Читать книгу Ich bin für dich da (E-Book) - Cathrin Reisenauer - Страница 8

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EINLEITUNG

«Das Kind hat eine Zukunft, aber es hat auch eine

Vergangenheit: denkwürdige Ereignisse, Erinnerungen,

viele Stunden einsamer, wichtiger Überlegungen. Es

erinnert sich und vergißt, nicht anders als wir, es schätzt

und missachtet, kann logisch denken – und irrt sich aus

Unwissenheit. Bedächtig vertraut und zweifelt es.»

Janusz Korczak

Anerkennung, was ist damit gemeint? Ist Anerkennung wertschätzendes Verhalten von LehrerInnen, SchülerInnen wohlbehütet in eine rosarote Traumwelt gehüllt, ohne wirkliche Rückmeldung, sondern ausschließlich mit Lob und Bestärkung durch die Schulzeit zu führen? Ist Anerkennung das, was Kinder brauchen, um sich immer wohl und glücklich zu fühlen? Bekommen Kinder und Jugendliche dadurch Mut und Kraft, im Leben zu bestehen? Oder ist es die Aufgabe von uns LehrerInnen, Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg zu autonomen, kritischen Menschen, die Verantwortung übernehmen können, zu bestärken, ihnen Grenzen zu setzen und sie zu begleiten?

Eine wichtige Rolle auf dem Weg zu verantwortungsbewussten Erwachsenen spielt, in welcher Weise die Kinder von Lehrenden angesprochen werden: als fähige Menschen, die selbst wissen, was gut für sie ist, oder als unmündige Kinder, denen ein allwissender Lehrer gegenübersteht, als Personen, die lernen und sich weiterentwickeln wollen, oder als «Faulpelze», die sich in der Schule nur eine entspannte Zeit machen wollen und nur Unfug im Kopf haben? Durch die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche angesprochen werden, wird eine Realität mitgeschaffen, die in dieser Form davor unter Umständen noch nicht existiert hat, oder aber eine bereits existierende Realität weiter festgeschrieben. Zentral für die weiteren Ausführungen ist es, dass, wann immer LehrerInnen ihre SchülerInnen ansprechen, pädagogische Handlungen vollzogen werden. Dabei ist keine Wertung im Sinne von positiv oder negativ, absichtsvoll oder unabsichtlich, gerecht oder ungerecht impliziert. Vielmehr ist es wichtig zu verstehen, dass alles, was Lehrerinnen und Lehrer tun, wirkt.

Kinder brauchen für ihr Lernen und ihre Entwicklung ein Gegenüber, auf das sie sich verlassen können und das sie führt. Lehrerinnen und Lehrer können und sollen ein solches Gegenüber für Kinder sein. Im Folgenden werden pädagogische Handlungen betrachtet und systematisiert, damit Lehrerinnen und Lehrer Schlussfolgerungen über ihr eigenes Handeln ziehen und pädagogische Handlungen bewusster setzen können. Die sozialtheoretische Einsicht, dass erst Erfahrungen der Anerkennung es Individuen ermöglichen, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung auszubilden, hat im pädagogischen Diskurs eine beachtliche Resonanz gefunden. Nicole Balzer und Norbert Ricken (2010, 35) gehen davon aus, dass «pädagogisches Handeln grundsätzlich mit Fragen und Problemen der Anerkennung verbunden ist». Ihre These untermauern sie, indem sie über Erfahrungsberichte von ermutigenden oder demütigenden Erziehungs- und Schulszenen verdeutlichen, dass wechselseitige Wahrnehmungen und Adresssierungen, Bewertungen und Rückmeldungen jeglicher Art im pädagogischen Geschehen «bedeutsam» sind.

Eine Antwort auf die Frage, welche Bedeutung Anerkennung für Schülerinnen und Schüler haben kann, geben die Kinder und Jugendlichen in diesem Buch selbst. Fast zweihundert Schülerinnen und Schüler im Alter von 10 bis 19 Jahren erinnerten sich an Begegnungen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, dabei erzählen, überlegen und diskutieren sie, wie und wodurch ihre Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Entwicklung und zu ihrem Lernen beigetragen haben. Begegnungen, an die sich die Kinder und Jugendlichen sehr gerne und weniger gerne erinnert haben, wurden schriftlich festgehalten und von uns in einem Forschungsprozess analysiert. Theoretische Überlegungen von Judith Butler und Axel Honneth leiteten unseren Arbeitsprozess und konnten dadurch zum tieferen Verständnis des pädagogischen Handelns beitragen.1 Sechs Anerkennungspraktiken konnten rekonstruiert werden, die das pädagogische Handeln in der Schule grundlegend beschreiben und einen gestaltenden Einfluss auf pädagogische Beziehungen haben. Diese sechs Praktiken scheinen auf den ersten Blick sehr einfach, Handlungen eben, wie sie täglich in der Begegnung mit Menschen vollzogen werden. Durch die Schilderungen der Schülerinnen und Schüler wird aber bewusst, welche große Wirkmacht einzelne und kleine Handlungen haben, die Lehrerinnen und Lehrer in pädagogischen Räumen tätigen.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die sechs zentralen Praktiken: Wahrnehmen

Praktik
Anerkennen als Wahrnehmen Begegnen Gegenübertreten Ansprechen Rückmelden Versagen

Um zu zeigen, wie im zweiten Abschnitt dieses Buches die Gestaltung pädagogischer Beziehungen durch Anerkennungspraktiken beschrieben wird, betrachten wir hier kurz und beispielhaft die Praktik des Ansprechens: An einer ersten Erinnerungsgeschichte eines 12-jährigen Schülers zeigen wir auf, welch große Bedeutung es hat, wie und als wen Lehrerinnen und Lehrer Schülerinnen und Schüler ansprechen. Das Verb ansprechen impliziert auch, jemanden als etwas zu bezeichnen. Durch die Adressierung, das Ansprechen also, wird nicht nur eine existierende Realität beschrieben und bestätigt oder verstärkt, sondern es wird auch – und oft vor allem – eine Realität eingeführt, die noch nicht existiert. Es wird Schülerinnen und Schülern also aufgezeigt, was oder wer sie sind, und vielmehr noch, wohin sie sich bewegen können und was oder wer sie werden können. So wirken Lehrerinnen und Lehrer auf die Subjektwerdung des Kindes ein, das geschieht oft unbewusst.

Meine Erinnerung spielte in der 3. Klasse Volksschule. Ich, mein Freund Markus, meine Klasse und unsere Lehrerin Frau XY waren beteiligt. Die erste Mathe-SA hatten wir geschrieben. Ich saß ganz normal auf meinem Stuhl. Plötzlich stürmte mein Freund Markus zu mir und sagte: «Komm mal mit.» Ratlos ging ich mit ihm hinaus. Ich sah aus der Tür und es stand tatsächlich die ganze Klasse vor mir und sang: «Happy Birthday to you!» Ich war überrascht. Es gratulierte mir jeder einzelne, auch die Lehrerin, sie sagte: «Alles Gute, du großer Bursche!» Ich glaube, dieser Spruch meiner Lehrerin war der Anfang meiner Jugend.

In dieser kurzen Szene wird deutlich, wie sehr diese positive Ansprache Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Es wird auch aufgezeigt, wie sehr Lehrerinnen und Lehrer über die Institution Schule hinauswirken und auf die Subjektwerdung des Kindes einwirken. Die Aussage «Ich glaube, dieser Spruch meiner Lehrerin war der Anfang meiner Jugend» markiert dies besonders. Der Schüler wird durch die Bezeichnung «großer Bursche» als etwas angesprochen, das er noch nicht ist, aber auf dem Weg ist, zu werden. Das folgende Beispiel eines 13-jährigen Schülers zeigt, dass durch Adressierungen aber auch eine Realität geschaffen werden kann, die ich als LehrerIn vielleicht gar nicht möchte. Man kann dabei auch an die zahlreichen Adressierungen denken, die die Rolle eines Klassenclowns oder eines Unruhestifters zementieren.

Ein Lehrer, der die Klasse neu übernimmt, möchte in seiner ersten Stunde die Namen der Schülerinnen und Schüler lernen. Dazu setzt er sich auf das Lehrerpult und spricht alle Schülerinnen und Schüler von der ersten Reihe bis zur letzten Reihe einzeln an. Er schaut die Kinder an, fragt sie nach ihren Namen, beobachtet genau, wie sie dasitzen, was sie tun, wie sie ihre Arbeitsmaterialien auf ihrem Platz angeordnet haben, um sich ihre Gesichter und Namen einzuprägen: «Paula, bei dir schaut alles sehr ordentlich aus. Du bist sicher eine brave und fleißige Schülerin. Paula, die Brave.» Die Kinder sind gespannt, was der Lehrer für sie bereithält, wie er sie sieht, wie er sie einschätzt. «Moritz, bei dir habe ich schon gemerkt, dass du kluge Fragen stellst. Dich kenne ich schon aus Vertretungen, da bist du mir auch schon aufgefallen. Moritz, der Kluge.» «Oh, und da sitzt also Felix. Von dir habe ich schon viel gehört. Wenn ich dich anschaue, dann weiß ich, dass das mit dir kein leichtes Jahr wird.»

Und es wurde kein leichtes Jahr, von dieser Szene hat der Schüler immer wieder gesprochen. Auf die Frage hin, warum der Schüler gerade in den Stunden mit dem neuen Lehrer so auffällig ist, hat der Schüler nur geantwortet, dass er ja nichts anderes mache, als sein Lehrer von ihm erwarte. So wirken Adressierungen. Wenn man pädagogische Handlungen betrachtet, zeigt sich grundlegend, wie wichtig es für Lehrende ist, zu hinterfragen, wie das ankommt, was sie im und außerhalb des Unterrichts in ihren Begegnungen mit den ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schülern tun, was sie sagen, was sie nicht sagen, aber in ihrer Mimik und Körpersprache zeigen, welche Handlungen sie setzen. Lehrerinnen und Lehrer können, weil das Anerkennen ein kommunikativer Akt ist, in ihrem pädagogischen Tun nicht nicht anerkennen, sie adressieren ihre Schülerinnen und Schüler fortwährend. Und eine gute Absicht aufseiten der Lehrenden bedeutet noch lange nicht, dass die Adressierung bei den Schülerinnen und Schülern eine positive Wirkung hat. Deshalb ist es zentral, eine reflexive Haltung einzunehmen, die auf die Schülerin und den Schüler ausgerichtet ist. Durch dieses Gerichtetsein auf das Gegenüber und Sich-seiner-Verletzbarkeit-bewusst-Sein bildet Anerkennung den Grundstein einer Ethik des Klassenzimmers. Wir Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, damit Kinder lernen und sich entwickeln. Weil Lernen aber kein vorwiegend kognitiver Akt ist, sondern ein emotionaler, ist es grundlegend, über das pädagogisch anerkennende Handeln eine Lernbeziehung zu Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Darauf könnte sich auch Arthur Schopenhauers Aussage beziehen, wenn er sagt: «Was das Herz nicht hineinlässt, kann der Verstand nicht aufnehmen.» Dem Aufbau pädagogischer Beziehung durch anerkennendes Handeln widmet sich dieses Buch.

Im ersten Abschnitt des vorliegenden Buches wird Anerkennung grundlegend betrachtet und ein Anerkennungsbegriff entfaltet, der Anerkennung als Subjektivierungsgeschehen und als grundlegend für pädagogisches Handeln versteht. Im zweiten Abschnitt werden sechs Anerkennungspraktiken zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen dargestellt und von Schülerinnen und Schülern betrachtet, reflektiert und kommentiert. Im dritten Abschnitt wird aufgezeigt, wo uns unser Wissen über Anerkennung hinführen kann, und pädagogische Haltungen werden beschrieben. Zum Abschluss möchten wir unseren Leserinnen und Lesern noch ein paar Möglichkeiten zur Reflexion geben, denn wir gehen davon aus, dass die pädagogische Praxis Reflexion braucht, um sich eigene Werte, Haltungen und Glaubenssätze bewusst zu machen, sie zu hinterfragen und an ihnen zu arbeiten, wenn manche unserer Handlungen von unseren eigentlichen Werten abweichen.

Ich bin für dich da (E-Book)

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