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1960

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Meine Mutter hatte einen roten VW-Käfer, mit dem wir oft nach Ulm fuhren, um Reste unseres Umzugs zu holen. Es dauerte immer endlos, bis die hundertzwanzig Kilometer vorbei waren. Oft saß ich ganz hinten in dem Schacht des Käfers und schaute rückwärts hinaus, weil es mir langweilig war, immer zu warten, bis das nächste Schild anzeigte, dass wir wieder zehn Kilometer geschafft hatten.

Bei einer Fahrt bemerkte ich, dass ständig ein weißer VW-Käfer hinter uns fuhr. Er überholte, wenn meine Mutter überholte und er fuhr langsamer, wenn sie langsamer fuhr. Er hatte auch ein Ulmer Kennzeichen, am Steuer saß ein Mann.

»Mami!«, rief ich nach einiger Zeit, »da verfolgt uns einer mit einem VW aus Ulm!«

Meine Mutter sah in den Rückspiegel. »Stimmt«, bestätigte sie, »der ist auch aus Ulm.«

»Der ist bestimmt ein Geheimagent!«, rief ich zu ihr nach vorne, »der will dich klauen!«

Meine Mutter lachte, sah wieder in den Rückspiegel und sagte: »Wieso, der sieht doch ganz nett aus!?«

Ich sah ihn mir nochmal genau an, war weniger ihrer Meinung und wusste, dass er etwas im Schilde führte.

Ich hatte wieder einmal recht. Nachdem wir die Autobahn endlich verlassen hatten und in die Verdistraße in Obermenzing einfuhren, kletterte ich aus dem Käfer-Schacht auf den Rücksitz, weil wir die nächste Straße abbiegen mussten zu unserem Reihenhaus, da schaltete die Ampel auf rot und meine Mutter musste scharf bremsen. Hinter uns quietschten Reifen – dann krachte es – und der Mann war uns hinten reingefahren! Das hatte der absichtlich gemacht!

Wir stiegen alle aus und der Mann kam mit ausgestreckter Hand lachend auf meine Mutter zu: »Entschuldigen Sie bitte vielmals, das tut mir sehr leid, ich werde das so schnell es geht regulieren!« Sie war überhaupt nicht richtig böse auf ihn, tat fast so, als sei es ihre Schuld, weil sie gebremst hatte, und als sie die kaputten Stoßstangen anschauten, sagte der Mann plötzlich:

»Sie kommen mir so bekannt vor – sind Sie nicht Schauspielerin am Ulmer Theater?«

»Leider nicht mehr«, antwortete meine Mutter geschmeichelt. »Ich wurde entlassen, nachdem mein Mann, der Intendant, gestorben war.«

»Dann sind Sie Erika Wackernagel?!«, sagte der Mann hochachtungsvoll und streckte wieder seine Hand aus. »Mein Name ist Heiner Guter27 – welche Ehre, Sie persönlich kennen zu lernen! Wie oft habe ich Sie schon im Theater bewundert.« Und, nachdem meine Mutter errötend geseufzt hatte: »Und Sie sehen ja im richtigen Leben noch blendender aus als auf der Bühne.«

Er wohnte ganz in der Nähe, war geschieden, hatte zwei Töchter in unserem Alter, die eine dick, die andere frech, und es dauerte nicht lange, bis meine Mutter ihn heiratete und die beiden den Bau eines Hauses am anderen Ende von München planten.

Heiner Guter war in jeder Hinsicht das Gegenteil meines Vaters, er war unsensibel, verstand nichts von Kunst und lästerte über alles und jeden. Er wusste alles besser und behandelte meine Mutter schlecht. Meine Schwester Sabine und ich waren natürlich überhaupt nicht damit einverstanden, dass unsere Mami diesen grobschlächtigen Kerl28 heiratete, und wir verbündeten uns gegen ihn und seine Töchter.

Aber er konnte Häuser bauen, während mein Vater kaum einen Nagel in die Wand zu schlagen verstand. Außerdem kannte er sich in politischen Dingen aus, während mein Vater in dieser Hinsicht im Kunsthimmel über den Wolken geschwebt hatte. Er war auch mit Inge und Otl Aicher-Scholl befreundet, weil er in der Gruppe von Inges Geschwistern gewesen war, der »Weißen Rose«, die gegen die Nazis gekämpft hatte.

Ich erzählte ihm davon, dass im Klassenzimmer ein Bild von Bundeskanzler Adenauer hing, der aussah wie ein Affe, und er lachte herzhaft darüber. Als ich berichtete, dass ich vom Lehrer erwischt worden war, als ich das laut sagte, und deswegen je zehn Stockschläge auf die Finger bekommen hatte, wurde er sauer. »Hier in Bayern sitzen überall noch die Nazis drin«, sagte er, »da wird sich nie was ändern!«

Eines Tages kam meine Stiefoma aus Brasilien zu Besuch. Sie hatte immer rote Augen und sprach langsam und verschwommen. Meine Mutter war gereizt und schlecht gelaunt. »Sie hasst sie«, erklärte Sabine, »weil sie als Kind immer so tun musste, als sei das ihre echte Mutter, sonst hätte sie kein Abitur machen dürfen.«

Nachdem diese merkwürdige Frau ein paar Tage da war, zeigte mir meine Mutter unsere Mülltonne, die voll mit leeren Weinflaschen war. »Sie ist alkoholkrank«, erklärte sie mir, »das ist ganz furchtbar.« Deswegen wirkte sie immer so abwesend. »Deine wirkliche Oma war eine ganz wunderbare Frau«, betonte meine Mutter, »schade, dass du Carlamutti nie kennenlernen konntest!«

»Wie Tante Yella?«, fragte ich.

»Ja«, sagte meine Mutter, »und weil sie Jüdin war, durften wir nie über sie reden!« Sie schaute ganz traurig. »Das war furchtbar!«, sagte sie mit erstickter Stimme – und sah wieder wütend auf die leeren Weinflaschen in der Mülltonne.

Umso schöner war der Besuch von Onkel Helmut. Er war mein Patenonkel und der jüngste Bruder meiner echten Oma. So wie Yella nach England war er vor den Nazis nach Australien geflohen.

Er logierte im Hotel Königshof am Stachus, einem prächtigen Bau mit vielen Balkonen, die geschwungene verzierte Geländer hatten, mit Kronleuchtern im Restaurant, überall samtroten Brokatvorhängen, die mit goldenen Bordeln seitlich befestigt waren, und rotgoldenen weichen Teppichen, auf denen man wie auf Watte ging.

Wir saßen in der Sonne auf dem Balkon seines Zimmers, er lobte mein gesundes Aussehen und meine entzückenden Söckchen, schenkte mir fünf Mark und heimlich Schokoladeneier. Dann zeigte er seine Flugtickets: längliche Pappen, die wie ein Leporello aneinandergeklebt waren, das er so weit auseinanderfalten konnte, wie er seine Arme ausbreiten konnte. Er flog rund um die ganze Welt! Neuseeland, Bali, Indonesien, Indien, Dubai; dann Europa, wo er natürlich auch Yella und Otto besuchte, dann Amerika, um von da wieder zurück nach Australien zu kommen. Ich bewunderte ihn unendlich.

»Woher hast du denn so viel Geld, um das alles zu bezahlen?«, fragte ich.

»Das meiste sind geschäftliche Treffen29«, erklärte er, »entweder spreche ich mit Leuten, die unsere Kleider abkaufen, oder mit welchen, bei denen ich sie herstellen lasse, weil sie billiger produzieren als in Australien.«

»Und woher hattest du das Geld, um die Fabrik in Australien zu bauen?«

»Das hab ich mitgebracht«, erklärte er lächelnd.

Ich sah ihn fragend an.

»Du weißt doch«, begann er zu erzählen, »ich musste vor den Nazis fliehen. Yella war schon weg und hatte etwas vom Erbe unserer Mutter bekommen. Die Gersons hatten früher Eisenbahnen und Uniformen für das deutsche Militär produziert, davon war noch etwas übrig. Also bat ich sie um meinen Anteil; außerdem hatte ich schon einiges selbst verdient.« Er nickte in sich hinein und lächelte, seine braunen Runzeln glänzten in der Sonne. »Es musste alles ganz schnell gehen,30 einen Teil hatte ich in Form von Goldstücken und das meiste in möglichst großen Dollarscheinen, viel auch in Markscheinen. Dann nähte ich mir einen großen, dicken Gürtel, unter dem ich das Geld versteckte, den ich eng um den Bauch band und wodrüber ich meine Kleider zog. Ich legte ihn so lange nicht ab, bis ich in Sicherheit war!« Dann breitete er die Arme aus, sah mich liebevoll an und sagte in die Sonne blinzelnd auf den Stachus blickend:

»Wie wunderbar, dass das alles vorbei ist! Du hast es gut! Das freut mich für dich!«

RAF oder Hollywood

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