Читать книгу Die Hungrige Hexe - Cecille Ravencraft - Страница 8

Auf der Flucht

Оглавление

8

Luke verfluchte sich. Wie konnte man nur auf so was hereinfallen! Jetzt hatte er schon wieder eine Hexe am Hals! Aber wer konnte auch ahnen, dass sie so einfach aus dem Spiegel steigen würde? Samira musste sie dorthinein verbannt haben oder so etwas in der Art. Luke wusste nichts über Magie, sonst hätte Samira ihm sagen können, dass sie einfach ihr normales Spiegelbild zum Leben erweckt hatte, ihr Anti-Ich, das körperlich und geistig wie sie selbst war, aber keine Seele besaß. Allerdings konnte sie in der Anti-Dimension, der Welt hinter dem Spiegel, sehr nützliche Dinge tun und unter anderem die Zukunft vorhersagen. Es war einfacher, einen magischen Spiegel dieser Art zu haben, als einen niederen Dämonen zu beschwören, der die Dreckarbeit verrichten, aber auch immer unter Kontrolle gehalten werden musste. Denn jeder Dämon war darauf aus, seine Fesseln zu lösen und den zu töten, der ihn beschworen hatte. Das Spiegelbild war loyal. Denn ohne sein Original hörte es sofort auf, zu existieren. Samiras Hatz nach Luke war reiner Selbsterhaltungstrieb.

Das Spiegelbild riss den Autoschlüssel vom Bord an der Haustür und rannte zu dem kleinen Sportwagen. Sie holte noch schnell etwas aus dem Kofferraum, sprang ins Auto, ließ es an, und raste davon. Wo war der Kerl hin? Weit konnte er mit seiner Wampe noch nicht gekommen sein. Samiras Kopf ruckte wild nach rechts und nach links, das lange Haar flog. Da! Da keuchte er die Straße entlang. Das Spiegelbild lachte: Den hätte sie auch zu Fuß einholen können!

Luke quiekte unglücklich wie ein Schwein, das den Metzger kommen sieht, als der elegante Sportwagen auf ihn zugeschossen kam. Da war das Spiegelbild, und er bemerkte resigniert, dass es auf jeden Fall das gespiegelte Ebenbild war. Denn Samira war Linkshänderin. Aber die Hand, mit der sie jetzt das Betäubungsgewehr auf ihn richtete, war die Rechte. Wie interessant.

Er erwartete den Knall und den Stich im Oberschenkel oder Po, als es plötzlich Plopp! machte und Samira verschwand. Das Betäubungsgewehr fiel auf den Beifahrersitz. Luke starrte dümmlich durch das geöffnete Fenster ins Innere. Das Spiegelbild war verschwunden! Vielleicht hatte er ja den Spruch falsch gesagt?

„Ist ja auch egal“, knurrte er. „Nichts wie weg hier!“ Er stieg mühsam in den kleinen, niedrigen Wagen und fuhr geduckt davon. Bequem war es nicht, aber wenigstens hatte er jetzt einen fahrbaren Untersatz. Er würde in die Stadt zurückfahren, direkt zu seinem Bewährungshelfer. Bestimmt kam er wieder in den Knast, weil er sich dort seit Monaten nicht hatte sehen lassen, aber besser lebendig im Gefängnis sitzen, als weiter bei dieser Hexe unter Drogen gesetzt werden, die wer weiß was mit ihm vorhatte!

„Doktor Roberts hat das mit deinem Bewährungshelfer schon geregelt, Luke“, hatte sie geflötet, „alles kein Problem! Er ist froh, dass du beim Programm mitmachen willst. Doktor Roberts wird mit dir hinfahren, wenn er kommt.“ Ja, und der Mond war aus grünem Stinkekäse!

Luke gab Gas. Er hatte keine Ahnung, wo er hier war. Es standen nirgendwo Schilder und rechts und links gab es nur Wald. Aber im Moment war es egal. Weg, nur weit weg. Da kam er an eine Weggabelung, und endlich, nach fast einer halben Stunde Fahrt, sah er ein Schild. Na endlich!

Ryan’s Field stand auf einem Schild mit einem Pfeil nach links darauf. Da fuhr Samira doch immer zum Einkaufen hin! Luke witterte eine Polizeistation, ein sicheres Gefängnis, bevor man ihn zurückverfrachtete, vielleicht hörte ihm sein Bewährungshelfer auch zu und veranlasste eine Durchsuchung von Samiras Haus. Das schwarze Zimmer sprach Bände, und die versteckten Drogen würden seine Geschichte bestätigen. Vielleicht musste er dann nicht mal zurück in den Knast. Auf jeden Fall gab es dort ein Telefon. Luke bog nach links ab und gab wieder Gas.

Er weinte beinahe vor Erleichterung, als er in den kleinen Ort fuhr und mitten in der Stadt anhielt. Menschen, die rechts und links auf den Bürgersteigen spazierten, blieben stehen und starrten ihn an. Luke stieg ächzend aus dem Wagen und verrenkte sich dabei beinahe die Hüfte. Verdammt, wie war er vor drei Monaten nur in das winzige Gefährt hineingekommen?

Er eilte auf eine Frau zu, die ein schwarzes Trägerkleid und eine weiße Bluse darunter trug. Sie sah ihn gebieterisch und kalt an. Noch bevor er nur in ihrer Nähe war, stellte sich eine andere Frau mutig davor, obwohl sie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Sie trug ein Sommerkleid, aber in Grau. Auch der Junge trug eine graue Hose und ein weißes T-Shirt.

„Was wollen Sie“, verlangte die Frau im grauen Kleid zu wissen. Luke bemerkte verwirrt, dass alle Menschen auf den Bürgersteigen angehalten hatten. Auch aus den kleinen Läden kamen Frauen und Männer, und auch aus dem nur mittelgroßen Supermarkt strömten sie heraus. Alle trugen entweder graue oder schwarze Kleidung mit etwas Weißem kombiniert. Die in Grau traten jedoch sofort respektvoll beiseite, wenn jemand in Schwarz in ihre Nähe kam.

„Ich brauche ein Telefon. Oder am besten Sie sagen mir, wie ich zur Polizei komme.“

„Polizei?“ Die Frau öffnete den Mund zu einem abscheulichen Barrakuda-Lächeln, das Luke fatal an Samira erinnerte.

„Ja, die Polizei. Ich wurde als Geisel gehalten. In einem Haus hier ganz in der Nähe.“ Luke wunderte sich, als die Leute um ihn herum plötzlich beinahe unisono ein erleichtertes Seufzen ausstießen und sich entspannten. Manche lächelten ihn sogar an. Die Frau in Schwarz schob die schützend vor ihr stehende energisch beiseite. Sofort verneigte sich die in Grau – und ihr kleiner Sohn tat es ihr sofort nach – und gab den Weg frei.

Luke sah die Frau in Schwarz an. Auch die lächelte, kalt und herzlos. Sie war blond und völlig unscheinbar, sie benutzte nicht mal Make-up und trug das Haar in einem schlichten, unmodernen und strengen Knoten. Er ließ sie aussehen wie vierzig, aber sie schien eher Mitte zwanzig zu sein.

„Ich bin Sandra Sun ... Hart. Mein Großvater ist der … der Bürgermeister dieser Stadt. Ich kenne dieses Auto. Was sagten Sie gerade, Sie wurden als Geisel gehalten?“

Luke schluckte. Ihm schien es, als sei er vom Regen in die Traufe geraten. Sandra wechselte ihren altmodischen Flechtkorb mit den Einkäufen in die andere Hand. Das Trägerkleid erinnerte von der Strenge und dem hochgeschlossenen Kragen an die Kleidung einer Amish-Frau, aber die Kälte und der gebieterische Blick wollten so überhaupt nicht dazu passen. Irgendetwas war hier merkwürdig. Aber es umstanden ihn mindestens fünfzig Leute, und die in Grau waren während des Gesprächs zwischen ihm und Sandra unauffällig näher gekommen. Er konnte nirgendwohin flüchten. Vor Samiras Auto lauerten mindestens zehn Männer in grauen Hosen.

„Äh, ja, wurde ich“, stammelte Luke nun nervös und warf ängstliche Blicke nach rechts und links. Er hatte so etwas mal in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen: Immer, wenn er nicht hinsah, rückten diese Leute anscheinend näher, ohne dass er die Bewegung irgendwie wahrgenommen hätte.

„Dann sollten wir meinen Großvater sofort benachrichtigen.“ Sandra tat etwas, das so lächerlich schien, dass Luke beinahe laut losgelacht hätte: Sie zog ein hochmodernes Handy aus der Tasche ihres Kleides, das man nach einem Muster von anno dunnemals zusammengeschneidert hatte.

„Das wird nicht nötig sein. Ich kenne ihn.“ Alle wandten sich um, als die Stimme ertönte. Luke wurde beinahe übel vor Erleichterung, dann aber fiel ihm das unheimliche Gespräch zwischen Samira und dem jungen Mann, der sich jetzt durch die Menge schob, wieder ein: William. Sandras Augen leuchteten auf und ihre Wangen röteten sich.

„William! Oh, du kennst ihn also …?“

„Ja, ich habe ihn bei Samira getroffen.“ Ein Murmeln ging durch die Menge.

Sandra kicherte. „Dann ist er der Erste, der ihr entkommen ist! Das wird ihr ja gar nicht gefallen!“ Alle um sie herum brachen in schallendes, hämisches Gelächter aus. Luke spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hätte einfach weiterfahren sollen. Jetzt saß er tief in der Scheiße. Die Menschen verfolgten jede seiner Bewegungen und der Ring um ihn herum war beinahe undurchdringlich geworden. Gierige Blicke trafen ihn, die er nicht verstand. Aber die Augen entbehrten zwei Dinge völlig: Mitgefühl und geistige Gesundheit. Sogar bei den Kindern. Ihn schauderte es heftig.

„Wir sollten ihn zu ihr zurückbringen“, schlug William nun vor, „ich habe einen Deal mit Samira gemacht, der deinem Großvater gefallen dürfte.“

„Oh, wirklich? In dem Fall …“ Sandra strahlte ihn an. Unter den Schwarzgewandeten erhob sich unzufriedenes Gemurmel. Scheinbar fanden sie es nicht gut, dass Sandra so offensichtlich in William verliebt war.

William wandte sich um und kam wenig später mit einem klappernden Kastenwagen zurück. Er lehnte sich aus dem Fenster und sah Luke an. „Einsteigen“, befahl er kalt. Luke sah die anderen an. Die kamen drohend noch einen Schritt auf ihn zu. Er konnte schon die Wärme ihrer Körper fühlen und sah, wie sie die Zähne fletschten wie Raubtiere.

Luke kletterte auf die Ladefläche und beschloss, gleich nach der Stadt abzuspringen. Selbst wenn er sich dabei ein Bein brach, was machte das schon? Sein Herz sank ihm in die Schuhe, als hinter ihm fünfzehn graugewandete Männer aufstiegen. Einer von ihnen rief etwas zu einem der Ladenbesitzer herüber, woraufhin der in seinen Verkaufsraum stürzte und wenig später mit einem Seil zurückkam. Sie fesselten Luke die Arme auf den Rücken. Dann zogen sie das Seil noch durch ein paar Ösen, die sonst der Befestigung der Ladung dienten, und banden ihn dicht am Boden fest. Sie gingen kein Risiko ein.

Die Karre setzte sich schaukelnd in Bewegung. Hinter ihnen stieg eine der Frauen in Schwarz in Samiras Auto und fuhr hinterher.

Zwanzig Minuten später, in denen die Männer um Luke herum fröhlich gelacht und geschwatzt hatten, bog der Konvoi in Samiras Einfahrt ab. Luke wurde hoch gezerrt und von der Ladefläche gestoßen. Unsanft fiel er in Samiras Rosenbeet und die Dornen stachen ihm schmerzhaft ins Gesicht und zerfetzten sein Hemd.

Zwei Graue rissen ihn wieder hoch und schubsten ihn zurück in das Hexenhaus, das so nett aussah, aber so ein grässliches Geheimnis barg.

„Hey, Samira!“, rief William. Bald darauf hörte man schwankende, unsichere Schritte auf der Treppe. Samira kam herunter und hielt sich mit einer Hand krampfhaft am Geländer fest, mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Sie war sehr bleich und hatte dunkle Ringe unter den trüben, halb geschlossenen Augen. Sie stöhnte. Als sie Luke sah, funkelten Wut, Erleichterung und Triumph in ihrem Blick.

„Ah! Da ist er ja!“ Mühsam beschleunigte sie, und als sie endlich unten angekommen war, versetzte sie dem aus winzigen Dornenwunden blutenden Luke eine schallende Ohrfeige. Die Männer lachten.

„Er lief uns direkt in die Arme. Ich hoffe, dass du uns deine Unterstützung zukommen lassen wirst bei der Suche nach Chris …?“

Wütend sah Samira William an, aber der hatte unerbittlich die Arme verschränkt. „Wenn wir ihn dir nicht wiedergebracht hätten, wären jetzt die Cops hier. Er war schon fast auf dem Weg nach Meddington. Das wäre dein Ende gewesen.“

„Wenn ich meine Schwestern verrate, ist das erst recht mein Ende“, keifte sie zurück, aber mit wenig Überzeugung. Sie wusste, sie schuldete den Graugewandeten viel.

„Du musst uns ja nicht direkt zu ihm bringen … aber ich weiß, ein paar von uns sind zu ihm geflohen, ein paar Abtrünnige. Sind sie bei ihm aufgenommen worden? Mehr muss ich gar nicht wissen.“

Samira senkte den Blick. „Ja“, gestand sie schließlich. Alle entspannten sich.

„Gut. Hier hast du dein kleines Mastschweinchen. Amüsiere dich noch gut mit ihm im Bett. Oink, oink!“

Samira errötete, als alle angewidert verächtliche Grimassen schnitten und sich zum Gehen wandten.

„Halt! Ich bin noch nicht so ganz auf der Höhe. Bringt ihn mir bitte noch in den Garten.“ William nahm achselzuckend den Strick und zerrte Luke zur Verandatür hinaus den gewundenen Kiesweg entlang. Samira folgte ihnen.

„Wie hat er dich denn erledigt?“, frage William abschätzig. Samira errötete noch mehr.

„Er hat mir irgendwie sein Bralocolin verabreicht.“

„Seine Dosis??“

„Ja.“

„Dann hast du Glück, dass du noch lebst.“

Samira schwieg.

Luke stolperte hinter William her durch den herrlichen Garten, den er immer so bewundert hatte. Für die bunten Blumen und hübschen kleinen japanischen Kirschbäumchen hatte er keinen Blick mehr. Es war aus. Zumindest würde er endlich mal in den Pavillon kommen, denn genau darauf steuerten sie zu. Samira hatte ihm nie erlaubt, dorthin zu gehen.

Der Pavillon schien nichts Besonderes zu sein. Einfach weiß, mit einer Kuppel, in der eine runde Öffnung freigelassen worden war. Es gab komischerweise keine Sitzgelegenheiten, keine Bänke, Stühle oder Tische. Der Boden war gefliest. Luke wunderte sich. Warum hatte er hier nie hin gedurft?

Das Rätsel löste sich schneller als gedacht: William band Luke an einem der Pfosten an wie ein Stück Vieh, dann bückte er sich und rollte den Fliesenboden einfach auf wie einen Teppich. Luke staunte. Die Fliesen sahen ziemlich echt aus, waren aber nur einfacher PVC Bodenbelag.

Darunter kam festgestampfte Erde zum Vorschein. Und ein fünfzackiger Stern, den man in den Boden hineingeritzt hatte. Eher gegraben als geritzt, dachte Luke, denn die Linien waren mindestens zehn Zentimeter tief und so breit wie sein Oberarm.

Es überraschte ihn nicht mehr sonderlich, dass der Stern an den Zacken einbetonierte Ösen aufwies, an denen dünne, aber sehr stark aussehende Ketten mit Handschellen befestigt worden waren. Der Stern war so groß, dass ein ausgewachsener Mann genau hineinpasste, wenn er mit ausgestreckten Armen und Beinen dort angekettet lag.

Luke zerrte verzweifelt an dem Seil. Er wusste zwar nicht ganz genau, was Samira mit ihm vorhatte, aber er konnte es sich denken.

William sah sich Lukes Kampf mit seinen Fesseln kurz an, dann zog er einen Elektroschocker aus seiner Hosentasche und schoss Luke ohne mit der Wimper zu zucken Tausende von Volt durch den Körper.

Luke krümmte sich, Schmerzen jagten durch ihn und er fiel zu Boden. Er konnte sich nicht wehren und musste hilflos dulden, dass Samira und William ihn rasch und geschickt in das Pentagramm zogen und an die Ketten fesselten. Das Pentagramm war so sorgfältig gemacht worden, dass auch Lukes in die Mitte geschleifter Körper es nicht zerstörte.

Er erholte sich nur langsam von der Attacke mit dem Elektroschocker. Er hob einen Arm und zog an der Kette; irgendein Stahl, der eine Menge aushielt. Man hätte wohl auch ein Kreuzfahrtschiff damit am Kai festmachen können.

Luke und Samira standen indes ein paar Meter weiter und unterhielten sich. Eine Machtverschiebung war erkennbar, William wirkte jetzt entschieden weniger ehrerbietig, und Samira schämte sich offenbar ganz furchtbar.

„Hey!“, brüllte Luke nun, „komm zurück, Samira! Heeeey! Du willst mich doch hier nicht liegen lassen, oder?“

Samira ignorierte ihn und redete noch eine Weile mit William. Dann nickte sie ergeben und William wandte sich zum Gehen. Eine Frau in Schwarz kam und gab Samira mit einem abschätzigen Lachen den Wagenschlüssel. Dann warf sie einen angewiderten Blick auf den strampelnden Luke und schüttelte den Kopf.

„Wie kann man nur mit so was das Bett teilen? Abscheulich!“

„Er war sehr viel trainierter, als er zu mir k- “

„Das meine ich nicht! Er ist so … so erbärmlich. Die Außenseiter taugen wahrlich nur für die eine Sache, und damit meine ich nicht diesen ekelhaften Sex! Lass ab von deinem Tun, Samira, und werde eine von uns! Als Verabscheute kannst du ein gutes Leben haben in Ryan’s Field, vielleicht darfst du sogar in Sharpurbie wohnen!“

Samiras Gesicht nahm einen spöttischen Ausdruck an. Sie nahm der älteren Frau den Autoschlüssel ab und stopfte ihn in ihre Hosentasche.

„Ich bin und bleibe eine Hexe, Lydia. Ich danke dir … Unsere Welten unterscheiden sich, aber trotzdem haben wir genug gemeinsam, um nebeneinander existieren zu können.“

Lydia nickte. „Wir sehen uns beim großen Barbecue.“

„Bis dann, Lydia.“

Luke brach in Gelächter aus. Friedliche Koexistenz von Hexen und … ja, wovon noch? ‚Verschiedene Welten, trotzdem Gemeinsamkeiten’ … was war das, eine Ansprache vor den Vereinten Nationen? Es war einfach zu bizarr.

„Was gibt’s da zu feixen, du Schwachkopf?“ Samira war unbemerkt näher gekommen und trat ihm wütend in die fleischige Wade. Sie mochte es gar nicht, wenn man sich über sie lustig machte.

„Was hast du jetzt mit mir vor, Samira?“ Luke ging auf ihre Frage nicht ein. Sie würde ihn ja doch nicht verstehen. Sie und er waren es, die in unterschiedlichen Welten lebten. Nur Gemeinsamkeiten hatten sie nicht viele. Eigentlich nur im Bett, aber das war ja nun auch vorbei. Selbst wenn sie jetzt um der alten Zeiten willen noch mal aufgestiegen wäre, das Rodeo wäre ausgefallen. Schon der Gedanke ließ Luke noch mehr einschrumpfen.

„Jetzt habe ich gar nichts mit dir vor, Luke. Du hast Glück und Pech zugleich.“ Luke musste schon wieder lachen.

„Ach ja“, kicherte er, „wieso Glück? Das musst du mir erklären. Das mit dem Pech, das spar dir ruhig. Ist mir schon klar, inwiefern ich Pech habe.“

„Das glaube ich nicht“, grinste sie. Es war das kälteste, fieseste Grinsen, das Luke je gesehen hatte. Selbst im Gefängnis, als Pedro einem Neuling befahl, die Seife aufzuheben, hatte der nicht dermaßen gemein gegrinst.

„Okay, dann erklär mir mein Glück.“ Kraftlos ließ Luke den Kopf sinken und starrte durch die Öffnung im Dach in den herrlichen blauen Himmel. Er war nun unerreichbar für ihn. Nie wieder, wurde ihm klar, würde er den blauen Himmel wiedersehen. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel im Wald, die bunten Blumen und die surrenden Bienen, all das war nah und trotzdem unerreichbar. Und so endlich.

Und weit weg, irgendwo im Wald. Luke ging erst jetzt auf, dass er hier noch nie einen Vogel gesehen oder gehört hatte. Das Gleiche galt für Insekten oder überhaupt irgendwelche Tiere. Sie mieden diesen wunderschönen Garten. Und das Haus. Samira hatte keine Fliegentür, trotzdem war keine Mücke, keine Fliege, kein Käfer je ins Haus eingedrungen. Und er, Dummkopf, der er war, hatte sich nichts dabei gedacht.

„Dein Glück ist, dass du nur bis morgen warten musst. Und das ist wiederum Teil deines Pechs: Es ist erst morgen Vollmond. Also musst du noch warten.“

„Wieso ist das wichtig?“

„Man erntet, wenn der Mond voll ist und die Säfte hochsteigen.“

„Was willst du denn ernten?“

Sie kam näher, die schlanken Beine in den engen schwarzen Jeans schienen bis an die Decke zu reichen. Sie sah beinahe zärtlich auf ihn herab.

„Weißt du das wirklich nicht, Luke?“

Er wandte den Blick ab. Selbst am Anfang, in innigster Umarmung, hatte sie ihn nicht so angesehen wie jetzt. Und ihm dämmerte, dass sie ihn während der „Ernte“ sogar noch liebevoller ansehen würde.

„Doch“, flüsterte er und eine Träne rann an seiner Wange herunter, „ich glaube schon.“

Sie nickte langsam und wandte sich ab.

„Halt!“, rief Luke, „warte!“ Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Er schauderte. Ihr Blick war geistesabwesend. Sie war wohl in Gedanken schon bei ganz anderen Sachen, von denen er lieber nichts wissen wollte.

„Was ist denn noch?“

„Warum ist dein Spiegelbild plötzlich verschwunden?“

Sie stutzte kurz, dann lachte sie kurz und humorlos. „Ach, das! Tja, mein Spiegelbild konnte nur so lange in dieser Dimension existieren, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Als ich wieder zu mir kam, musste sie zwangsläufig in den Spiegel zurück. Hat die geflucht! Geschimpft wie ein Rohrspatz! Du hättest sie hören sollen.“

„Ach so. Dann war es ja mein Glück, dass du wieder wach geworden bist.“

„Ja, Luke. Wieder Glück und Pech. Dein Glück, dass ich wieder wach wurde. Dein Pech, nach Ryan’s Field zu fahren. Dein Pech, dass du damals in meinen Wagen gestiegen bist. Dein Glück, dass du vor deinem Tod noch so viel Spaß haben durftest. Du siehst, Glück und Pech liegen nah beieinander.“

Luke brach in Tränen aus. Dass sie so beiläufig über seinen Tod sprach, machte ihm unmissverständlich klar, dass er tatsächlich bald sterben würde.

„Weine nicht, Luke. Vielleicht, wenn ich gute Laune habe, werde ich dafür sorgen, dass es für dich weitergeht. Es geht immer irgendwie weiter. Wer weiß, vielleicht hast du deine Schuld jetzt abgebüßt und darfst in diesen lächerlichen christlichen Himmel. Obwohl ich glaube, auch dein schrecklich qualvoller Tod wird dir keinen Zugang gewähren. Die wollen da oben keinen, der zwei siebzehnjährige Mädchen über Stunden vergewaltigt hat. Die wollen nur Heilige haben, Schafe, die nie gelebt und nie Spaß gehabt haben. Es muss schrecklich leer da oben sein. Sei froh, wenn du zur Hölle fährst, da unten ist ordentlich was los! Du wirst Menschen aus allen Schichten treffen. Ärzte, viele, viele Anwälte und Richter, also Leute aus den besten Familien. Hier würden die dich nicht mal mit dem Arsch angucken, aber dort unten hast du Zugang zu den höchsten Kreisen. Es wird dir gefallen!“

„Du verdammte Schlampe“, schluchzte Luke besiegt. Das höhnische Lächeln auf Samiras Gesicht vertiefte sich. Dann wurde sie ernst.

„Nein, wirklich Luke, wenn du dich beträgst und nicht die ganze Nacht um Hilfe brüllst, dann sorge ich dafür, dass du da vorerst noch nicht hin musst. Ich brauche meinen Schlaf, und es hört dich ohnehin niemand.“

„Wieso sollte ich die ganze Nacht brüllen“, fragte Luke erschöpft. Ein fürchterlicher Kopfschmerz breitete sich in seiner Stirn aus.

„Das tun sie immer. Alle.“ meinte Samira schlicht. Luke schluckte.

Immer. Alle. Sie tat es tatsächlich regelmäßig. Der Boden im Garten war mit den Gebeinen seiner Vorgänger gedüngt. Aus ihnen wuchsen Blumen, Kräuter, Gemüse.

„Überleg es dir, Luke. Für dich gibt es zwei Pfade, nachdem alles vorbei ist: Einer führt steil nach unten in eine Welt, in der sich keiner Gedanken macht, ob zu viel Heizen dem Klima schadet, und einer führt direkt zurück in ein neues Leben. Du bist der Einzige, dem ich das je angeboten habe.“

„Warum?“, krächzte Luke.

„Weil ich dich irgendwie mag. Und aus Respekt. Noch keiner hat es geschafft, mir zu entkommen. Das war mutig. Und gerissen, wie eine räudige, alte Ratte.“

„Dann lass mich doch am Leben“, bettelte Luke.

„Falsche Antwort.“ Ihre Stimme war jetzt kalt wie Eis. Sie wandte sich wieder ab.

„Entschuldige! Okay! Ich werde brav sein“, quiekte er hastig. Samira sah ihn zwar nicht an, nickte aber leicht.

„Bis morgen, Luke.“ Sie ging. Und ließ ihn allein.

Die Nacht war das Gruseligste, das Luke je erlebt hatte. Dass er irgendwie weiterleben durfte, flößte ihm wieder etwas Hoffnung ein, aber trotzdem hatte er vor dem, was ihm wohl bevorstand, schreckliche Angst. Sein Herz stolperte in der Brust und Luke hoffte beinahe, dass es einfach stehen bleiben würde. Dass es Himmel und Hölle gab, stand jetzt absolut fest. Denn Samira und ihr teuflisches Spiegelbild waren eindeutig Wesen aus der Hölle. Dann gab es auch einen Himmel, einen Gott und somit Gnade. Luke betete, Speichel lief ihm aus dem Mund, er stotterte sich durch das Vaterunser und den Rosenkranz, aber das war so lange her, dass er lange Pausen brauchte, um es einigermaßen richtig zu machen. Einst war er Messdiener gewesen, hatte das alles aber schnell für Mist gehalten. Jetzt flehte er die himmlischen Mächte um Erbarmen an, fragte sich aber auch resigniert, ob sie ihm denn überhaupt Gehör schenken würden, wo er doch einen Deal mit der Hexe hatte.

Um ihn herum war es Nacht geworden. Die Geschöpfe des Tages mochten Samiras Haus und Garten meiden, die der Nacht suchten ihre Nähe. Eulen schuhuten um ihn herum, es raschelte überall und irgendwo in nicht allzu großer Ferne heulte ein Wolf. Es war eiskalt geworden und Luke fror erbärmlich. Die Arme, vor allem die Schultern, schmerzten wegen der unnatürlichen und unbequemen Haltung, die die Ketten ihm aufzwangen. Jetzt wusste er, was sie mit Pech meinte, dass Pech, bis morgen warten zu müssen: ständig schlimmer werdenden Schmerzen, die Kälte und die schreckliche Verzweiflung, die wuchs und wuchs. Er weinte viel, betete, und zerrte ab und zu ohne große Hoffnung an den Ketten. Die Nacht wollte und wollte nicht enden.

Endlich stieg die Sonne auf, und Luke sah mit tränenden Augen zu, wie sich der Himmel langsam rötlich färbte. Sein letzter Sonnenaufgang. Und er konnte ihn hier im Pavillon nicht einmal richtig sehen. Die letzte große Verarsche.

Der Tag verging zäh, aber er fror nicht mehr so schrecklich und es war wenigstens hell. Irgendwann vormittags kam Samira zu ihm und wusch ihn von oben bis unten ab. Sie hatte einen Eimer mit einer duftenden Kräuterseife dabei, sie schrubbte gründlich und achtete nicht auf seine Schmerzenslaute, wenn der raue Schwamm seine Haut aufscheuerte. Dann rasierte sie ihn. Luke hielt zwar still, aber sie nahm auch hier keine große Rücksicht und grämte sich nicht, wenn die Klinge ihm die Haut zerschnitt. Sie rasierte wirklich alles und lachte, als er eine mächtige Erektion bekam. Luke errötete. Er fühlte sich zutiefst gedemütigt, ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als sie auch Tiefen auslotete, die keine Rasierklinge je zu Gesicht bekommen sollte.

„Du fühlst dich beinahe vergewaltigt, was, mein Schatz?“

„Ja“, stieß Luke zähneknirschend hervor.

„Dann denk dabei an das Mädchen, das du geschändet hast.“

„Was bist du jetzt, ein Moralapostel? Gerade du?“

„Nein, ach wo. Aber ich will, dass du leidest. Je stärker du leidest, desto besser ist das für mich. Leidest du, Luki-Maus?“

„Du verdammtes Dreckstück! Scher dich zum- AH!“ Sie hatte die Klinge in die empfindlichste Stelle mit der dünnsten Haut gedrückt, dort, wo die Sonne niemals schien.

„Vorsicht. Schon Konfuzius sagt: Beleidige niemals eine Hexe, die gerade deinen Arsch rasiert.“

Luke schloss schmerzgepeinigt die Augen. Auch seine Handgelenke pochten vom Gezerre an den Handschellen.

Samira sah es und lächelte. „Mach dir um deine Handgelenke keine Sorgen, wenn ich mit dir fertig bin, werden sie bis auf den Knochen durchgescheuert sein.“

Luke stöhnte. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Samira spritzte ihn von oben bis unten mit dem Gartenschlauch ab, um die Härchen zu entfernen, zog sich die Latexhandschuhe aus, die sie vorher angezogen hatte, damit sie den, mit dem sie einst das Bett geteilt hatte, nicht zu berühren brauchte, nahm den Eimer und ging einfach weg. Wieder begann das Warten.

Es war schon dunkel geworden, als Samira zurückkehrte. Luke war nur halb bei Bewusstsein gewesen, aber nun war er sofort hellwach, als sie ihn in die Seite trat. Er bedauerte, den Mund geöffnet und gierig Wasser gesoffen zu haben, als sie ihn abspülte, denn hätte er das unterlassen, wäre er jetzt vielleicht wegen Dehydrierung völlig weggetreten gewesen und hätte nichts mehr mitbekommen.

Er staunte. Sie hatte unzählige schwarze Kerzen rundum verteilt. Der ganze Pavillon leuchtete in einem düsteren Licht. Samira stand neben ihm am Fußende. Sie sah so schön aus, dass ihn wieder Begehren durchfuhr, wenn auch mit einem sauren Beigeschmack. Sie hatte sich gebadet und geschminkt. Das Haar floss ihr lang und glänzend den Rücken herunter. Sie trug die lange, weite schwarze Robe aus dem Kleiderschrank. Die roten Stickereien leuchteten, als würden sie von verborgenen Scheinwerfern angestrahlt.

Sie hob den Kopf und sah an die Decke. Luke folgte ihrem Blick und erschrak so sehr, dass er einen kleinen Schrei ausstieß: Dort an der Decke prangte ein Teufelsgesicht, der Kopf eines Ziegenbocks mit bösen Augen, die direkt in seine starrten. Das Gesicht leuchtete bläulich, wie Leuchtfarbe. Zwischen den hasserfüllten Augen war die Öffnung in der Decke, durch die der Vollmond auf Luke herunter schien.

„Hübsch, nicht wahr? Man braucht nur ein paar Chemikalien und Schwarzlicht dazu. Und Blut. Die Leuchtröhren sind in den Fußleisten verborgen … ach, sieh mich an, da stehe ich hier herum und schwatze, dabei ist es höchste Zeit.“

„Was … was wirst du mit mir machen?“

„Leider kann ich dir das nicht in allen Details sagen, aber wenn du dir meinen Werkzeugkasten mit den Zangen, Scheren, Nadeln und die Kettensäge ansiehst, und ich dir noch einen Tipp gebe, kommst du bestimmt darauf.“

„Tipp …?“

„Nun ja …“ Samira beugte sich zu Luke herunter und flüsterte ihm gutgelaunt ins Ohr: „Du hast den Grill doch selbst verputzt! Und das hast du gemacht, damit ich dich verputzen kann.“ Sie stellte sich wieder gerade hin und brach in ein schrilles Lachen aus. Luke schrie. Er konnte nicht mehr anders.

Nach einer Weile war er heiser und verstummte mit einem Wimmern. Er sah, wie Samira etwas in seinen Sichtkreis zerrte: den Spiegel aus dem schwarzen Zimmer.

Das Spiegelbild lachte hämisch los. Aber unbändige Wut lag in ihrem Blick

„So, das hattest du dir so gedacht, was? Einfach abhauen? Blöder Idiot! Uns geht keiner durch die Lappen! Allein für den Versuch wirst du noch mehr unerträgliche Qualen leiden! Penner! Wichser!“, keifte die andere Samira.

„Scheiße“, stöhnte Luke und ließ den Kopf wieder sinken. Jetzt waren auch noch zwei von der Sorte da. Sogar eine schwarze Robe trug das Spiegelbild, und hinter ihr flackerten Kerzen, die sie in oder auf einige ihrer Totenschädel gesteckt hatte. Bald, befürchtete Luke, würde ihre Sammlung um ein Prachtstück reicher sein.

So langsam beschlich ihn das Gefühl, dass es den VWKG gar nicht gab.

„Still“, befahl Samira ihrem Spiegelbild mild. Ihre Hilfe bei der Verfolgung wurde nun dadurch belohnt, dass sie bei der Opferung zusehen durfte. Samira öffnete den Werkzeugkasten. Luke begann zu schwitzen.

Es dauerte lange und war entsetzlich. Selbst ein hartgesottener Horrorfilm Fanatiker hätte sich im Strahl übergeben. Sogar die Bäume schienen unter den qualvollen Schreien zu erzittern. Die Samira im Spiegel amüsierte sich prächtig.

„Nochmal! Nochmal das mit der Schere! Ja! Und jetzt die Zange! Nein, nicht die, die Rotglühende! Nicht da! Da, wo’s richtig wehtut! Ja, genau da! Stech noch `ne Nadel da rein! Prima!“

Erst im Morgengrauen hatte Samira alles Fleisch abgepackt und in ihre Tiefkühltruhe verfrachtet. Das Blut war ins Erdreich geflossen, der Schädel bekam einen Ehrenplatz im schwarzen Zimmer, die anderen Knochen wurden in den Beeten vergraben. Der Spiegel kam wieder an seinen Platz, aber so gedreht, dass die Spiegel-Samira den Schädel sehen konnte. Sie wirkte sehr zufrieden. Wie ihr echtes Ebenbild war ihre Robe über und über mit Blut bespritzt.

Müde räumte Samira auf und steckte ihre Robe in die Waschmaschine. Sie wollte nur noch schlafen, während Lukes Fleisch in den Plastikbeuteln langsam gefror, aber sie hatte ihm ein Versprechen gegeben. Und das würde sie auch halten. Denn er hatte sich auch prächtig gehalten. Und tiefgefroren würde er sich sogar noch länger halten.

Die Hungrige Hexe

Подняться наверх