleinen Trupps. »Keine Sorge, ich halte euch den Weg frei, Ladies.« Wie zur Bestätigung las er einen langen Ast vom Boden auf und schlug damit alle paar Schritte rechts und links ins Dickicht, während Sandra und ich ihm im Abstand von ein, zwei Metern folgten. Er zerriss damit sogar das Netz der »Horrorspinne« und stellte sich anschließend schützend vor die beiden Bäume, um Sandra und mich vorbeigehen zu lassen.

Dass Yucatan keinerlei Hügel oder gar Berge hatte, hatte ich schon vom Flugzeug aus beobachten können, und so fiel uns das Laufen trotz des weichen Bodens und der vielen quer wachsenden Wurzeln nicht schwer. Auch die Schwüle blieb einigermaßen erträglich. Ab und zu raschelte es links und rechts von uns im Gebüsch, und zwischen den Bäumen glitzerten so manche Spinnweben. Doch noch immer verspürte ich keine Angst, sondern lediglich Ungeduld und brennende Sehnsucht, die mich so kraftvoll nach vorne trieb, dass mich selbst die sengende Hitze und die Moskitos nicht störten. Außerdem schaffte es die Sonne an manchen Stellen kaum durch das Dach des Waldes, sodass meine Augen sich endlich entspannen konnten. Und meine verdunstenden Tränen sorgten für angenehme Kühle auf meinen Wangen. Ich mochte die Sonne eigentlich nur, wenn sie durch die Lamellen meines Rollladens fiel und Streifen auf den Fußboden zauberte. Dieses Bild liebte ich. Aber ihr direktes Licht war mir schon immer zu grell gewesen, weshalb ich im Freien pechschwarze Sonnenbrillen tragen musste, sobald der Sommer ins Land zog. Tat ich das nicht, wurden meine Augen rot und trocken, und es fiel mir schwer, mich zu orientieren. Jetzt aber begann die Brille auf meinem schweißnassen Nasenrücken zu rutschen, sodass ich sie nach einigen Minuten abnahm und in meinen Rucksack schob – und tatsächlich, ich konnte die Sonnensprenkel auf dem trockenen Waldboden gut ertragen, ohne dass mir schwindelig wurde. Erst als der Pfad plötzlich in eine kreisrunde, sonnenbeschienene Lichtung mündete, die merkwürdig künstlich aussah, setzte ich sie wieder auf.

»Hubschrauberlandeplatz«, vermeldete Till knapp. »Wir haben es gleich geschafft.«

»Hubschrauberlandeplatz?« Sandra japste beim Sprechen vor Anstrengung. Sie hatte heute früh darauf bestanden, alles Schwere in ihren Rucksack zu packen und mir den leichten zu überlassen.

»Na ja, irgendwie mussten die Dixie-Klos ja in den Dschungel kommen, oder?« Till drehte sich im Laufen zu uns herum, sein Gesicht ein einziges Strahlen. »Ich sag ja, das hier ist eine Luxus-Expedition, ihr habt echt Glück gehabt. Noch ein paar Meter, dann sind wir am Banjo – unserem Dschungel-Badezimmer.«

Mich interessierte das Banjo nicht; ich musste weder aufs Klo, noch wollte ich duschen, doch ich blieb artig stehen, als Till nach der nächsten Biegung haltmachte und uns in eine roh gezimmerte, aber geräumige Hütte führte, in der drei blaue Klokabinen untergebracht waren. Eine mannshohe Holzwand trennte sie von der improvisierten Regenwasser-Dusche. Bunte Handtücher hingen an Nägeln, die in die Bretter der Hütte geschlagen worden waren, und auf einer metallenen Box standen mehrere Becher mit Zahnbürsten, Rasierzeug und Waschutensilien. Auf einer der Shampooflaschen hatte sich ein riesiger, gelb-schwarzer Schmetterling niedergelassen und bewegte in Zeitlupe seine Flügel. Und ich war sicher, etwas mit unzähligen Beinen zwischen die Ritzen der Bohlen huschen gesehen zu haben, als wir durch den offenen Eingang getreten waren.

»Eine Dusche, das ist gut«, murmelte Sandra. »Die werde ich gleich mal benutzen. Ich könnte schwören, dass ich stinke.«

»Das tun wir hier alle früher oder später.« Till lachte entspannt. »Gehört dazu. Und ihr könnt ja bald wieder ins Hotel. Aber jetzt stelle ich euch erst mal dem Team vor.«

O nein, das Team. Auch das noch. Ich wollte endlich die Cenote sehen! Es fiel mir immer schwerer, mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen, und dauernd glaubte ich, das leise Glucksen von Wasser zu hören. Doch ich hatte Till vor unserer Abreise mehrfach versichern müssen, dass ich keine Alleingänge unternehmen würde, sobald wir im Camp waren. Zur Cenote durfe ich nur in seiner Begleitung gehen, das war die Bedingung gewesen, und daran musste ich mich halten, wenn ich länger als ein paar Stunden hierbleiben wollte.

Im Gänsemarsch stapften wir an einer kleinen Reihe geräumiger Zelte vorbei zu einer weiteren Hütte, die zur einen Seite offen war und deren Dach aus einer dicken, straff gespannten Plane bestand. In ihrem Schatten saßen vier Männer an einem langen Tisch, auf dem mehrere Laptops und etliche Kaffeebecher standen, und hoben neugierig ihre Köpfe, sobald sie uns erblickten. Ein Mann fiel mir sofort auf – vielleicht, weil er mich als Erster so anschaute, als würde er etwas sehen, das ihm noch nie zuvor begegnet war. Ich kannte diese Art von Blick, er war mir schon oft begegnet, und meistens hatte das zu nichts Gutem geführt. Ich sah ungewöhnlich aus mit meinen hüftlangen Haaren, die sich nicht zwischen Wellen und Ringellocken entscheiden konnten, meinen hellen, leicht hervortretenden Augen und diesem seltsamen Mund, der den Eindruck machte, als habe ein Schönheitschirurg seinen Beruf nicht ordentlich gelernt. Dazu besaß ich eine flache Nase und ein ziemlich kurzes Kinn – ich wusste nie so recht, ob ich wirkte wie aus einem skurrilen Horrorfilm entstiegen oder lieber Sandra glauben sollte, die sagte, ich sei einfach eine kreative Laune der Natur, und damit könnten die meisten Menschen nun mal nicht umgehen. Mit einer solchen Haarpracht erst recht nicht. Wenn die Mädchen in meiner Klasse über mich lästerten, würden sie das aus Neid tun, nicht aus Abscheu. Ich war mir darin nicht so sicher wie Sandra.

Angestarrt wurde ich jedenfalls regelmäßig, das war nichts Neues für mich. Aber noch nie hatte jemand dabei so erstaunt und zugleich beglückt gelächelt, wie jener Mann es tat, der als Erster auf mich aufmerksam geworden war. Er musste ein Einheimischer sein. Seine Augen waren so dunkel wie seine dichten, glatten Haare, und seiner Haut schien die heiße Sonne Mexikos nichts anhaben zu können. Doch jetzt folgten auch die anderen Männer seinem Beispiel – und mich schauten nicht nur einer, sondern gleich vier Fremde an, mit einer Mischung aus Neugierde, Verwunderung und Skepsis. Meine Tränendrüsen reagierten zuverlässig wie immer; vor Aufregung lief das Salzwasser nun wieder in Strömen über meine Wangen. Mit einem verzweifelten Lächeln hob ich meine Hand und winkte lässig, um allen zu zeigen, dass es mir gut ging, denn plötzlich mischte sich auch Besorgnis in ihre Mienen.

»Das ist meine Freundin Sandra«, übernahm Till souverän die Führung, und Sandra schob sich schützend vor mich, damit ich mir rasch mit dem Handrücken übers Gesicht wischen konnte. Erfahrungsgemäß nützte das nicht viel, aber für ein paar Sekunden würde es reichen. »Und das hier …« Sandra trat wieder zur Seite, sodass Till seinen Arm um meine Schultern legen konnte. »Das ist meine wunderschöne Nichte Victoria. Benannt übrigens nach dem allerersten Segelschiff, das die Welt umrundet hat! Ich hab ihr schon von den Cenotes erzählt, als sie noch ein kleines Kind war. Und sie schwimmt schneller als ihr Schatten!« Während Till seine Worte ins Englische und dann ins Spanische übersetzte, schüttelte ich die Hände der Männer, begrüßte sie mit einem verlegenen »Hello« und versuchte weiterhin tapfer zu lächeln. Wie so oft, wenn ich weinte, war ich nicht traurig, aber ich spürte allzu deutlich, dass ich selbst für solch hartgesottene Kerle eine befremdliche Erscheinung war. Nur der Mann mit den dunklen Augen und Haaren reagierte anders. Sein Händedruck war ruhig und vertraut, und als ich mein vorerst letztes »Hello, nice to meet you« stotterte, erwiderte er etwas auf Spanisch, das sich anhörte wie ein bewunderndes Kompliment.

»Das ist Carlos, unser Biologe«, stellte Till ihn Sandra und mir vor und legte freundschaftlich die Hand auf seinen Oberarm. »Er kennt Yucatan und die Cenotes wie kein anderer. Sein Vater ist einigen Maya-Geheimnissen auf die Schliche gekommen, und Carlos hat ihn schon als Kind bei seinen Wanderungen durch den Regenwald begleitet. Ohne ihn wären wir hier aufgeschmissen.«

Carlos lachte fröhlich und hob beschwichtigend die Hände, als seien Tills Worte zu viel des Lobes; offensichtlich verstand er ein bisschen Deutsch.

»Und das sind Jack und Michel, meine Tauchkollegen aus den USA und Frankreich.« Till wies auf zwei sonnengebräunte Typen, einer kurzhaarig wie Till, der andere mit einem schulterlangen, blonden Zopf und Bart, die sich redlich bemühten, ihr anfängliches Starren durch freundliches Lächeln auszugleichen, und mir dabei fast schon leidtaten. »Last, but not least: Antonio.« Knapp nickte Antonio mir zu, und ich erinnerte mich sofort wieder an das seltsam kalte Gefühl, das mich ergriffen hatte, als er meine Hand genommen hatte. Er trug einen Cowboyhut mit breiter Krempe, und in seinem linken Mundwinkel hing ein qualmender Zigarillo. »Er leitet das Camp, kocht für uns und sorgt dafür, dass wir keinen Unsinn machen. Außerdem kriegen wir ab und zu Besuch von einheimischen Biologie- und Geologie-Studenten, die uns dabei helfen, die gesammelten Daten auszuwerten und Karten zu erstellen.«

Ein leicht angespanntes Schweigen dehnte sich aus – vermutlich, weil meine Tränen sich wieder selbstständig gemacht hatten und nicht aufhören wollten, über mein Gesicht zu fließen. Meine Schultern waren schon ganz nass. Selbst Sandra hatte es die Sprache verschlagen. Nur Till ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Ihre Augen reagieren nur auf die Hitze, eine Allergie, aber es geht ihr gut«, erklärte er knapp und legte mir beschützend die Hand um den Hinterkopf. »Vicky ist übrigens eine hervorragende Schwimmerin. In den Brandungswellen würde sie euch alle alt aussehen lassen, glaubt mir.«

»Ist schon gut«, flüsterte ich. Jetzt wurde die Situation auch mir langsam peinlich.

»Okay, dann zeig ich den Mädels mal die Cenote«, beendete Till seine Ansprache und gab mir einen leichten Stups, um mir zu bedeuten, dass ich mich wieder bewegen durfte.

»Mädels …«, echote Sandra strafend und stieß Till den Ellenbogen in die Seite, nachdem wir die Hütte hinter uns gelassen hatten und die Männer außer Hörweite waren. »Ich glaub, du spinnst.«

»Sorry, mir fiel nichts anderes ein. War eine komische Situation. Die haben seit Wochen keine Frauen mehr gesehen.«

»Und schon gar nicht so etwas wie mich …«, mischte ich mich entschuldigend ein und schluckte ein paar Tränen herunter. »War wohl zu viel auf einmal.«

»So etwas wie dich!?« Tills Entrüstung klang echt. »Mach dich nicht immer runter, Vicky. Ich hab das ernst gemeint, als ich gesagt hab, dass du wunderschön bist.«

»Vielleicht bei Alice im Wunderland.«

»Nein, auch in unserer Welt. Carlos ist da übrigens ganz meiner Meinung. Denn im Gegensatz zu dir verstehe ich Spanisch. – So, und jetzt …« Till blieb stehen und drehte sich langsam zu uns um, »… sind wir an der Cenote.« Vergeblich versuchte ich, über seine Schulter zu spähen, um einen Blick auf sie zu erhaschen. War sie wirklich so klein, dass er sie mit seinem Oberkörper komplett vor mir verbergen konnte? »Du kannst sie hier noch gar nicht sehen, Vicky. Sie liegt ungefähr zwanzig Meter weiter unten. Man kommt nur über einen einzigen steilen Pfad zum Ufer, den wir, so gut es geht, mit Seilen abgesichert haben, und heute Abend bringen wir unten an der Plattform noch eine kleine Leiter an. Denn das Gefährliche ist nicht, in der Cenote zu baden. Das Gefährliche ist, dass man aus den meisten Cenotes ohne Leiter nicht mehr herauskommt und dann jämmerlich in ihnen ertrinken muss. Denn die Wände sind zu steil, um an ihnen hochzuklettern. Also, ohne mich geht ihr da nicht runter. Habt ihr das verstanden?«

Ich wusste, dass diese Worte vor allem mir galten, doch Sandra nickte ebenfalls.

»Dann komm, Vicky, du darfst zuerst gucken. Na, komm schon …«

Till streckte mir seine Hand entgegen, und obwohl ich die ganze Zeit vor Ungeduld fast geplatzt wäre, kam es mir plötzlich vor, als würden alle Uhren der Welt gleichzeitig stehen bleiben und Sekunden sich in zähe Stunden verwandeln. Aus dem Jetzt war Ewigkeit geworden. Das Rauschen in meinen Ohren wurde so laut, dass ich Till und Sandra nicht mehr hören konnte. Selbst die Rufe der unzähligen Vögel und das Zirpen der Grillen schienen für immer zu verstummen. Stattdessen vernahm ich etwas anderes in dem beständigen Auf und Ab meines pulsierenden Blutes, wie eine Art Rufen und Singen … es kam von unten, aus der Cenote …

Jetzt begegneten sich unsere Hände. Tills Finger fühlten sich so warm und trocken an, dass ich erschrak; seine Berührung tat mir fast weh. Trotzdem ließ ich mich von ihm unter ein paar letzten Ästen und Palmwedeln hindurch zum Rand des Kraters führen, wo ich beim Anblick der kreisrunden Cenote wie zum andächtigen Gebet auf die Knie sank und meine Haare sich weich auf meine nackten Oberschenkel legten, während meine Tränen hinab in das vertraute, magische Türkisblau tropften, als würden sie es begrüßen.

Es war wie ein Versprechen, das vor langer, langer Zeit besiegelt worden war. Ein Zurück gab es nicht.

Ich musste bleiben.

Hier.

Für immer.

Aqua Mystica

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