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Kapitel 2

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Miriam griff beim zweiten Läuten des Telefons nach dem Hörer. Nicht einmal den Satz, an dem sie gerade herumtüftelte schrieb sie fertig.

„Ja?“ meldete sie sich erwartungsvoll, da sie auf eine Nachricht von Henk hoffte. Sie wusste, dass dieses ‚Ja’ nicht der standardisierten Begrüßungsfloskel entsprach, mit der die Mitarbeiter externe Anrufe entgegennehmen sollten.

„Müller Horst. Ich habe vor vier Wochen einen Schadensfall gemeldet. Ich möchte jetzt endlich wissen, wo mein Geld bleibt!“

Der aggressive Tonfall und die Stimmlage erinnerten Miriam an einen ihrer ersten Klienten. Der hatte sie immer wieder am Telefon bedrängt, und es eines Tages auch geschafft, unangemeldet in das Großraumbüro zu stürmen und sich bis zu ihr durchzukämpfen.

Das Bild dieses Klienten vermischte sich mit dem Bild von Henk. Wie er sich, wie die Mitarbeiter an den umliegenden Tischen, möglichst klein und unauffällig gemacht hatte. Auf den Bildschirm hatte er gestarrt, als würde er nichts anderes um sich herum hören und sehen. Und wie er danach versucht hatte sie zu trösten. Seine ungeschickte und vorsichtige Art, ihr freundschaftlich fast auf die Schulter zu greifen ohne sie zu berühren, hatte sie durch die Mauer des Heulkrampfes hindurch zum Lachen gebracht.

„Hallo, ich spreche mit Ihnen. Hören Sie mir überhaupt zu?“

„Ja, ich habe Ihnen zugehört. Wenn Sie mir zuerst einmal die Nummer Ihrer Versicherungspolizze durchsagen, kann ich mir am Computer ansehen, in welchem Stadium der Bearbeitung sich Ihr Versicherungsfall befindet. Oder haben Sie bereits einen Bescheid erhalten?“

Sie war inzwischen professionell genug, auf Anfeindungen neutral zu reagieren, ohne sich persönlich treffen zu lassen. Während sie die von Müller durchgegeben Daten in die Tastatur klopfte, blieb ihr Zeit genug, einen raschen Blick auf Henks leeren Arbeitsplatz zu werfen.

Dieser verfluchte Henk, ärgerte sie sich. Wo war er, was war mit ihm los? Dabei hatte Fjodor ihr gestern versprochen, nach Henk zu schauen und ihm auszurichten, er solle sie dringend im Büro anrufen.

„Also, was ist jetzt?“, setzte Müller sie weiter unter Druck.

Am Bildschirm sah sie den Prozentsatz, um den der Abteilungsleiter das Schätzgutachten nach unten korrigiert haben wollte, was der zuständige Referent offenbar noch nicht erledigt hatte. Das durfte sie dem Klienten natürlich nicht erzählen, also sprach sie von letzten Unterschriften, die für die im Grunde schon beschlossene Schadenssumme noch notwendig wären. Nein, die Höhe der festgestellten Schadenssumme dürfe sie ihm bedauerlicherweise nicht bekannt geben. Sie sei doch nur ein kleines Rädchen, und hätte den Schaden weder berechnet, noch darüber zu entscheiden. Müller zeigte keine Anstalten, auf Miriams Armes-Kleines-Mädchen-Masche einzusteigen und beharrte weiterhin darauf, dass sie ihm gefälligst eine konkrete Zahl nennen solle.

Die Zeit für Heulkrämpfe nach Beschimpfungen durch Kunden war vorbei, Miriam hatte sich eine dicke Haut und ein paar Tricks zugelegt. Du willst es ja nicht anders, dachte sie.

„Na gut. Aber bitte, Sie dürfen niemand sagen, dass Sie das von mir wissen. Es ist wirklich noch nicht offiziell. Hier steht, dass wir Ihnen fünftausendvierhundert Euro bieten wollen. Aber das haben Sie nicht von mir, ist das klar?“

Diese Schadenssumme lag um rund achthundert Euro unter jener, auf die das Gutachten gedrückt werden sollte. Müllers überhebliches Drängen wich enttäuschter Verwunderung. Miriam sah irgendwo in ihrem Kopf einen comicstripähnlichen Streifen ablaufen: Ein großer, kräftiger Mann mit weit aufgeblasenem Brustkorb, mit dem er Miriam vor sich herrempelt; Miriam sticht mit einer Nadel hinein, pfeifend entweicht die Luft und er sieht am Ende wie ein aufgestochenes Schwimmtier aus; um zehn Zentimeter Größe und das Doppelte an Brustumfang zusammengeschrumpft.

„Tut mir leid, dass ich keine bessere Nachricht für Sie habe. Den Bescheid werden Sie in ein paar Tagen erhalten. Wie gesagt, die Unterschrift fehlt noch. Auf Wiederhören.“

Rasch schrieb sie eine Aktennotiz an den Sachbearbeiter sowie den Abteilungsleiter, in dem sie den Inhalt des Telefonats wiedergab. Und ihren Eindruck, dass Müller letztlich die von ihr reduzierte Summe akzeptieren werde.

Miriam überlegte, ob sie versuchen sollte, Henk daheim anzurufen. Oder sollte sie zuerst bei Fjodor nachfragen, ob er Henk gesehen oder gesprochen hätte? Er hatte es ihr doch versprochen. Sie ging in den Aufenthaltsraum einen Tee trinken, um die Entscheidung zu verschieben. Das war zwar schon ihre dritte Pause heute, aber diese Kosten hatte sie der Gesellschaft soeben vielfach erarbeitet.

WIR können zusammenfassen, dass Miriam Henks Nummer gewählt und aufgelegt hat. WIR kennen die Gründe. Wie sie als nächstes Fjodor angerufen aber nicht erreicht hat. Wieder Henk anrief. WIR wissen, dass es Henk nach dem mit Fjodor verbrachtem Abend psychisch besser ging. Aufbruch, Pläne, Zukunft. Körperlich wirkte sich der ungewohnte Alkohol hingegen in Form stechender Kopfschmerzen und eines entzündeten Halses aus.

Henks Stimme hörte sich furchtbar an, was für Miriam Leiden und Verzweiflung bedeutete. Auf Miriams Frage, wie es ihm ginge, hätte ein verkrampfter, unsicherer junger Mann wie Henk nie ein lapidares „furchtbar“ gebrummt, wenn es ihm tatsächlich schlecht gegangen wäre.

Miriam wusste nicht, was WIR wissen.

„Hat Fjodor dich angerufen? Er hat mir versprochen, nachzuschauen, was mir dir los ist.“

Hoffentlich fragt er nicht, warum ich nicht selbst angerufen habe, dachte sie. Die Geschichte, dass ich für diese Akmaz-Angelegenheit dringend seine Hilfe brauche, ist ja Blödsinn.

„Oja, der Fjodor war bei mir. Wir haben uns lange unterhalten. Eine wichtige Sache. Und dann wollte er unbedingt Bier kaufen, und das haben wir getrunken. Ist ziemlich heftig geworden. Echt arg, sag ich dir.“

Wichtige Sache, hörte Miriam. Heftiges Betrinken. Was ist los, fragte sie sich. Sie sah Schlagzeilen wie Aids, Tumor und Krebs vor ihrem inneren Auge. Sie sah Bilder von kranken Menschen, ausgemergelt, im Nachthemd, wie es in Krankenhäusern getragen wurde. Sie sah Flüssigkeiten aus Tropfvorrichtungen durch Schläuche in Henks Körper sickern, in die Venen an den Armen, aber auch durch die Halsschlagader.

„Willst du mit mir auch darüber reden?“, fragte sie. „Du musst nicht, aber … “.

„Ja, warum nicht. Es ist so eine arge Geschichte, es schadet wohl nichts, eine zweite Meinung zu hören. Ich glaube nicht, dass Fjodor etwas dagegen hat, wenn ich es dir auch erzähle.“

Arge Geschichte, arge Geschichte, hörte Miriam.

„Und es ist schließlich meine Sache, was in meinem Kopf vorgeht. Selbst wenn Fjodor etwas dagegen hat, ist doch meine Entscheidung“, sprach Henk weiter.

In seinem Kopf, hört Miriam. Ob es ein Gehirntumor ist? Oder meint er nur, wie er sich fühlt, mit dem Wissen, dass…

Ich weiß ja nicht, was es ist. Ich will ihm nicht beim Sterben zusehen. So gut kenne ich ihn ja gar nicht. Nein, Blödsinn, es wird nicht so schlimm sein. Unangenehm, lästig, aber es wird schon nichts tödliches sein.

„Wie dringend ist es denn?“ fragte Miriam. „Soll ich gleich kommen, oder reicht es, wenn ich nach der Arbeit vorbeischaue?“

Warum er alles dem Fjodor erzählt hat, wunderte sie sich. So gute Freunde sind die doch gar nicht. Ich hab Fjodor doch nur hingeschickt, weil er der einzige gemeinsame Bekannte ist, den ich außerhalb des Büros mit Henk habe.

„Nein, komm ruhig, wann du Zeit hast. Ist wohl viel los, im Büro“, holte Henk sie in die Gegenwart zurück.

„Ja, du kennst das ja. Und weil du ausfällst, bleibt noch mehr Arbeit für mich übrig. Es wäre mir wirklich lieber, wenn ich erst nach Vier komme.“

„Klar. Komm wann du willst.“

„Gleich nach der Arbeit fahre ich los. Ohne Umwege, ich verspreche es dir.“

WIR kennen Henk, WIR kennen Miriam, WIR wissen, dass die beiden aneinander vorbeiredeten, jeder mehr in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen, als sich in die Welt des anderen begebend. Sie merkten nicht, was der andere mit dem sagen wollte, was er sagte.

TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND

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