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TEIL 2 DIE GESTALTUNG PÄDAGOGISCHER BEZIEHUNGEN

«Trotz aller Ähnlichkeiten hat jede lebende Situation,

wie ein neugeborenes Kind, auch ein neues Gesicht, das

es noch nie zuvor gegeben hat und das auch nie mehr

wiederkehren wird. Die neue Situation erwartet von dir

eine Antwort, die nicht im Vorhinein vorbereitet werden

kann. Sie erwartet nichts aus der Vergangenheit. Sie

erwartet Präsenz, Verantwortung; sie erwartet – dich.»

Martin Buber

Trotz der Verschiedenheit aller Situationen in der Schule, die jedes Mal, wie Martin Buber formuliert, «dich» als ganze Person fordern, lassen sich Leitlinien für die Gestaltung pädagogischer Beziehungen formulieren, an denen wir unser pädagogisches Handeln ausrichten können. Schülerinnen und Schüler können uns viel über pädagogisches Handeln lehren – ihre Erfahrungen und ihr Wissen halfen uns, neben pädagogischer Theorie sechs Anerkennungspraktiken zu formulieren, die im Folgenden genau beschrieben werden.

Durch unsere tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wachsen der Zusammenhalt und die Verantwortung, der Auftrag, Antwort zu geben. Wenn wir unsere Verantwortung als Lehrerinnen und Lehrer übernehmen, dann steht die Frage im Raum, wie eine Lehrerin oder ein Lehrer denn sein sollte, was sie oder er machen sollte. Dabei hilft es, grundlegende menschliche Bedürfnisse als Axiome anzunehmen: den Wunsch zu lernen, zu gestalten, gesehen zu werden, anerkannt zu werden, Verantwortung zu übernehmen und als soziales Wesen in einer Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten. Jede Begegnung mit Schülerinnen und Schülern trägt diese Verantwortung an uns heran. Das kann uns gelingen, indem wir anerkennend handeln und uns der Rechte von Kindern nicht nur bewusst sind, sondern diese auch wahren (vgl. UN-Kinderrechtskonvention). Was heißt es aber nun, pädagogisch anerkennend zu handeln und dabei Kinderrechte zu wahren?

Eine menschenrechtlich begründete Pädagogik ist grundlegend für inklusions- und demokratieorientiertes pädagogisches Handeln von Lehrerinnen und Lehrern und wird unter anderem in professionellen, entwicklungsfördernden pädagogischen Beziehungen sichtbar. Anerkennung spielt dabei für die Frage nach dem Aufwachsen in einer Demokratie eine zentrale Rolle. Die in der Schule vorherrschenden hierarchischen Strukturen, in denen die Qualität der pädagogischen Beziehung der Vermittlung des Stoffs aus Zeitmangel immer wieder nachgereiht wird, bereiten junge Menschen nicht ausreichend auf eine Zukunft vor, in der Demokratie und Inklusion unverzichtbar sind, um heterogene Gesellschaften unter dem Druck der Globalisierung zusammenzuhalten. Die traditionelle Autorität der Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf Funktion, Rolle und Stand gründet und gekennzeichnet ist durch Kontrolle, Durchsetzung und Macht, wird abgelöst. Die neue Autorität gründet auf Authentizität, Präsenz, Anerkennung, Respekt und fokussiert auf Verbundenheit und Potenzialentfaltung (vgl. Rasfeld und Breidenbach 2014, 62). Lehrende stellen als pädagogisch Handelnde ein signifikantes Gegenüber für die Entwicklung und das Lernen von Schülerinnen und Schülern dar. Um eigene Potenziale zu entdecken, brauchen Kinder und Jugendliche Aufgaben, an denen sie wachsen, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Anerkennung in einer starken Beziehungskultur, in der sie nicht nur sich, sondern auch einem Du begegnen, einem Gegenüber, mit dem sie in Beziehung treten können. Der Aufbau und die Gestaltung professioneller pädagogischer Beziehung werden als ein zentraler Kern der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern verstanden. Eine anerkennende Haltung den uns anvertrauten Schülerinnen und Schülern gegenüber hat den gleichen Stellenwert wie die Vermittlung von Stoff und die Erziehung zu einem kritischen und mündigen Menschen. Eine geglückte pädagogische Beziehung darf und soll kein Nebeneffekt oder gar glücklicher Zufall sein, sondern soll im Fokus der Aufmerksamkeit der Lehrerinnen und Lehrer stehen.

Auch wenn wir keine Gebrauchsanweisung haben, wie pädagogische Beziehungen aufgebaut werden können, gibt es doch gewisse Praktiken, die anerkennendes pädagogisches Handeln beschreiben und auf die wir im alltäglichen Tun, in der Begegnung mit Schülerinnen und Schülern achten können. Um den Aufbau und die Gestaltung von Anerkennungsbeziehungen nicht nur theoretisch zu bearbeiten, sondern auch praktisch erfahrbar zu machen, haben wir uns an Kinder und Jugendliche gewandt und durch die Arbeit mit Erinnerungsgeschichten bei der Perspektive der Schülerinnen und Schüler angesetzt. Erinnerungsgeschichten sind Narrationen von SchülerInnen, in denen sie für sich selbst prägende und einprägsame Situationen mit LehrerInnen genau beschreiben und dabei sowohl Vergangenes rekonstruieren als auch zurzeit geltende Normen- und Wertesysteme sichtbar machen. Der Datenkorpus – 210 von Kindern und Jugendlichen verfasste Erinnerungsgeschichten – stammt aus unserem Projekt zur Erforschung von Anerkennungspraktiken in der Schule.

Was ist eine Praktik?

Tagtäglich führen Lehrerinnen und Lehrer Anerkennungspraktiken durch, die sich als ein Ensemble miteinander verknüpfter, regelmäßiger Aktivitäten zeigen. Zusätzlich zeigen sich in Praktiken subjektive Überzeugungen, Werte und Normvorstellungen der Handelnden. Das Praktizieren verläuft häufig, ohne dass sich die LehrerInnen ihrer inneren Glaubenssätze bewusst sind oder sie reflektieren. Im Alltagsverständnis wird Anerkennung oftmals mit Wertschätzung gleichgesetzt, was zu kurz greift. Zusätzlich lässt sich ein großes Missverständnis im pädagogischen Handeln darin identifizieren, dass sich Anerkennung in Zustimmung und Lob äußern müsse. Diese missverstandene Anerkennung nach dem Motto «stimmst du nicht mit mir überein, dann bringst du mir keine Anerkennung entgegen» führt dazu, dass ich nicht mehr für mich und meine Sicht der Dinge einstehe, sondern immer dem Druck ausgesetzt bin, die Welt mit den Augen meines Gegenübers zu sehen. Vor allem in hierarchischen Beziehungen, wie sie in der Schule vorherrschend sind, stellt das ein Problem für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen dar. Anerkennung als Ausdruck einer inneren Haltung baut auf die Erfahrung von Respekt, Verschiedenheit und Dialog. Dabei ist das Wissen grundlegend, dass der Andere oder die Andere nicht sein muss, wie ich ihn oder sie mir wünsche. Dadurch entstehen Momente der Überraschung und Irritation, mit denen wir lernen umzugehen. Die offensichtlichen Praktiken «Anerkennen» und «Anerkannt-Werden» werden in unserer Arbeit genauer aufgeschlüsselt. Diese Aufschlüsselung hilft uns, unser Verhalten genauer zu betrachten und kleine wirkmächtige Momente, die darüber entscheiden, ob unser Handeln beziehungs- und entwicklungsfördernd bei den SchülerInnen ankommt, zu identifizieren. «Anerkennen» zeigt sich als Praktik des Wahrnehmens, des Begegnens, des Gegenübertretens, des Ansprechens, des Rückmeldens, und des Versagens, sichtbar als Grenzen Setzen oder Sanktionieren. Dabei muss beispielsweise das Wahrnehmen bei den SchülerInnen als ein Gesehen- und Gehörtwerden ankommen, um erst zu einer Anerkennungspraktik zu werden, das Begegnen und Ansprechen erst als ein solches verstanden werden, um seine Wirkung zu entfalten und ein Antworten, eine Gegenadressierung zu ermöglichen. Wird die Adressierung erkannt, sei es bewusst oder unbewusst, entfaltet sie ihre Wirkung – und erst durch die Verkettung in ihrer spezifischen Art werden die Einzelpraktiken zur Praxisform der Anerkennung.

Anerkennungspraktiken spielen sich zwischen mindestens zwei AkteurInnen ab und stellen damit eine Form der Sozialität dar, die von einer grundlegenden Abhängigkeit des Menschen von anderen ausgeht, wobei die Anerkennungspraktik als spezielle, von anderen Praxisformen abzugrenzende Praxisform gesehen wird. Dadurch wird es möglich, unterschiedliche Formen von Anerkennungspraktiken herauszuarbeiten und aufeinander zu beziehen, um damit ihrer Vielfalt gerecht zu werden. Die im Folgenden dargestellten Praktiken wurden aus den Erinnerungsgeschichten der Kinder und Jugendlichen rekonstruiert und durch die Häufigkeit und Dichte der Erwähnungen als besonders relevant für die Beschreibung von anerkennendem pädagogischem Handeln betrachtet. Dabei wird jede der vorgestellten Praktiken mit einer kurzen theoretischen Erläuterung eingeführt. Anschließend wird eine Erinnerungsgeschichte zu dieser Praktik angeführt und die wirkmächtigen Elemente werden darin rekonstruiert. Die Erinnerungsgeschichte wird im Anschluss daran von einem Schüler oder einer Schülerin betrachtet und vor dem eigenen Erfahrungshintergrund reflektiert.

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