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Vittorio Cancello, Mitte Dreißig, lässig elegant gekleidet, ging durch einen schäbigen Korridor. Sein Gesicht war ernst und seine braunen Augen, auf deren Grund ein melancholischer Ausdruck lag, blickten sich suchend um. Er war gerade aus Mailand mit dem Zug nach Venedig gereist und vor einer knappen Stunde am Bahnhof Santa Lucia angekommen. Ein Boot hatte ihn abgeholt und hierher gebracht. Er hatte nicht viel von Venedig sehen können, wegen der Dunkelheit und dem Nebel. Auch hatte er seit seiner Ankunft noch keine Gelegenheit gehabt, eine Zigarette zu rauchen, das machte ihn ein wenig nervös. Er ging mit raschen Schritten, seinen Blick auf die Nummern an den Türen gerichtet und klopfte dann an die schwere Tür eines Büros.

„Avanti, Avanti“, schallte es von innen. Vittorio sammelte sich einen Moment lang um sich innerlich vorzubereiten und trat erst dann ein.

„Ich bin froh, wirklich froh, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte der ältere Herr freundlich und erhob sich dabei von seinem tiefen Ledersessel. Er stand nun hinter seinem Schreibtisch, ging um ihn herum und schüttelte Vittorio herzlich die Hand. Er neigte den Kopf und dabei fiel ihm eine graue Strähne in die Stirn. Er war sichtlich erfreut. Vittorio grüßte zurück, beugte sich vor und schüttelte ihm ebenfalls die Hand.

„Ich habe bereits den Bericht gelesen und ich hoffe, ich kann Ihnen irgendwie behilflich sein, Signore“, sagte Vittorio höflich. Er ist alt geworden, dachte Vittorio, als er das mit tiefen Falten überzogene Gesicht des Signore betrachtete.

„Ich bin sicher, Sie können...“, erwiderte der Signore. „Ich weiß doch, sie kennen Venedig wie Ihre Westentasche. Sie sind hier geboren und aufgewachsen, Sie wissen um die Mentalität der Menschen hier.“ Der Signore bot Vittorio mit einer weit ausholenden Handbewegung einen Platz an und ließ sich dann schwerfällig wieder in den Sessel sinken. Er sieht müde aus, dachte Vittorio, der sich gleichzeitig auf dem ihm angebotenen Stuhl setzte.

„Möchten Sie eine Zigarette?“ fragte der Signore.

„Ja, sehr gerne“, antwortete Vittorio. Der Signore hielt ihm ein silbernes Zigarettenetui hin und Vittorio griff erfreut hinein.

Der Signore steckte sich eine Zigarre an und lehnte sich zurück. „Ich rede ganz offen zu Ihnen. Wir haben hier große Probleme. Ich fürchte, wir sind nicht mehr Herr der Lage.“

„Aber ich arbeite doch eigentlich für die Mordkommission, Signore“, warf Vittorio ein.

„Ich weiß, ich weiß...Commissario“. Der Signore atmete schwer.

„Und Sie wissen auch, dass ich mir eine längere Auszeit genommen habe?“

„Ja, natürlich. Ich weiß, dass Sie ein Jahr unbezahlten Urlaub genommen haben. Ich habe alles, was Ihren Aufenthalt hier betrifft, mit Ihren Vorgesetzten in Mailand besprochen. Es ist alles geregelt. Ich weiß um ihre Auszeit. Es sind ein paar Monate vergangen, vielleicht könnten Sie sich ja vorstellen, wieder nach Venedig zurückzukehren, um hier zu arbeiten?“

„Was kann ich für Sie tun? Ich kann erst ermitteln, wenn ein Mord geschehen ist. Bislang ist aber nichts vorgefallen, nicht wahr?“ gab Vittorio sachlich zurück.

„Aber vielleicht können Sie das Schlimmste verhindern. Ich setze all meine Hoffnungen in Sie. Vielleicht können Sie dafür sorgen, dass es erst gar nicht bis zum Äußersten kommt. Jetzt beginnen die Filmfestspiele, Venedig ist voller Menschen. Die Stadt ist absolut unüberschaubar, ein idealer Nährboden für Verbrechen.“ Der Signore blickte Vittorio mit gütigen Augen an.

„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Signore?“ Vittorio nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er blies den Rauch in die stickige Büro Luft.

„Ich möchte, dass Sie die Augen aufhalten. Gehen Sie auf die Empfänge der Filmfestspiele. Gehen Sie auch in die Gassen der Stadt, sprechen Sie mit den Venezianern, hören Sie sich um. Die Venezianer sind mehr als verschlossen uns gegenüber.“ Der Signore räusperte sich. „Wenn etwas während der Festspiele passiert, wäre das ein Skandal, der nicht wieder gut zu machen ist.“ Der Signore hielt inne. „Ein internationaler Skandal.“

„Sie befürchten also, es könnte in nächster Zeit ein Mord geschehen. Habe ich Sie da richtig verstanden?“ fragte Vittorio. Er blickte dem Signore dabei ruhig in die Augen. „Haben Sie einen Verdacht, wen es treffen könnte?“

„Es gibt Gerüchte.“ Der Signore sah betrübt aus.

„Gibt es irgendwelche Hinweise?“

„Nein“, sagte der Signore und lächelte jetzt milde. Vittorio hielt es für besser abzuwarten, bis der Signore weiterredete.

„Sie halten mich vielleicht für verrückt, aber ich habe keinen einzigen Beweis, keinerlei Verdachtsmomente. Ich habe nur das dumpfe Gefühl, dass sich in Venedig etwas zusammenbraut, ein riesiger Orkan, der uns alle hinwegfegen wird, wenn wir nicht dagegen ankämpfen.“ Vittorio beobachtete den Signore, seine sorgenvolle Miene, die tiefen Falten um seine Mundwinkel, sein graues Haar, doch er wurde nicht recht schlau, aus dem, was dieser ihm da anvertraute.

„Ich brauche hier einen Mann mit einem guten Instinkt", fügte der Signore hinzu. „Jemand, der auf die Jagd geht und der sich nicht an die vorgeschriebene Logik hält, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Vittorio verstand ganz und gar nicht. Aber er nickte dem Signore trotzdem aufmunternd zu.

„Instinkt, ja, das ist es, was ich meine...,“ wiederholte der Signore eindringlich und Rauchwolken lösten sich von seiner Zigarre.

„Es geht demnach um mehr, als um Kunstdiebstähle und Manipulationen an öffentlichen Computern?“ versuchte Vittorio erneut, den Signore aus der Reserve zu locken.

„Es geht um viel mehr“, erwiderte der Signore und sah jetzt hinter seinem riesigen Schreibtisch in seinem Sessel unscheinbar und winzig aus.

„Es gibt aber nichts Konkretes, keine Anhaltspunkte, Kunstwerke verschwinden, Daten werden gelöscht, scheinbar wahllos aus Computern von öffentlichen Stellen wie der Stadtverwaltung, von Museen und auch von der Polizei. Es muss eine undichte Stelle in der Questura geben. Deshalb sollen Sie für mich arbeiten. Denn ich weiß nicht, wem von meinen Leuten ich noch richtig vertrauen kann. Es tut mir leid, das zu sagen, aber es ist leider die Wahrheit. Zudem sind wichtige Informanden in Venedig und Mestre mittlerweile untergetaucht. Aber alles als großes Ganzes betrachtet, Commissario, ergibt es keinen Sinn.“

Vittorio schwieg. Der Signore seufzte, öffnete dann eine Schublade seines Schreibtisches und zog einen Briefumschlag hervor. „Hier sind Ihre Informationen.“

Vittorio nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn und las den Inhalt des Briefes sorgfältig durch. Dann holte er sein Feuerzeug aus der Tasche seines Jacketts, entzündete es und hielt es an das Papier, das sofort samt Umschlag in einer kleinen Flamme aufging. Der Signore sah dem Verbrennen des Papiers zu, lächelte wieder und nickte wohlwollend.

„Sehr gut. Ich glaube, wir verstehen uns.“ Vittorio drückte seine Zigarette aus. „Gehen Sie jetzt. Vielleicht wissen wir morgen früh mehr“, sagte er freundlich und beendete das Gespräch.

Vittorio stand auf und verließ den Raum, in dem es jetzt rauchig und verbrannt roch. Der Signore blieb in seinem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch sitzen, er wirkte ernst und bedrückt. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und zog an seiner Zigarre. Langsam blies er den Rauch in die trübe Büro Luft und murmelte leise vor sich hin, wie in einen Traum versunken. „Ja, es geht um mehr, so wahr mir Gott helfe, es geht um sehr viel mehr.“

Vittorio verließ das Büro des Signore und ging durch den dunklen Flur und klopfte an eine Bürotür der Questura. Dort erwartete ihn schon eine eindrucksvoll geschminkte junge Frau, die ihre langen schwarzen Haare zu einem kunstvollen Knoten gebunden hatte.

„Guten Abend, Commissario, ich bin Signorina Polli.“ Sie reichte Vittorio ihre schmale Hand mit rot lackierten Fingernägeln. Ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie nur dem Signore zuliebe noch so spät in der Questura weilte.

„Ich bin die Sekretärin und der Signore hat mich gebeten, Ihnen die Schlüssel Ihrer Wohnung zu übergeben.“ Sie schaute Vittorio mit ihren langen Wimpern an.

„Grazie, Signorina Polli“, erwiderte Vittorio höflich.

„Hier auf dem Zettel steht die Adresse. Es ist die Wohnung eines Cousins von mir, er studiert im Ausland, sie steht zu Ihrer Verfügung. Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Boot rufe, das sie hinbringt?“

„Nein, danke Signorina, ich gehe zu Fuß“, sagte Vittorio freundlich. Er wünschte Signorina Polli einen schönen Abend, verließ die Questura und schritt in Richtung Castello, wo seine Unterkunft lag.

Der Nebel wurde immer dichter, so dass Vittorio kaum die abgeblätterten Fassaden der Häuser erkennen konnte. Auch das Licht der Laternen wurde vom Nebel verschluckt. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers fand er den kleinen Kanal, an dem seine Wohnung im oberen Stockwerk lag. In Vittorios Erinnerung sah er den dunstig blauen Himmel und die gläserne Sonne, die auf die silbrige Lagune schien. Dieses Licht der Lagune war einzigartig. Niemals wieder hatte er ein solches Licht wiedergefunden, nicht in Mailand, nicht in Rom und nicht in Neapel. Magie, das war es, Venedig war eine magische Stadt, sie war einzigartig. Eine Stadt aus Wasser und Licht. Vittorio dachte über die warnenden Worte des Signore nach. Er war ein ausgezeichneter Polizeichef, aber trotzdem hoffe Vittorio, dass sich sein Aufenthalt in Venedig als unbegründet erwies. Er würde dem Signore trotz seiner Auszeit helfen. Es war ihm eine Ehre, das zu tun. Vittorio ging über eine winzige Brücke, dem Zugang zu seinem Haus. Er hatte beschlossen, dem Signore beizustehen. Auch Vittorio hatte schon darüber nachgedacht, nach Venedig zurück zu kehren, aber diesen Gedanken immer wieder schnell verworfen. Er schloss die Tür seiner Wohnung auf und wünschte sich und Venedig eine friedliche Nacht.

Interview mit einer Diva

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