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1.1.2 Jugend als soziale Konstruktion und jugendliche Lebensperspektiven im Kaiserreich

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Zugleich begann sich „Jugend“ in jenem Zeitraum als eigenständige Altersgruppe und Entwicklungs- bzw. Lebensphase zwischen Kindheit (Kriterium Schulentlassung) und Erwachsenenstatus (Kriterium Wehrdienst oder Eheschließung) herauszubilden (vgl. u. a. Reulecke, 1986, S. 21). Hier wird schon die eher männlich geprägte Definition von Jugend dieser Zeit deutlich, obwohl Reese darauf verweist, daß das Konstrukt Jugend um 1900 auf der Vorstellung eines Lebens gründete, das für alle Menschen (Geschlechter) formal gleich war (vgl. 1991, S. 8). Die männliche Betonung des Begriffs Jugend mag damit verbunden gewesen sein, daß dieser Terminus auf den Ausdruck Jüngling zurückging – ein in der Schule auf das Leben vorzubereitender Mann (vgl. Andresen, 2003, S. 71).14 In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, daß bei meiner Analyse der Frage, wie sich die historische Forschung während der jugendbewegten Zeit mit dem Thema Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung auseinandergesetzt hat, der Schwerpunkt deutlich auf den männlichen Jugendlichen liegen wird. Bei den Studien nach 1945 und bei den ab den achtziger Jahren entstandenen Untersuchungen sollte dieser jedoch deutlich abnehmen.

Jene Herausbildung von Jugend als eigene Entwicklungsphase mag auch in der damaligen umfangreichen publizistischen und auch wissenschaftlichen Diskussion15 über Jugendliche und ihre Probleme begründet liegen, „mit der Tendenz, Jugend nun endlich nicht mehr als Noch-nicht-Erwachsene zu behandeln, sondern als Potential eigentümlicher, noch unverbrauchter und unverfälschter Chancen“ (Giesecke, 1981, S. 14). Verbunden mit dem eben Gesagten richtete sich die Hoffnung vor allem des Bildungsbürgertums – die Beamtenschaft und die akademischen freien Berufe, wie Professoren und Gymnasiallehrer – auf die Jugend, von der es sich eine „Erneuerung“ ihrer „alten Werte“ (Klönne, 1990, S. 83 f) ersehnte. Es entstand eine Art „Mythos Jugend“ (vgl. Andresen, 2003, S. 73).

Ausgehend von der Vermutung Andresens, daß nach Annahmen der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung die Jugendlichen auch selbst an der Konstruktion von Jugend und ihrem Leben beteiligt sind, wobei das, was sie als eigenes Leben definieren, im weitesten Sinne den Diskurs der Eltern widerspiegelt (vgl. ebd., S. 64), hätten sich die Jugendlichen und später die Jugendbewegten selbst als „Träger eines „anderen“ Lebens und einer „neuen“ Gesellschaft“ (Klönne, 2000, S. 47) unter Rückgriff auf die alten Werte verstanden und Jugend damit selbst konstruiert (vgl. Andresen, 2003, S. 70). Es ist zu erwarten, daß in den Untersuchungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung, die sich mit Geschlechterkonstruktionen beschäftigt, vor allem die hier erwähnten Gedanken bzw. Selbst- und Fremdthematisierungen – die Jugend als Träger eines anderen Lebens und Bewahrer der alten Werte – genauer erörtert und eher kritisch in die Analyse zur Konstruktion weiblicher Jugend in der deutschen Jugendbewegung einbezogen werden.

Dessen ungeachtet wurde insbesondere in den damaligen Schulen, geprägt von der wilhelminischen Ära16, die Eigenart der Jugend und deren Potential der Lebensform bzw. den Vorstellungen der Eltern untergeordnet (vgl. Frobenius, 1927, S. 31). Dazu gehörte auch die strenge Sexualmoral mit der Forderung nach weitestgehender sexueller Abstinenz bis zur Ehe (vgl. u. a. Linse, 1987, S. 248 ff) – Keuschheitsgebot –, wobei darin, wie im folgenden Kapitel deutlich wird, enorme Geschlechterdifferenz17 bestand. Daneben standen die Jugendlichen unter der „Fuchtel“ ihrer Eltern und der Schule und hatten diesen Gehorsam, Unterordnung und Leistung entgegenzubringen und zu zeigen (vgl. Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 11). Jugend war damit nicht mehr, als ein verlängerter Status der Abhängigkeit (vgl. Andresen, 2003, S. 71), vor allem von der „autoritär-patriarchalischen Vaterfigur“ (Klönne, 2000, S. 48).

Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung

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