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1. Entstehung und Entwicklung der deutschen Jugendbewegung

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Um das Phänomen Jugendbewegung angemessen verstehen zu können, gilt es zunächst, einige allgemeine Hinweise zum Begriff zu liefern. Vermutet wird, daß die Bezeichnung Jugendbewegung durch Hans Blühers Werk „Der Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung“ populär gemacht wurde (vgl. Schröder, 1996, S. 39). Im Prinzip ging diese Bezeichnung aus dem „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten“12 (AfS) (vgl. 1.2.1) hervor und umfaßte im wesentlichen den Wandervogel (Kaiserzeit), die Freideutsche Jugend und Bündische Jugend (Weimarer Republik) (vgl. Schneider, 1990, S. 6). Ein Deutungsversuch von Viktor Engelhardt lautet: „Jugendbewegung im allgemeinsten Sinne des Wortes bezeichnet eine geistige Bewegung, in der junge Menschen Träger neuer, meist gegen die bestehende Ordnung gerichteter Gedanken sind“ (1927, S. 1).

Im groben stimmt diese Begriffsbestimmung überein mit dem gängigen Verständnis von sozialen Bewegungen, definiert als „Prozeß des Protests gegen bestehende (soziale) Verhältnisse“ (Rammstedt, 1978 in Thiel, 1999, S. 868) sowie mit der Intention gesellschaftlicher Veränderung (Jugend als Träger neuer Gedanken, C.K.).13 Sozial deshalb, weil sie – im wesentlich getragen von Gymnasiasten – sich gegen die soziale Ordnung wandte, „gegen einengende, konventionelle Autoritäten (Eltern und Schule, C.K.) und eine mechanische Großstadtkultur“. Stattdessen sah sie „im Jugendlichensein selbst den Ausdruck positiv besetzter Werte wie Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität und Vitalität (…) und (brachte, C.K.) diese im gemeinsamen Wandern (…) mit Lagerleben, Spielen und Musik zum Ausdruck“ (Raschke, 1988, S. 47). Die Jugendlichen fanden sich in den entsprechenden Wandergruppen – den außerschulischen Organisationen – zusammen, die von einem kaum älteren Führer geleitet wurden, um nach „einer Verwirklichung jugendlicher Verkehrsformen neben und in Abschließung von industriellen und politischen Entwicklungen“ (ebd.) zu suchen. Das hatte den Erfolg, daß Jugend als Lebensphase weitere Anerkennung fand und die jugendbewegten Ideale in gewandelter Form in die verschiedensten Berufs- und Lebensbereiche eingebracht wurden (vgl. ebd., S. 49 f). Damit beinhaltet die Jugendbewegung fast alle wesentlichen Merkmale sozialer Bewegungen: Kollektive Aktionen (Wandern) von individuellen, aber auch korporativen Akteuren (Führer), die der Durchsetzung gemeinsam gesetzter Ziele (Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität) dienen. Die Akteure sind untereinander vernetzt und haben eine Gruppe (Wandergruppe) oder eine kollektive Identität (gemeinsames Wandern mit dem dazugehörigen Lagerleben, Spielen und Musik). Die kollektiven Aktionen sind auf Dauer gestellt (weitere Anerkennung von Jugend als Lebensphase). Ihre Gründung findet außerhalb des Bereiches etablierter Institutionen statt (es sind außerschulische Organisationen). Ihre wichtigste Aktionsform ist der Protest (Protesthaltung gegenüber den einengenden, konventionellen Autoritäten und der mechanischen Großstadtkultur) (vgl. Schnabel, 2003, S. 37).

Abzugrenzen ist der Begriff der sozialen Bewegung, und damit auch die Jugendbewegung, von Organisationen, wie beispielsweise einzelnen Vereinen (AfS), da jene Bewegung mehrere solcher Vereinigungen beinhaltete (Jungwandervogel, Akademische Freischar usw.) und dennoch geschlossen auf dem Meißnerfest zusammen auftrat (vgl. 2.2), als auch vom kollektiven Verhalten, welches ausschließlich auf die Verfolgung individueller, nicht aber gemeinsamer Ziele ausgerichtet ist (vgl. Schnabel, 2003, S. 35 f). Auch wenn sich in der späteren Bündischen Jugend eindeutige politische Tendenzen in der Jugendbewegung breit machten (vgl. 2.2), kann nicht von einer politischen Mobilisierung, wie z. B. Parteien, gesprochen werden. Felix Raabe zeigte für die Bündische Jugend eine mehr oder weniger eindeutige Ablehnung von Parteien, wie der NSDAP, in verschiedenen Gruppen auf (vgl. 1961, S. 108). Außerdem ist die Bündische Jugend trotz des nicht unerheblichen Umfangs an „Schnittstellen“ mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus (vgl. Klönne, A., 1987, S. 210) dennoch in ihrem politischen Denken sehr mannigfaltig gewesen ist. Sie besaß keine einheitliche politische Idee oder gar politisches Programm (vgl. Raabe, 1961, S. 198), die Offe als wesentliches Merkmal von Parteien nennt (vgl. 2003, S. 430).

Die Entstehung sozialer „Bewegungen“, wie der Jugendbewegung, sind nach Raschke zumeist Reaktionen auf Situationen, die als Krise/​-n erlebt wurden (vgl. u. a. 1988, S. 11 ff). Was also war für wen kritisch geworden?

Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung

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