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Das Hexenzimmer

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Schwärze sprang ihn an. Ein schwarzer Fußboden, Fliesen mit einem blutroten Pentagramm darauf. Schwarze Vorhänge. Schwarze Kerzen standen in schwarzen Regalen. Totenschädel reihten sich auf wie eine Trophäensammlung. Weiter hinten, rechts, verhüllte ein Stück schwarzer Seide einen Spiegel, wie er aus der Form erkannte. Luke ging langsam zu ihm und zog den Stoff beiseite. Er erschrak beinahe zu Tode, als Samira ihn ansah, und er fuhr zurück. Samira fuhr ebenfalls zurück. Luke fuhr sich mit der Hand an die Kehle; Samira fuhr sich gleichzeitig mit der Hand an die Kehle. Er sperrte vor Staunen den Mund auf. Auch ihr klappte der Unterkiefer herunter. Seine panisch aufgerissenen Augen sahen in ihre. Sogar die Mimik stimmte genau. Es war nur ein Spiegel, aber er sah nicht sich selbst darin, sondern sie. Wie konnte das sein??

Ein Motorengeräusch von der Straße ließ ihn zusammenfahren. Sein Spiegelbild, das nicht seins war, fuhr ebenfalls zusammen. Luke rannte zurück, zog die Tür zu, drehte den Schlüssel im Schloss, raste ins Bad, warf den Schlüssel in die Cremedose, schraubte sie wieder zu, stellte sie an ihren Platz, und verkroch sich gerade wieder unter der Decke, als er Samiras Schritte auf der Treppe hörte.

„Oh Schatz! Du siehst ja sehr krank aus. Hier, nimm gleich einen Löffelvoll.“ Sie flößte es ihm eigenhändig ein. Luke schluckte es gierig, denn jetzt fühlte sich sein Magen tatsächlich sehr flau an.

„Danke dir“, ächzte er und sah sie an. Die Hexe. Luke war überzeugter Atheist, schon immer gewesen. Wenn man etwas Falsches tat, kam man nicht in die Hölle. Man wurde geboren, lebte und starb. Es lag an jedem selbst, aus seinem Leben möglichst viel Spaß herauszuholen. Jetzt dachte er anders darüber. Seine irische Großmutter hatte ihn mit gruseligen Mythen aus der alten Heimat in Angst und Schrecken versetzt, als er noch klein gewesen war, und jetzt glaubte er jedes Wort davon. Dieser Spiegel … seine Bewegungen, seine Mimik, aber alles ihre Gestalt! Das konnte nur Hexerei sein! Die vielen Schädel … und alte in Leder eingebundene Bücher hatte er auch gesehen. Was mochte in ihnen stehen?

Wenn sie das nächste Mal einkaufen fuhr, musste er noch einmal da rein und nachsehen. Und ihren Laptop, auch den würde er sich vornehmen!

„Ich mache dir noch einen Tee.“ Sie drehte sich grade um und sah daher nicht die Grimasse, die er zog. Tee? Nein, danke. Im Moment wollte er ehrlich gesagt nichts, was sie mit ihren Fingern zubereitet hatte. Ihn schauderte es heftig, wenn er an die schönen, schlanken Hände mit den langen Nägeln dachte, die sich eifrig über den Töpfen bewegten wie Spinnen, die ihr Netz woben, wie sie Gewürze und Kräuter in sein Essen warf und umrührte, das Mündchen spitzte, um abzuschmecken … und vielleicht noch ein Mäuseherz in den Eintopf warf.

Luke übergab sich um ein Haar. Mäuseherz?? Wie kam man denn auf so was? Das war ja pervers!

Was hat die eigentlich mit mir vor, dachte er. Sie bekochte ihn, stellte ihn mit Drogen ruhig und drängte ihn ständig, zu essen. Sieben Kilo, ein Bierbauch, erschlaffende Muskeln … Nein, es konnte doch nicht … oder etwa … er war doch nicht in einer Art Knusperhaus gelandet?

Er lachte nervös in sich hinein. Was für ein Blödsinn. Morgen musste sie einkaufen, die Speisekammer und der monströse Kühlschrank, den sie besaß, waren fast leer. Gewiss würde sie ihm vorher wieder Drogen verabreichen wollen, und es galt, das zu verhindern. Er würde der kleinen Hexe schon zeigen, wo der Bock den Honig hatte!

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Lustlos saß Luke am Frühstückstisch und schaufelte die Haferflocken mit Kakaopulver und warmer Milch in sich hinein. Samira war gnadenlos; auch wenn sein Magen nicht in Ordnung war, essen musste er trotzdem. Schonkost mit viel Zucker.

Luke hatte kaum ein Auge zugemacht. Im Nebenraum stand ein Spiegel, in dem man nicht sich selbst, sondern Samira sah. Das Ding war nur durch eine Wand von ihm getrennt. Und um zwei Uhr, während Samira selig neben ihm schnarchte, war er entsetzt hochgefahren: Er hatte vergessen, den schwarzen Stoff wieder darüber zu drapieren! Verdammt! Wenn sie das sah! Bisher war sie nie in den Raum gegangen, aber meistens war er ja auch ohne Bewusstsein gewesen. Wer wusste schon, was sie tat, wenn er schlief?

Jetzt war er hundemüde und wartete darauf, dass sie einkaufen fuhr.

Der Vormittag verging. Samira bestand darauf, dass er sich im Wohnzimmer auf die Couch legte und seinen Magen schonte. Luke legte sich zwar hin, schaltete aber den Fernseher ein. Er befürchtete, sonst sofort einzuschlafen. Aber selbst der Fernseher half nicht. Wie auch, wenn er sich im Gefängnis daran gewöhnt hatte, auch bei der andauernden Geräuschkulisse zu schlafen? Langsam gingen seine Äuglein zu.

Er zuckte zusammen, als ein heller, klarer Gong durchs Haus dröhnte. Samira, die im Garten Unkraut jätete, kam herein und ging zur Haustür. Dort begrüßte sie freundlich irgendwen und dann hörte man Geschnaufe und Rascheln in der Küche.

Neugierig erhob Luke sich und schlurfte seinerseits in die Küche. Jetzt war er schon fast drei Monate hier, hatte aber noch keinen Menschen gesehen außer Samira. Nicht einmal einen Postboten. Er kam noch ganz zerknautscht um die Ecke und sah dümmlich zu, wie Samira und ein ihm unbekannter Mann den Kühlschrank beluden. Mehrere Kartons mit Saft, Müsli und Mehl hievte der Typ in die Speisekammer.

„Ähm … Hi“, stammelte Luke. Samira drehte sich zu ihm um. Der Mann richtete sich auf und schloss die Tür zur Speisekammer, als ob er das schon tausendmal getan hätte. Als würde er hier wohnen.

„Luke, Schatz, das ist William. Er ist freundlicherweise rübergekommen und hat mir ein paar Einkäufe vorbeigebracht. Du bist ja krank, und ich wollte dich nicht alleine lassen für so lange Zeit.“

William, der ein graues Jeanshemd und ein weißes T-Shirt darunter trug, nickte Luke ernst zu. Seine Augen jedoch wanderten kritisch an Luke herauf und herunter. Luke fühlte sich unter diesem abschätzenden Blick alles andere als wohl. Er nickte zurück.

„Gute Arbeit, Samira“, lächelte William und reichte ihr die Kassenbons. Samira kicherte. Dann bemerkte sie Lukes misstrauischen Blick und erklärte: „William ist auch beim VWKG und seit ungefähr drei Jahren rehabilitiert. Da siehst du, wie gut wir arbeiten.“

„Ach, Sie kennen Doktor Roberts“, sagte Luke und setzte sich an den Küchentisch.

„Ja, und ob ich ihn kenne. Er hat mein ganzes Leben verändert.“ Luke musterte den jungen Mann, der kaum siebzehn sein konnte. Er wirkte sehr selbstbewusst, war hochgewachsen und schlank. In seinen Augen lag etwas Verschlagenes, das Luke aus dem Gefängnis kannte. Es erinnerte ihn an eine räudige Kanalratte.

„Wie schön für Sie, William. Leider hatte ich noch nicht das Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen.“

Samira machte allen einen Kaffee und setzte sich dazu.

„Das werden Sie schon noch“, meinte William leichthin und nahm einen Schluck, „Doktor Roberts hat extrem viel zu tun. Man muss schon Glück haben, auserwählt zu werden.“ Jetzt grinsten Samira und William. Luke schauderte.

„Glück? Wer hat mich denn auserwählt?“

„Das war ich, Luke“, mischte Samira sich ein. „Wir Mitglieder suchen uns die aus, die wir bei uns aufnehmen. Keiner könnte das verlangen, wenn wir uns dabei unwohl fühlen würden, oder? Aber es ist Doktor Roberts, der die endgültige Entscheidung trifft. Da gab’s allerdings noch nie Probleme. Ich habe schon so vielen geholfen, ein ganz neues, nützliches Leben anzufangen … Doktor Roberts wird meine Entscheidung wohl kaum anzweifeln.“

„Wie schön.“ Luke trank seinen Kaffee. Er war heiß und aromatisch und vertrieb beinahe augenblicklich die Müdigkeit.

William erhob sich. „Ich muss jetzt los. Samira, könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“

„Natürlich. Leg dich ruhig wieder hin, Luke.“ Sie folgte William zur Haustür. Beide gingen nach draußen.

Da hatten sie aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Luke schlich ins Wohnzimmer und von dort aus in den Garten. Da konnte er alles hören, was von der Vorderseite des Hauses kam. Leider sprachen die beiden etwas leise.

„Mr. Hart ist sich sicher, dass du weißt, wo er ist“, zischte William.

„Mr. Hart weiß einen Scheiß. Ich gehöre nicht zu eurer Gemeinde, also soll er mich in Ruhe lassen“, fauchte Samira zurück.

„Soll ich ihm das so ausrichten?“, fragte William hämisch. Samira schnaubte. „Mein Wort gilt immer noch mehr als das eines Verabscheuten. Erzähl ihm, was du willst, und ich bezichtige dich der Lüge. Und du weißt, was dann mit dir passiert!“ William schwieg kurz.

„Er ist sich trotzdem sicher, dass du sein Versteck kennst. Und er denkt auch, dass eine der Hexen einen Zauber über ihn, oder eher sein Jahrbuchfoto, geworfen hat. Egal, wem er es vor die Nase hält, alle sehen sofort weg! Das stinkt nach einem sehr mächtigen Zauber, sagt er, nach Hexenmagie. Der Zirkel darf sich nicht in interne Probleme der Erhabenen Kinder der Lilithu einmischen, das war der Deal! Chris gehörte uns, mit Leib und Seele! Und wir wollen ihn zurück!“

„Brüll nicht so! Der Ochse hört dich noch!“

„Entschuldige.“

„Ich werde den Zirkel kontaktieren, aber versprecht euch nichts davon. Wieso glaubt ihr eigentlich, dass Chris bei uns ist?“

„Samira, hältst du uns für blöd? Meinst du, nur weil wir uns von den Außenseitern fernhalten, sehen wir nicht fern?“

„Warum schnappt ihr euch ihn dann nicht?“

„Weil Mr. Hart – noch – keinen Krieg zwischen euch und uns will. Er hofft auf eine friedliche Lösung.“

„Und was redest du dann von ‚Versteck’? Dann wisst ihr doch auch, wo Chris ist!“

„In New York, ja das ist uns klar. Aber die Stadt ist groß. Er wird wohl kaum … oder … Samira, er ist doch nicht etwa wirklich im Vehl Building, oder? Oder??“

„Lass mich gefälligst los!“

„Er ist tatsächlich dort, oder? Das gibt es nicht!! Soviel Dreistigkeit hätten wir euch nie zugetraut! Ich denke nicht, dass das Mr. Hart gefallen wird!“

„Es ist mir scheißegal, ob das Mr. Hart gefällt! Ich habe weder zugestimmt noch etwas abgestritten. Ich weiß nicht, wo Chris ist!“

„Ich glaube, das wird er dir nicht abkaufen. Ich glaube auch, dass du bald nicht mehr in Sharpurbie willkommen sein wirst.“

“Das … das geht nicht! Ihr könnt mich nicht von euren Zeremonien fernhalten! Ich habe das Recht, daran teilzunehmen!“

„Dann gib mir wenigstens etwas, das ihn besänftigen wird. Gib uns den Ochsen.“ Luke zuckte zusammen.

„Nein, den kriegt ihr nicht! Aber ich mache dir einen Vorschlag … ihr, du, Mr. Hart und seine Enkelin, seid zum Barbecue eingeladen. Und der Nächste auf der Liste geht an euch.“

„Einverstanden.“

Zutiefst erleichtert trabte Luke ins Wohnzimmer zurück und sank auf die Couch. Was auch immer es bedeuten mochte, den Erhabenen Kinder der Lilithu übergeben zu werden, herausfinden mochte er es nicht. All das klang nicht sehr vertrauenerweckend. Wenigstens hatte Samira sich schützend – und äußerst mutig! – vor ihn geworfen, das hätte er nicht gedacht. Vielleicht bedeutete er ihr ja doch etwas?

Mit dem Einkaufen hatte sie ihn ja schön verarscht. Wie sollte er sich jetzt nur umsehen? Er legte sich hin und schloss müde die Augen. Sollte er warten, bis sie schlief? Aber wenn sie wach wurde? Bei den vielen Pillen im Medizinschränkchen wusste er nicht, welche wohl die waren, die ihn immer so schläfrig machten, sonst hätte er ihr einfach eine gegeben. Ich Idiot, dachte er plötzlich und wäre beinahe vor Eifer von der Couch gekullert, ich weiß doch, wo regelmäßig das Zeug drin ist!

Das nächste Getränk, das Samira ihm brachte, war wieder mit der Droge versetzt. Dann musste er nur noch dafür sorgen, dass sie es trank.

Was trank sie überhaupt? Luke durchforschte sein Gedächtnis. Wasser trank sie, selten mal ein Bier, eine Cola, Tee, Kaffee … Genau! Nachmittags trank sie gerne einen Kaffee Latte. Und er bekam normalen Kaffee mit Milch und Zucker. Aber nicht heute.

Ein Wagen ratterte davon, und Samira kam wieder zu ihm rein. „Zeit für ein Stück Pflaumenkuchen mit Sahne“, lächelte sie und stellte ihn vor ihm auf den Couchtisch.

„Äh, Pflaumen- … und mein Magen? Der ist noch lange nicht in Ord-“

„Dann hättest du vorhin keinen Kaffee getrunken. Wieso verarschst du mich?“ Ihre Augen sanken in seine, und Luke fühlte sich augenblicklich schwach, unbehaglich und hilflos.

Verdammt. Da hatte er einen Riesenfehler gemacht.

„Ich habe so zugenommen, da wollte ich noch ein oder zwei Tage Auszeit haben.“

„Und gestern?“ Ihr Blick bohrte sich unbarmherzig in seine Augen.

„Da hatte ich wirklich Magenschmerzen.“

„Na gut. Dann iss jetzt deinen Kuchen.“

„Ja, okay. Aber könnte ich heute mal einen Latte haben, so wie du ihn immer trinkst? Ich denke, das ist vielleicht schonender und der riecht auch immer so gut“, setzte er mit einem versöhnlichen Lächeln hinzu. Samira entspannte sich sichtlich. Kaffee Latte hatte ordentlich Kalorien.

„Natürlich, Schatz. Kommt sofort. Leg dich wieder hin und ruh dich aus. Und iss den Kuchen!“

„Na klar“, Luke lümmelte schon wieder auf der Couch herum, „kein Problem. Der sieht lecker aus.“ Ein Stück, locker so groß wie ein halbes Backblech, lag auf einem Teller. Man konnte es jedoch kaum ausmachen unter der Menge Sahne, die Samira darauf gehäuft hatte.

Luke mampfte den Kuchen und horchte mit einem Ohr in die Küche. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder holte sie die richtige Tablette gleich oben aus dem Bad, aber das hatte sie vorher auch nie gemacht, weil es ja auch auffällig gewesen wäre, oder sie hatte noch irgendwo in der Küche einen Vorrat. Das erschien ihm wahrscheinlicher. Gleich, wenn sie ihm den Becher brachte, musste er die Tassen irgendwie vertauschen. Aber wie?

Es dauerte auch nicht lange, bis sie wiederkam. Sie brachte ihm eine dampfende Tasse. Der Duft des Milchkaffees war herrlich. Schade, dass er den unmöglich trinken konnte.

Um ihr weiszumachen, dass er ihn tatsächlich zu trinken beabsichtigte, schlürfte er ein winziges Schlückchen und verzog das Gesicht. „Noch zu heiß.“ Er stellte die Tasse auf den Tisch. Sie nickte und kam wenig später mit ihrer eigenen Tasse zurück und setzte sich neben ihn.

Luke schluckte. Er hatte eine rote Tasse, sie eine Blaue. Vertauschen unmöglich. Scheiße. Und jetzt?

„Oh, was ist das?“ Luke starrte an Samira vorbei in den Garten, sie folgte seinem Blick.

„Was denn?“

„Ich glaube, da ist vorhin jemand am Zaun gewesen.“

„Bist du sicher?“

„Ja, vielleicht ein Spaziergänger.“

Sie lachte. „Da hinten sind nur noch undurchdringliche Wälder, Luke.“

„Mag sein. Aber ich habe da ganz sicher jemanden über den Zaun lugen sehen. Dann war er ganz schnell weg. Hat sich vielleicht geduckt.“

Samira sah ihn prüfend an, aber er spürte auch eine gewisse Unruhe in ihr. Das Gespräch mit diesem William war ja alles andere als gut verlaufen. Sie schien besorgt. Was, wenn sich diese komischen Erhabenen es sich anders überlegt hatten und jetzt doch auf eine gewaltsame Lösung setzten? Die Stimme von diesem William hatte jedenfalls sehr bedrohlich geklungen.

Sie stand auf. „Ich sehe mal nach. Iss du deinen Kuchen.“

„Willst du nicht, dass ich mitkomme?“, warf er scheinbar fürsorglich ein. Sie schüttelte den Kopf und ging hastig zur Schiebetür. Bald darauf stapfte sie auf dem gewundenen kleinen Kiespfad in Richtung Zaun.

Luke hatte keine Zeit zu verlieren. Er schnappte sich Samiras Tasse und trank sie in einem Zug aus. Dann schüttete er seinen eigenen Kaffee in ihren Becher, wischte mit dem Ärmel seines Hemdes das auf, was danebengegangen war und unterdrückte ein Rülpsen. Tränen standen ihm in den Augen. Der Kaffee war verdammt heiß.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Samira wiederkam. Luke war das nur recht, so konnte sie sich nicht sehr wundern, dass er seinen Kaffee schon ausgetrunken hatte. Aber dafür war ihrer, wie sie nun klagte, nur noch lauwarm.

„Tu ihn doch in die Mikrowelle“, riet Luke ihr beiläufig. Wenn sie ihn jetzt einfach wegschüttete und sich einen Neuen machte … Sie verzog das Gesicht. „Ach“, knurrte sie zu seiner unendlichen Erleichterung, „so geht’s noch.“ Sie leerte die Tasse in drei langen Zügen und schüttelte sich.

„Und, hast du was gesehen? Wo warst du so lange?“, fragte er und lehnte sich schnaufend zurück, der Magen vor Kuchen aus allen Nähten platzend.

„Da waren komische Spuren in der feuchten Erde am Zaun. Ich denke, das war nur ein Tier, aber wir sollten die Augen offen halten.“

„Gut, machen wir.“

Samira schaltete den Fernseher ein, und zusammen sahen sie sich die Jerry-Springer Show an. Luke begann nach zwanzig Minuten, zu gähnen. Das fiel ihm nicht schwer; der Kuchen lag in seinem Magen wie ein Wackerstein und zuzusehen, wie sich irgendwelche Rednecks gegenseitig mit Wackelpudding bewarfen, war auch nicht so das Gelbe vom Ei. Samira bemerkte seine Schläfrigkeit mit Befriedigung.

Nach weiteren zehn Minuten schloss Luke die Augen und tat, als dämmere er langsam weg. Er hatte schon Übung darin, er öffnete die Augen wieder ein bisschen … Schloss sie wieder ... Murmelte etwas … und atmete in langen, tiefen Zügen, den Körper vollständig entspannt. Samira stand sofort vorsichtig auf und schlich die Treppe hoch. Oben ging sie ins Bad. Lukes Blutdruck stieg, als er hörte, dass sie nicht die Treppe wieder herunterkam, auch nicht ins Schlafzimmer ging … sondern weiter … zum abgeschlossenen Hexenzimmer! Ja, kein Zweifel, da drehte sich der Schlüssel langsam im Schloss und die Tür wurde fast geräuschlos geöffnet. Beinahe sofort hörte er den wütenden Schrei, und er kam nicht aus Samiras Kehle.

Luke sprang auf und rannte so schnell er konnte die Treppe rauf. Dass Samira ihn hören konnte, war ihm egal. Er bog um die Ecke und betrat keuchend das Hexenzimmer. Dort stand Samira und starrte auf den offenen Spiegel. Der schwarze Stoff lag als unordentlicher Ballen daneben, genau dort, wo Luke ihn achtlos hingeworfen hatte. Im Spiegel war Samira, aber sie bewegte sich nicht synchron mit der, die davor stand. Sie führte jetzt ein Eigenleben. Ihre Hand hob sich, ein spitzer Nagel wies anklagend auf ihn.

„ER!! ER WAR HIER!!! VERRAT! TÖTE IHN! ER HAT GESEEEEHN!“, kreischte sie schrill.

Samira starrte Luke eine Sekunde sprachlos an. Dann erfasste sie alles, seinen Verrat, seine Herumschnüffelei, sein Vorgeben, die Drogen zu nehmen, und sie sprang ihn mit einem ebenso schrillen Kreischen an wie ihr Spiegelbild. Luke war darauf nicht vorbereitet. Ihre langen Nägel krallten sich in sein Gesicht und ein Knie wurde in seinen Unterleib gerammt, aber da hatte Samira sich verrechnet, denn die von ihr selbst angemästeten Speckschwarten fingen das Schlimmste ab und er knickte nicht wie erhofft vor Schmerz zusammen.

Aber Samira war völlig außer Kontrolle. Sie schrie und kreischte, sie biss ihn in den Oberarm, sie kniff ihn und versuchte, einen Zeigefinger in sein Auge zu rammen. Luke wusste, wie stark sie für gewöhnlich war, aber heute war sie nicht in Form. Vielleicht wirkte das Mittel ja schon. Trotzdem verlor er unter diesem hasserfüllten Bombardement das Gleichgewicht und fiel hin. Sofort warf sie sich auf ihn, und ihr Spiegelbild feuerte sie kräftig an.

„Los, zeig dem Penner, was `ne Harke ist! Gib’s ihm! Mach ihn fertig!“ Das Spiegelbild hüpfte aufgeregt auf und ab wie bei einem besonders spannenden Boxkampf. Aber Luke hatte inzwischen ihre Arme zu fassen bekommen und hielt sie fest. Samira keuchte, Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht und ihre Kräfte erlahmten. Plötzlich sackte sie auf ihm zusammen, fast wie sie es im Bett immer tat, und fiel kraftlos zur Seite. Das Bralocolin hatte endlich gewirkt, und da Samira kaum halb so viel wog wie Luke und nicht an so hohe Dosen gewöhnt war wie er, war sie von einer Sekunde auf die andere völlig weggetreten und nicht nur schläfrig. Vielleicht reichte die Dosis sogar aus, sie endgültig aus dem Weg zu schaffen.

„Verdammte Kacke! Das kann doch nicht wahr sein!“, tobte die Samira im Spiegel, „steh wieder auf! Er entkommt dir noch!“

„So schnell nicht, du Hexe“, keuchte Luke, „erst mal werde ich mich hier umsehen. Die macht mir keinen Kummer mehr.“

„Was hast du getan“, fauchte die Spiegel-Samira, „wie hast du das gemacht?!“

„Ich habe ihr nur sprichwörtlich eine Dosis ihrer eigenen Medizin verabreicht“, lächelte Luke. Obwohl es ihn gruselte, trat er näher an den unheimlichen Spiegel heran. Samira starrte ihn böse an, konnte aber nichts tun.

„Wer oder was bist du“, flüsterte er.

„Na, ein Spiegelbild, du hirnloser Elch!“

„Das sehe ich auch! Aber wie kommt es, dass … dass du …“

„Dass ich ein Eigenleben habe?“

„Ja. Genau.“

„Wieso sollte ich dir das sagen?“

„Weil mir sieben Jahre Pech nichts ausmachen. Ich hatte schon viereinhalb Jahre unsägliches Pech. Und jetzt auch wieder. Komme doch glatt in ein Hexenhaus.“

„Das würdest du nicht wagen!!“

„Willst du es drauf ankommen lassen?“

Sie schwieg und warf einen nachdenklichen Blick auf die am Boden liegende Samira.

„Die wird so schnell nicht mehr munter. Du kannst dich ruhig mit mir unterhalten.“ Luke griff, um sie noch mehr zu reizen, nach einem der alten Bücher.

„Stell das sofort weg!“

„Was is’n das?“

„Eine Grimoire, du Idiot. Das sagt dir sowieso nichts, du dummes Stück Affenscheiße!“

„Ein so hübscher Mund … und dann kommen da solche Seemannsflüche raus. Zum Glück weiß ich, dass du auch andere Sachen damit machen kannst, und die gefallen mir sehr viel besser! Also, beantwortest du jetzt alle meine Fragen, oder soll ich schon mal ein Kehrblech holen?“

Die falsche Samira holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre grünen Augen bohrten sich voller Hass in Lukes, aber der wandte sich ab und blätterte in dem Buch. Die Seiten waren alt und bräunlich, die Tinte dunkelbraun. Aber Luke hatte in seinem Leben schon genug getrocknetes Blut gesehen, um es auch in einem alten Buch zu erkennen. Wieder schauderte es ihn.

„Was willst du wissen?“, knurrte Samira indes und warf einen schnellen Blick auf das Original, das noch immer bewusstlos am Boden lag.

„Was steht hier drinnen?“

„Beschwörungsformeln, Flüche, die Namen der Dämonen und ihre Rangordnung in der höllischen Hierarchie, die wahre Entstehung der Welt und alles über die menschlichen Schwächen und Sündhaftigkeiten. Jetzt bist du trotzdem nicht viel schlauer, was, du Hornochse?“ Sie warf den Kopf zurück und lachte verächtlich. Das Lachen brach aber sofort ab, als Luke nach einem der Schädel griff und ihn drohend hob.

„Schon gut“, rief sie hastig, „also, was willst du wissen?“

„Was kann man damit anfangen?“

„’Man’ kann damit gar nix anfangen“, ätzte sie ironisch, „nur Hexen können eine Grimoire richtig benutzen. Und du bist keine. Also vergiss es.“

„Wenn ich so eine Beschwörungsformel aufsage, passiert also überhaupt nichts?“

„Kommt drauf an“, entgegnete sie von oben herab. Aber Luke sah plötzliche Angst in den grellen grünen Augen aufflackern.

„Auf was?“, setzte er nach und hob wieder den Schädel. Sie wich im Spiegel zurück und wirkte wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.

„Ein paar von den Sprüchen funktionieren auch für Nicht-Eingeweihte“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Welche?“ Lukes Mund schien plötzlich trocken zu werden. Berge von Blei, von ihm in Gold verwandelt oder die Lottozahlen für die nächsten zehn Jahre tanzten Walzer in seinem Kopf.

„Nun ja … einer ist auf Seite vierunddreißig, aber ich will nicht, dass du … hör auf! Lass das!“ Sie tobte hilflos im Spiegel herum, als Luke achtlos die kostbaren Blätter mit seinen großen Pranken heftig umblätterte. Auf der Seite sah Luke ein kompliziert aussehendes Diagramm mit ineinander verschlungenen Dreiecken, Pfeilen und einem Viereck, das dreidimensional gezeichnet worden war. Einer der Pfeile wies in das Viereck hinein, ein anderer wieder heraus.

„Was ist das für ein Zauber?“, fragte Luke und holte mit dem Schädel aus, als wolle er den Spiegel zerschmettern.

„Nicht! Nein! Na gut … es ist ein Anziehungszauber für Geld!“ sprudelte Samira hervor und schützte instinktiv ihren Kopf mit beiden Armen.

„Lüg mich nicht an, du Fotze!“, brüllte Luke und schlug den Schädel mit Wucht auf den Rahmen. Samira schrie erschrocken auf und duckte sich. Die Spiegelfläche hielt, aber das ganze Ding zitterte bedrohlich.

„Nein! Bitte! Es stimmt!“

„Ich traue dir kein Stück“, knurrte Luke und griff sich einen zierlichen, antiken Stuhl, der vor einem Mahagonitischchen stand. Darauf lagen Stapel von Tarotkarten, eine Kristallkugel schimmerte im düsteren Licht des Dachfensters und ein Becher aus Ton mit bräunlichen Flecken darin stand in einer Ecke. Ein beidseitig geschliffenes Messer lag davor.

„Nein! Warte! Sie hat ihn selbst benutzt!“, schrie Samira hastig, als Luke den Stuhl hob, um den Spiegel endgültig zu zerstören.

Luke senkte ihn, aber nur ein wenig.

„Sie hat ihn benutzt? Beweise es!“

„Sie hat jeden Zauber, den sie einmal ausprobiert hat, in dem schwarzen kleinen Notizbuch vermerkt“, plapperte Samira hastig. Luke sah die Panik in ihrem Gesicht. Er stellte den Stuhl weg und fand nach Samiras Angaben das Büchlein in der Schublade des Schreibtischs. Er blätterte darin herum. Da, da war tatsächlich eine Aufstellung: Grimoire, Seite vierunddreißig, Diagramm nachgezeichnet und Spruch gesagt. Funktioniert einwandfrei.

„Hm … muss ich auch was zeichnen?“, brummte Luke, der ungern malte.

„Nein … man muss es nur ein einziges Mal zeichnen. Mit Blut.“

Luke beschloss, das Wagnis einzugehen. Samira hatte es ja auch getan und lebte noch. Auch wenn sie jetzt nicht unbedingt danach aussah.

Er straffte sich und sagte die Worte laut und feierlich: „Teg attuo eht ydoolb rorrim, ouy tuls!“

Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Ein schrilles Kichern erklang aus dem Spiegel, und Samira stieg einfach aus ihm heraus, als wäre es ein Aufzug, der in der Unterwäscheabteilung angehalten hatte. Luke starrte sie sprachlos an. Seine Knie drohten zu versagen. Das alte Buch entfiel seinen Händen, und das ermöglichte ihm die Flucht, denn Samira Schrei des Triumphes verwandelte sich in einen des Schreckens, und sie rannte zu dem geschundenen Buch herüber und hob es so zärtlich auf, als wäre es ein fallengelassener Säugling. Luke witterte seine Chance und wankte so schnell er konnte zur Tür hinaus, wobei er der bewusstlosen Samira auswich. Er fiel mehr die Treppen herunter, als dass er ging. Hinter ihm fuhr Samira zischend herum und legte das Buch vorsichtig auf den Tisch, dann rannte sie hinter Luke her. In ihrem Eifer und wegen der Dämmerung im Zimmer übersah sie jedoch die echte Samira und stolperte über ihren schlaffen Körper. Sie fiel ungeschickt der Länge nach hin, stand fluchend wieder auf und versetzte ihrem Original einen wütenden Fußtritt. Dann setzte sie Luke nach, der schon zur Haustür hinaus war und schnaufend und mit wabbelnden Fettwülsten zur Straße lief.

Die Hungrige Hexe

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