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1955

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Ich spielte mit meinem Freund Rolf auf dem Gehweg vor unserem Haus, einem vierstöckigen Neubau in der Gideon-Bacher-Straße. Er war ein Hund und ich eine Katze. Wir bellten und miauten die Passanten an, und wenn welche erschraken, lachten wir jubelnd. Einige schimpften sogar, was uns besonders freute; eine Frau gab uns Bonbons.

Ein älterer Junge kam vorbei. Er zwinkerte wichtig und winkte uns, mit ihm zu kommen. Wir folgten ihm neugierig.

In der nächsten Querstraße gab es eine Kriegsruine. Es war uns strengstens verboten, in ihr zu spielen, weil da vielleicht noch Bomben lagen, die losgehen könnten. Genau dorthin führte uns der Junge.

Davor angekommen, sah er sich sichernd nach allen Seiten um, und nachdem die Luft offenbar rein war, flüsterte er: »Los« – und wir huschten über moosbewachsene Gesteinsbrocken durch eine Mauerlücke in den Keller der Ruine. Drinnen war es kalt, glitschig und es roch muffig; Rolf und ich zitterten vor Aufregung.

»Jetzt zeig ich euch mal was«, sagte der Junge und nickte bedeutungsschwer – dabei zog er etwas aus seiner Hosentasche. Es waren an einem grauen Bändchen aufgereihte kleine rote Pappröhrchen. Während er Streichhölzer aus der Tasche zog, streckte er sie uns entgegen, damit wir sie näher betrachten konnten, und erklärte grinsend: »Des sen Judafirzle!11«

Wir lachten unsicher, wiederholten aber stolz: »Judafirzle!«

Der Junge legte sie auf den Boden, kniete sich davor und zündete ein Streichholz an. Etwas unheimlich war mir ja schon, hier, mitten zwischen den Bomben, die vielleicht hochgehen könnten, aber es war so spannend, dass ich alle Bedenken beiseiteschob. Der Junge hielt das lodernde Streichholz an das graue Bändchen, an dem sodann ein Funke entlangzischte, bis er das erste rote Pappröhrchen erreichte – das explodierte – erschrocken sprangen wir zurück – alle weiteren explodierten in rasender Schnelle hintereinander knatternd, Funken sprühend und in den düsteren Gemäuern hallend.

Offenen Mundes standen Rolf und ich da, ergriffen von dem Spektakel, dann jubelten wir – und der Junge zog geschmeichelt die nächsten Kracher aus der Tasche.

Nachdem ich die vier Stockwerke zu unserer Wohnung hochgestürmt war, berichtete ich meinen Eltern atemlos vor Begeisterung von meiner neuen Erfahrung.

Mein sonst so milder Vater12 wurde ernst. »Sag dieses Wort nicht noch einmal«, ermahnte er mich, »ich will das nie wieder hören.«

Ich hüpfte laut lachend vor ihm hin und her und rief extra auf schwäbisch, weil wir zuhause nur Hochdeutsch sprachen: »Judafirzle! Judafirzle! Judafirzle!«

»Christof!«, rief er, richtig wütend, »lass das! Ich verbiete dir das!«

Ich war kurz verunsichert – doch dann streckte ich meine Zunge heraus und wiederholte: »Judafirzle! Judafirzle!« – seine Hand landete klatschend auf meiner Wange.

Ich war so verblüfft, dass ich vergaß zu weinen.

Das hatte es noch nie gegeben.

Dann spürte ich den Schmerz und flüchtete zu meiner Mutter13, die von dem Krach alarmiert ins Zimmer gekommen war.

»Aber Peter«, sagte sie und streichelte meinen Kopf, »sei doch nicht so streng, das kann er doch noch nicht wissen.«

»Dann weiß er’s jetzt«, sagte mein Vater traurig.

RAF oder Hollywood

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