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3. Bruch des Bandes

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„Meine großen Kinder, aufwachen! - Das war also die Ankunft unseres schrecklich grau gestrichenen Walfängers Konstanze in Hamburg. Es war damals ein großer Schock für uns, als wir von Jacobs Dilemma hörten. Ich lief zunächst voller Freude auf das Schiff zu und dann diese furchtbaren Nachrichten!“ Die Wechselgefühle waren schnell wieder präsent, als ich in die alte Geschichte hineinschlupfte. Ich schluckte sie mit dem restlichen Tee herunter, der inzwischen kalt und bitter geworden war.

„Könnt ihr überhaupt noch zuhören?“, fragte ich erneut.

„Na klar, Vater! So langweilig erzählst du gar nicht - heute! - Uns beide gab es da noch gar nicht und der Mief, von dem du zuletzt sprachst, der liegt nunmehr zwei Jahrzehnte über der Stadt. Scheinbar ist immer noch nichts passiert. Liegt das Rathaus im Windschatten des Gestanks?“, fragte Cornelius entsetzt.

„Du hörst tatsächlich zu, gut! Allerdings rechtfertigt dies nicht, gegenüber deinem Vater frech zu werden, mein Sohn!“

„Entschuldige, es sollte lustig sein. Insgeheim weißt du, wie gerne wir dir zuhören“, gab er an. Ich schaute ihn eine Weile an, er verzog keine Miene. Schließlich fuhr ich fort.

„Nein, vor dem Rathaus riecht es auch nicht besser. Aber ganz so ist es nicht mit dem Duft über der Stadt. Die Fleete, die Abwässer der Stadt aufnehmen, wurden öfters vertieft. Doch die aufgestaute Alster führt unterschiedlich Wasser und somit ist auch der Transport durch die Fleete mal mehr oder weniger wirksam. Heute riecht es deshalb ab und zu. Früher den ganzen Sommer lang. Seit einiger Zeit denkt man, mit Schleusen das Problem zu lösen. Aufgestautes Wasser könnte druckvoll durch die Fleete rauschen, um einen heftigen Spüleffekt zu erzeugen. Die Ratsherren werden bestimmt lange streiten, bis eine Entscheidung getroffen wird. Schließlich können keine Schuten oder Kähne be- und entladen werden, wenn zeitgleich Flutwellen durch die Fleete toben, oder?“

„Ja, ja, die Interessen der Kaufleute. Trotzdem können wir für die Stadt und seine Bewohner hoffen. Am Kehrwieder weht immer eine frische Brise, darum merke ich erst die schlechte Luft, wenn meine Nase die andere Hafenseite erreicht hat. Aber eigentlich wollte ich nochmals zurückkommen auf die Ankunft der Konstanze: Waren Tante Nathalie und Onkel Clemens schon zu diesem Zeitpunkt über Jacobs Verschwinden informiert gewesen?“, meinte Caroline, die als Erste den Faden wiedergefunden hatte.

„Der Umweg über Frankreich wäre für Kapitän Broder zu groß gewesen. Sie hatten versucht, die Nachricht einem Schiff unterwegs auf See nach La Rochelle mitzugeben. Leider blieben die Versuche erfolglos. Es war dementsprechend unsere Aufgabe gewesen. Das nächste Schiff nach Frankreich segelte selbstverständlich mit einer ausführlicheren Nachricht.“

„Hatte der Walfänger die weite Reise und den Beschuss gut überstanden, Vater?“, fragte Cornelius.

„Der Neubau Konstanze war, trotz widriger Umstände, in einem erstaunlich guten Zustand. Allerdings wurden einige kleine Reparaturen im Quebecer Winterquartier vorgenommen, schon allein deswegen, um die lange Liegezeit zu nutzen, in der das Schiff kein Geld verdiente.“

Cornelius vermied es, nochmals zum Gebäck zu greifen und dabei lag es nicht an seinem Appetit. Seine Finger zuckten und seine Schwester lauerte, nachdem sie in einem unbeobachteten Moment die Schale näher zu ihm stupste. Nur zu gerne hätte sie ihn wegen seines Benehmens bloßgestellt, nachdem sie den Moment vorhin verpasst hatte. Er bekam dann immer rote Ohren und fing an zu stottern, wenn sie durchstartete. Für dieses hausgemachte Schauspiel war Caroline um keine List verlegen, und es störte sie nicht im Geringsten, dass ich alles mitbekommen hatte. „Niedlich“, sagte sie in solchen Situationen kichernd, und ging lächelnd zur Tagesordnung über, ohne wirklich böse Absichten gehabt zu haben. Sie liebte ihren Bruder eben auf ihre höchst eigene Weise.

Der folgenschwere Krieg in Europa und Übersee veränderte unser Leben in Hamburg zunächst recht wenig. Die Stadt setzte ihre stete Neutralitätspolitik fort, soweit dies aufgrund der Verpflichtungen möglich war. Friedrich II. lieh sich unentwegt Geld von der Stadt. Ohne das Hamburg vom bedingten Handel und von der Aufrüstung des Königreiches wirklich profitieren konnte. Obwohl Preußen in diesen Zeiten Hamburg auch als Überseehafen nutzte, flossen die Warenströme an den Stadtkassen vorbei.

Die Preußen wickelten ihren Seeverkehr aber weitestgehend über den dafür ausgebauten Ostseehafen Stettin und dem preußischen Hafen in Emden-Ostfriesland an der Nordsee ab. Ostfriesland gehörte seit 1744 zu Preußen. Wurde aber eigenständig durch einen Kanzler dezentral regiert. Getreide verkauften die neutralen Dänen und Mecklenburger an die Preußen, wenn es auch inoffiziell geschah.

So lernte Tante Josephine in jener Zeit preußischer Aktivitäten ihres zukünftigen Gatten kennen. Die Stadt war gespickt mit preußischen Agenten, die einerseits die Unternehmungen in Hamburg beobachteten, anderseits Vorräte aller Art aufkauften, die im Krieg benötigt wurden. Insofern verzeichnete Hamburg einige Gewinne, ohne nennenswerte Bedeutung. Diese Agenten traten als Diplomaten, Edelleute und Gesandte, aber auch als Handwerker und natürlich als Kaufleute auf.

Als eure Tante Josephine von Jacobs Geschichte erfuhr, trauerte sie drei Tage in ihrer Kammer um ihren geliebten Cousin. Ohnehin hatte sie deswegen sehr gelitten. Jacob erwiderte ihre Liebe, wenn auch auf seine Art und Weise. Ihr braucht hier nicht nachfragen. Ich kann dazu nicht mehr sagen. Jacob hatte mich diesbezüglich auf See ins Vertrauen gezogen und deswegen will ich nicht darüber sprechen, auch nach so langer Zeit nicht.

Alsbald verabredete sie sich wieder mit den Freunden, so wie sie es früher in unbeschwerten Zeiten gemacht hatte. Sie war immer eine Frau von höchster Anmut und besonderer Heiterkeit gewesen, die ihre Wirkung auf das männliche Geschlecht nicht verfehlte. Darauf gaben sich ihre Verehrer wieder die Klinke in die Hand, sowie es früher der Fall war. Sie hatte den Anschluss an das Gesellschaftsleben schnell wieder gefunden, bis dieser Mann aus Mecklenburg in ihr Leben trat, von dem nun die Rede sein wird.

Die Liebe schlug wie ein Blitz bei Josephine ein. Er umgarnte sie mit seiner schmierigen Art von morgens bis abends und es war nur eine Frage der Zeit, bis er an Vater herantreten würde, um seine Absichten kundzutun. Hinrich und ich waren uns nach langer Zeit so einig, wie nie zuvor. Wir trafen uns insgeheim in einem entfernten Gasthaus vor den Toren der Stadt und überlegten, wie unsere Schwester vor dem Gauner zu retten war. Auch unsere Frauen sollten erst einmal von unserem Vorhaben ausgeschlossen bleiben, da wir eine kleine Verschwörung der Frauen aus Unwissenheit nicht ausschließen konnten. Wir wussten, dass er für die Preußen im Hamburger Hafen spionierte und zum Teil über seinen Landsitz in Mecklenburg Getreide nach Potsdam aufkaufte. Getreidehändler hatten ihn sogar im Holsteinischen, wie im heimischen Land gesehen, wie er mit Bauern um den Preis feilschte. Später berichteten sie meinem Vater von den Vorfällen, als die Gelegenheit in Hamburg dies ermöglichte. Außerdem war Freiherr Bernhard von Bräsow Anteilseigner einer mysteriösen Fregatte, die unter dänischer Flagge nach Übersee fuhr. Wir hatten noch nie etwas von dem Schiff gehört. Es war jedenfalls nicht an der Elbe beheimatet.

„Wir müssen herausfinden, wie er seine neu hinzugewonnenen Kenntnisse transferiert“, sagte Hinrich in gedämpften Ton, als der Schankwirt irgendwo im dunklen Hohenfelde die Biere an unseren Tisch brachte.

„Und es ist erforderlich zu wissen, welchen Weg das Getreide nach Preußen nimmt“, fügte ich mit gedämpfter Stimme bei unserem konspirativen Treffen an.

„Genau! Wir werden jemanden hinter ihm herschicken müssen, der in solchen Angelegenheiten geübt ist. Sollten wir dem Kerl auf diesem Wege nicht sein schmutziges Handwerk nachweisen können, wäre auch eine Überprüfung seiner Schiffsanteile hinzu zuziehen. Er sagt einfach nicht, um was für ein dubioses Schiff es sich handelt.“

„Ich habe versucht, ihm die Namen seiner Partner und des Kapitäns zu entlocken, doch er ist geschickter als ein windiger Jongleur des Hopfenmarktes. Zusätzlich müssen wir Josephine mit reichlich Arbeit eindecken, damit sie wenig Zeit für ihn hat. Kannst du dich darum kümmern?“, fragte ich Hinrich.

„Ja, das ist eine gute Idee! Da fällt mir schon was ein. Doch zunächst wird sich Bernhard von Bräsow einstweilen verabschieden. Er wird mit seinen Fuhrwerken und wahrscheinlich viel Getreide in seine Heimat aufbrechen und Josephine hat mindestens vier Wochen Zeit zum Nachdenken. Weißt du jemanden, der ihn verfolgen kann?“, meinte Hinrich begeistert und kratzte seinen beeindruckenden braunen Bart, der sein halbes Gesicht verdeckte.

„Ich hatte an Joswig Stein gedacht. Er fährt in drei Tagen für Kock & Konsorten nach Stormarn. Fast die Richtung, die auch Freiherr von Bräsow einschlägt, um sein Getreide zu den preußischen Rebellen zu fahren.

„Nicht schlecht die Idee! Der Stein war es doch, der säumige Händler bis Tönning verfolgte, die Schulden eintrieb, und mit Taschen voller Geld zurückkam. Joswig ist mit allen Wassern gewaschen, und uns bisher immer treu ergeben gewesen. Und er kann die preußischen Schnösel nicht leiden, die in unserer Stadt herumstolzieren und überall ihre gepuderten Nasen reinstecken. Was für den mecklenburgischen Freiherrn Bernhard von Bräsow ebenso gilt, der aus Habgier und sonstigem Eigennutz die deutsche Sache verrät, wie Friedrich selbst.“ Auch in dem Punkt waren Hinrich und ich gleicher Meinung. Deutsche schießen nicht auf Deutsche, nur weil die höher gestellten Persönlichkeiten als Vertreter ihres Germanenstammes sich nicht einigen können!

Nach vier Wochen trafen wir uns aus dem gleichen Anlass im selben Gasthaus wieder. Nur diesmal hatte ich unseren Fuhrmann und Mann für alle Fälle, Joswig Stein mitgebracht. Er war erst letzte Nacht zurückgekommen und Hinrich und ich waren sehr gespannt, was er zu berichten wusste. Joswig, der recht kurz geraten war, konnte man trotzdem ganz leicht von weiten erkennen. Zu seinem grauen Dreispitz passte exakt seine Haarfarbe, die auch die buschigen Brauen einschlossen. Sein Filzhut zierte immer eine aufrecht stehende Gänsefeder, die ihn größer erscheinen ließ, dachte er zumindest. Doch die Mühe lohnte sich kaum, denn seine kleinwüchsige Natur war unverkennbar. Das noch volle Haupthaar des Hinterkopfes hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Des Weiteren bestand Joswig Stein aus braunen Kutscherstiefeln, die fast bis zum Gesäß ragten. An seiner Gestalt war nur eines groß: Die verhornten narbigen Hände mit den erdfarbigen Fingernägeln hatten die Größe von Mistgabeln. Man sah ihm an, dass er die Arbeit nicht scheute und blickte man ihm tief in seine Augen erkannte man einen gütigen Menschen in kleiner Gestalt. Wir schätzten jeden Zentimeter an ihm, denn er stand für Fleiß, Loyalität und Zuverlässigkeit.

„Gut Caspar, dass du Joswig gleich mitbringen konntest. Wie ist es gelaufen?“, raunte Hinrich ganz elektrisiert vor Neugier.

„Wir fuhren seinen Gespannen hinterher. Die Fahrt ging überraschenderweise zum hiesigen Hafen. Ich hatte mich schon gewundert, seine Wagen waren gar nicht voll beladen gewesen. Im Hafen sahen wir, wie er noch zusätzlich Kisten verstaute, die mit vorhandenen Weizensäcken verdeckt wurden. Dann fuhr der feine Herr in Kolonne mit seinen Leuten nach Osten. Jede Zollstation ließ er aus und nahm dafür große Umwege in Kauf. Auch durch tiefe Wälder mit schlechten Straßen schreckten ihn dabei nicht ab. Seine Männer bemerkten uns nicht. Wir konnten genügend Abstand halten, weil die Räder der Fuhrwerke tiefe Spuren in dem morastigen Boden hinterließen. Nachdem wir weiterhin ostwärts Stormarn und anschließend Lauenburger Gebiet durchquert hatten, sahen wir die erste Mecklenburger Zollstation kurz vor Boizenburg an der Elbe. Dort hatte ich das erste Mal die Chance, die Waren des Freiherrn von Bräsow näher zu betrachten. Unter dem Weizen befanden sich Kisten mit Waffen! Zeitgleich erfuhren meine Männer im Wirtshaus der Zollstation, das von Bräsow lediglich den Weizen verzollte. Jetzt verstand ich, warum er nicht direkt sein Zeug elbaufwärts transportierte. Dort wäre er viel öfter kontrolliert worden, als auf dem zurückgelegten Weg. Und in Hamburg fuhr er mit dem Weizen in den Hafen und wieder heraus, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Am nächsten Tag wurde die Ladung im Boizenburger Hafen verschifft und die Reise ging auf der Elbe weiter - Richtung Preußen.“

„So kann man viel Geld verdienen, wenn keine Skrupel vorhanden sind!“, fügte ich staunend und bestätigend hinzu.

„Du hast deine Arbeit gut gemacht, Joswig. Unseren Dank dafür!“, sagte Hinrich anerkennend. Joswig nahm seinen vereinbarten Obolus entgegen und versicherte uns nochmals seine vollste Verschwiegenheit. Wir tranken unser Bier und Joswig verabschiedete sich eilig und verschwand so schnell wie er gekommen war. Hinrich und ich sahen uns an und wussten genau, dass nun der schlimmste Teil des heiklen Vorhabens auf uns zukam. Wir mussten Vater und Josephine davon in Kenntnis setzen. Und zwar sehr behutsam, um die gerade wieder gewonnene Eintracht der Familie nicht aufs Spiel zu setzen. Zuerst sprachen wir mit Josephine, die wir mit aller Geduld überzeugen wollten.

In einem unserer Meinung nach günstigen Moment sprachen wir sie in der Küche an, als Vater noch im Hafen weilte. Doch leider war ein wenig Zorn im Spiel und die Katastrophe nahm ihren Lauf.

„Wir erfuhren von den Geschäften des Freiherrn von Bräsow. Man sagt, er schmuggelt Waffen nach Preußen. Er tarnte seine Wagen mit Weizensäcken. Dies alleine ist schon ein Verrat gegen sämtliche Reichsdeutschen, weil Friedrich II. doch gegen unseren Wiener Kaiser und gegen andere Deutsche marschierte. Doch auch noch Waffen dem Kriegstreiber zu zuschieben ist unverzeihlich! Wir meinen, der Mann ist nicht der richtige Umgang für unsere Schwester. Sag uns, wie du darüber denkst. Vater haben wir noch nichts gesagt und wir hoffen insgeheim, dies auch nicht tun zu müssen“, sagte Hinrich zwar in ruhigem Ton, aber ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

„Welchen Umgang ich pflege, müsst ihr mir überlassen. Da ihr zudem keine Beweise habt, sondern nur etwas glaubt gehört zu haben, sollten wir ihn fragen, wenn Bernhard wieder in Hamburg ist. Nicht wahr! Oder kennt ihr jemanden, der den Weizen gesehen hat?“, antwortete Josephine und stocherte nervös im Suppentopf herum. Hinrich schaute mich kurz ratlos an.

„Josephine, es ist so, dass Joswig den Weizen und die Waffen im Boizenburger Hafen gesehen hatte. Und zwar kurz vorm Ausschiffen elbaufwärts. Es gibt leider keinen Zweifel, Bernhard schmuggelt Waffen nach Preußen.“

„Tu nicht so scheinheilig, Caspar! Euch beiden würde es niemals leidtun, wenn es so wäre. Mein Lebensglück ist euch doch ein Dorn im Auge. Ich frage mich, was Joswig in Boizenburg macht, der sollte doch nur nach Stormarn fahren. Könnt ihr mir das erklären, ihr scheinheiligen Heuchler?“

„Gut Schwester, wir legen die Karten auf den Tisch. Wir haben Joswig hinterhergeschickt, weil wir von Bernhard von Bräsows Getreideschmuggeleien gehört hatten. Ist ja jetzt auch egal. Er ist jedenfalls ein Spion und ein Schmuggler der übelsten Sorte, und ich behaupte, dass er dich nur heiraten will, um einen Zugang zur Hamburger Kaufmannschaft zu erhalten“, fügte Hinrich druckvoll hinzu. Josephine fing an, mit Gegenständen nach uns zu schmeißen, die selbstredend in der Küche in ausreichender Zahl zur Verfügung standen.

„Ihr verlogenen Heuchler! Alle beide. Ihr droht mir, Vater alles zu sagen und ihr hintergeht mich, wolltet mich tölpelhaft überrumpeln. Haut ab aus meiner Küche und lasst euch hier nicht mehr blicken!“, brüllte sie und warf weitere Teller und Töpfe auf uns, die von immer größeren Ausmaßen waren und immer dichter auf uns zu flogen. Wir hatten alles vermasselt und fühlten uns bald elendig und schuldig, hatten wir doch langfristig das Unglück von unserer geliebten Schwester fernhalten wollen. Doch es kam noch viel dicker.

Plötzlich ging die Tür zum Dachboden auf und Lisa schaute vorsichtig mit dem Kopf durch die Tür.

„Ihr sitzt hier ja immer noch“, sagte sie überrascht und traute sich anschließend mit dem ganzen Körper in den Raum. Sie zündete Kerzen an, die zahlreich auf der hell gebeizten Anrichte standen, da es inzwischen an Tageslicht mangelte.

„Setz dich zu mir!“, befahl Cornelius verschlafen und schaufelte ein paar Kissen vom Kanapee, um für den notwendigen Platz zu sorgen.

„Habt ihr schon zu Abend gegessen?“, fragte Lisa besorgt.

„Nein, aber ich könnte …“ Cornelius bremste sich aus.

„Ich gehe runter und hole etwas herauf“, entgegnete sie und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Eigentlich hätte sie ihren Sohn nur ansehen müssen.

„Die Armenspeisung geht weiter … “, frotzelte Caroline in gewohnter Manier.

„Ja, wir sind arm dran, wenn wir Hunger haben … “, grinste Cornelius. Ich versuchte den Faden nicht zu verlieren und erzählte unbeirrt weiter.

Wenig später kam Johann Ludwig Kock nachhause und Josephine hatte sich zunächst wieder beruhigt. Allerdings sprach sie mit uns kein Wort mehr. Vater schaufelte völlig ausgehungert Josephines mit Speck angereicherte Gemüsesuppe in sich rein, und sagte nichts ahnend nach einiger Zeit:

„Leider habe ich schlechte Nachrichten für dich, Josephine. In der Commerzdeputation sprach man von Herrn von Bräsow. Es sickerte der Name des Schiffes durch, dessen Eigner er anteilsmäßig sein soll. Die Fregatte heißt Hellesand. Wohl wissend war es nicht mehr schwer herauszufinden, in welcher Absicht das Schiff unterwegs ist. Die Hellesand befördert Sklaven von der Guineaküste nach Westindien! Dein feiner Herr aus Mecklenburg ist lupenreiner Sklavenhändler! Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht näher zu erklären, oder?“

„Nun fängst du auch noch an, Vater! Ihr habt euch alle gegen mich verschworen!“, platzte es aus meiner Schwester heraus, die sich nun erst recht in die Enge getrieben fühlte. Wutentbrannt verließ sie den großen Tisch der Diele und war am selben Tage nicht mehr zu sehen gewesen.

„Hast du denn nichts gewusst von alledem? Willst du dieses unmenschliche Handeln unterstützen?“, brüllte er ihr wütend hinterher, „wir können auch ohne das Leid der schwarzen Menschen aus Afrika unser Geld verdienen!“ Bald hatte er sich wieder beruhigt, und Hinrich fühlte sich verpflichtet, ihm noch den Rest der Misere zu erzählen.

„Nun müssen wir es dir sagen, Vater. Er ist auch in anderen abscheulichen Dingen unterwegs.“

„Sag schon, was macht Herr von Bräsow denn noch so?“

„Er schafft Weizen nach Preußen und außerdem versorgt er König Friedrich mit Waffen über unseren Hafen! Joswig hat die Ladung in Boizenburg gesehen, kurz vor der Verschiffung, die der Freiherr aus dem Hamburger Hafen dorthin schaffte“, erwiderte Hinrich.

„Und ihr habt ihm Joswig nachgeschickt?“

„Ja!“

„Jetzt verstehe ich zumindest Josephines heftige Reaktion. Nun, ich glaube, das Problem wird sich von alleine lösen. Oder rechnet ihr damit, dass der Kerl nochmals hier auftauchen wird?“

„Viel wichtiger ist doch jetzt Josephines Einsicht. Sie braucht Zeit darüber nachzudenken und ich hoffe, mit ein wenig Abstand zieht sie die Konsequenzen. Schließlich haben wir uns nur zum Wohl der Familie und aus moralischen Gründen in ihre Privatsachen eingemischt“, fügte ich beschämt hinzu. Ich ärgerte mich über unsere Unfähigkeit, ihr die Dinge nicht schmerzfrei beibringen zu können.

„Wenn Sklaven- und Waffenhändler sich unter meinem Dach bewegen, ist das keine Privatsache mehr, Caspar!“ Vater hatte unmissverständlich die Sache auf den Punkt gebracht. Dennoch hatten wir Josephine einem unzumutbaren Wortschwall ausgesetzt, der ihre Gedanken im Keim erstickte und sie zu manchen unüberlegten Sätzen veranlasste. Vater hatte immer vermieden, seine Tochter schlechter zu behandeln, als die beiden Söhne und so sollte es eigentlich auch bleiben.

Am nächsten Morgen war Josephine nicht mehr da. Später erhielten wir eine Mitteilung von ihr. Darin stand lediglich, dass sie geheiratet hatte und ihr neuer Name lautete: Josephine Freifrau von Bräsow. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Es erklärte sich alles von selbst. Natürlich haben wir alle Josephine vom ersten Tag ihres Fernbleibens vermisst. Ihre frohe Natur und ihre quirlige Lebensart erfüllten ab sofort nicht mehr die elterlichen Räume in der Katharinenstraße. Natürlich machten wir uns große Vorwürfe, weil wir ihr es nicht gerade behutsam beigebracht hatten. Zwar taten wir unser Bestes und das war einfach viel zu wenig, um unserer Schwester gerecht zu werden.

Lisa kam mit einem großen beladenen Tablett zur Tür herein, wie sie es schon unzählige Male vorher gemacht hatte, wenn wir hier oben verweilten. Cornelius saß plötzlich kerzengerade wie ein Zinnsoldat auf seinem Platz, doch auch Caros und meine Aufmerksamkeit soll fairerweise nicht unerwähnt bleiben. Es war schon sehr spät geworden und ich war mir ganz sicher, die Kinder hatten wirklich genug für heute gehört.

Lisa und ich gingen anschließend schlafen. Nochmals zog der Tag an mir vorbei. Die Tage, an denen ich bisher erzählte, vollzog sich etwas Besonderes. Caroline und Cornelius hatten einen Teil ihrer Familiengeschichte nun bewusst verinnerlicht. Ihre eigene Identität und ihre Prägung würden damit verbunden sein, und der nächsten Generation mit individuellem Anstrich weitergegeben werden. Wunderbar!

Caspar rund das Meer spricht Englisch

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