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Dimensionsblähung

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Normalerweise unterliegen visuell dargestellte Dinge einer dimensionalen Verringerung. Auf dem Zeichenblatt wird, vereinfacht gesagt, der Ball zur Kreisscheibe, der Stab zum Strich. Auch Skulptur suspendiert eine Dimension, und zwar die der Zeit, die sich ja an den Dingen und an dem, was lebt, viel aufdringlicher bemerkbar macht.

Doch was wäre eigentlich das exakte Gegenstück, also dimensionale Erweiterung? Ehrgeiziger Illusionismus oder sogar vollendete Täuschung sind es jedenfalls kaum, obwohl solche sehr extremen Darstellungsabsichten durchaus darauf bauen, dimensionale Verringerung auszugleichen oder sie uns gar nicht erst merken zu lassen. Also müsste man wohl eher an gewisse Animationen denken: An flache und noch dazu unbewegte Dinge der Wirklichkeit, vielleicht Briefmarken eines Albums, die dank eines Zeichentrickfilms aber vor unseren Augen zu tanzen beginnen; oder wir erinnern uns an den Steinernen Gast aus Mozarts Don Giovanni, als der der getötete Commendatore gleichsam aus der ihn darstellenden Statue anklagend spricht. Gerade an solchen und weiteren pygmalionischen Beispielen ersieht man, dass dimensionale Erweiterung die seltene Ausnahme ist, dass sie in alter Zeit eher einer Laune der Götter und modernerweise einer Laune der Technik gehorcht; dass sie zwar denselben Weg wie die Darstellung nutzt, auf diesem Weg aber die genau entgegengesetzte Richtung einschlägt – nämlich nach gut dilettantischer Art nicht vom Leben zur Darstellung, sondern von dieser zu jenem.

Nun gibt es eine Unterart der dimensionalen Erweiterung, die ich lieber mit dem abschätzig klingenden, aber viel genaueren Ausdruck der Dimensionsblähung bezeichnen würde, weil man sich die Ausdehnung in die dritte Dimension hierbei völlig mechanisch vorstellen muss, so als wollte man auf einer flach aufliegenden Münze mit einem Mal einen ganzen Stapel von Münzen türmen, ohne dass auch nur eine von ihnen aus dieser zylindrischen Formation ausbräche. Oder als würde aus der schmalen Laubsägearbeit einer Kuh-Silhouette ein im Querschnitt kuhförmig gearbeiteter Holzring, ganz so wie ihn erzgebirgische Spielzeughersteller beim Reifendrehen erarbeiten, um davon jede Menge Scheiben in Kuhform absägen zu können – bloß dass wir uns diesen Holzring nun als reinen Selbstzweck vorstellen müssten. Oder man denke an das Relief, das ein Steinmetz den Buchstaben einer Grabplatte oder ein heutiger Typograf am Computer irgendwelchen Fonts verleiht: nur eben nicht länger in maßvollem Verhältnis zur Flächenausdehnung der Buchstaben, um der besseren Lesbarkeit willen als moderate Hervorhebung, sondern als vektoriell entfesselter Aufwuchs, wodurch alles an ihnen gründlich auseinandertritt. Denn die flachen Buchstaben werden jetzt zwar etwas, sie materialisieren sich, zugleich aber sind sie sozusagen nur noch eine Eigenschaft jener monströsen Stapelungen, zu denen sie wurden. Das Plakat zu dem TV-Mehrteiler nach Ken Folletts Die Säulen der Erde gibt dafür ein anschauliches Beispiel: Obwohl jeder einzelne Buchstabe des Filmtitels einem Turmbau zu Babel gleich die Wolken überragt, bleiben die einzelnen Buchstaben für diese Türme und für die Menschlein, die sich den gotisierenden Fassaden dieser Türme gegenübersähen, nichts weiter als eine inwendige, nicht entzifferbare, ja unüberschaubare Prägung – überschaubar und lesbar werden sie nur für uns als Plakatbetrachter, die wir aus dem Himmel hinabschauen auf die Buchstabendächer in ihrer semantischen Anordnung.

Dank diverser, immer ausgefeilterer Typografie- und Grafikprogramme wird es heute zusehends unaufwendiger und daher verlockender, alles Mögliche einfach mal sinnfrei in die Höhe schnellen zu lassen: Nicht nur Buchstaben oder Ziffern, prinzipiell alles lässt sich wie auf Knopfdruck aus der Zweidimensionalität herausstülpen oder ebenso akkurat und ohne Erosionsverlust in sie hineinsenken. Es ergibt sich dabei, wie meine Beispiele schon andeuteten, keineswegs nur eine quantitative Veränderung, wie es das Bild des an die Stelle der einen Münze tretenden Münzstapels nahelegen könnte. Vielmehr wird die Perspektive des Betrachters mit verschoben: von der ursprünglichen Aufsicht (auf die eine Münze) zur Ansicht (des Münzstapels). Der Stapel gibt dann das, woraus er gestapelt wurde, gar nicht mehr preis, hat es inkorporiert. Die solcherart ersetzende und verwandelnde Wirkung der Dimensionsblähung ist eine veritable Waffe in der Hand einfallsloser Gestalter. Denn aus jeder Null – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne – ist ja jetzt noch etwas herauszuholen.

Was hat die Kunst damit zu tun? Dass es auch hier Beispiele gibt – erinnert sei an Thomas Scheibitz’ farbige Plastiken spitziger, dimensionsgeblähter Zahlen oder an Pietro Sanguinetis piekfeine Buchstabenwelten, in denen Worte wie ›super‹ ein entsprechend aufgepepptes Eigenleben führen – erscheint eher harmlos und nimmt es mit den aus dem Ruder laufenden Entwicklungen in Grafikdesign und Motion Graphics in keiner Weise auf. Doch nun heißt es abwarten. Es wäre nicht das erste Mal, dass in den technisch aufgerüsteten Fabrikationen der Bild- und Schriftbildkommunikation Entwicklungen offenbar werden, die sich in der Kunst erst nach und nach manifestieren.

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