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ANKUNFT IN LIMA

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Als ich in Lima ankomme, bin ich müde. Meine innere Uhr sagt mir, dass es bereits mitten in der Nacht ist, doch auf dem Weg hierher haben sich die Uhren sechs Stunden zurückgedreht. Tom erwartet mich inmitten einer Menge von Taxifahrern mit Namensschildern und strahlt. Ich strahle zurück, wir küssen uns. Obwohl ich ihn in den vergangenen sechs Monaten regelmäßig auf Skype oder FaceTime gesehen habe, hätte ich ihn mit seinem dichten Bart und den langen Haaren fast nicht erkannt. Es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass die technischen Hilfsmittel den echten Anblick nicht vollständig ersetzen können. Doch eines ist bestimmt durch den ständigen Online-Kontakt anders geworden: Alles ist sofort wieder vertraut, wir sprechen so miteinander wie noch vorgestern am Telefon, er fragt »Wie war der Flug?« und ich erzähle entnervt von meinem Starbucks-Desaster. Kitschige Wiedersehensszenen à la Fünfzigerjahrestreifen, ungläubige Blicke, dass die andere Person tatsächlich noch am Leben ist und die geschriebenen Briefe doch nur in der Post verloren gegangen sind, so etwas gibt es heute nicht mehr.

Wir steigen in ein Taxi, Tom spricht inzwischen fließend Spanisch und verhandelt souverän mit dem Fahrer den Preis. Als wir durch das lärmende, blinkende und stinkende Großstadtchaos Limas fahren, steigen in mir Erinnerungen an Dakar hoch. Die halb auseinanderfallenden Autos, die die Straßen Limas verstopfen, unterscheiden sich von jenen in Dakar nur dadurch, dass sie statt aus Europa aus den USA hierhergebracht werden, wenn sie den westlichen Sicherheitsstandards nicht mehr entsprechen. Alle hupen, versuchen inmitten der Autokolonnen Softdrinks oder Kekse zu verkaufen, verschließen ihre Autotüren von innen vor mutmaßlichen Dieben. Die Werbetafeln und Aushängeschilder rundherum sind die gleichen wie bei uns: Visa, Mercedes, Coca-Cola, Multiplex-Kino, McDonald’s. Ich bin eher unbeeindruckt und beschäftige mich mehr mit Tom als mit dem, was rundherum passiert. Ist es nicht absurd, dass ein so ferner, fremder neuer Ort mich mit fünfundzwanzig Jahren nicht einmal mehr überrascht oder schockiert? Auch diese alten Szenen, mit großen Augen an der Fensterscheibe klebend, etwas beobachtend, was man noch nie zuvor nur annähernd gesehen hat, auch das gibt es für die Privilegierten unserer Generation kaum mehr. Ich erinnere mich an Ta-Nehisi Coates, der in seinem Buch »Between the world and me« erzählt, wie faszinierend und augenöffnend sein erster Besuch in Paris für ihn war, einen jungen, mittellosen Schwarzen aus den USA. Ich würde in diesem Moment gerne noch einmal so staunen können, wie er es beschreibt. Mittendrin in dieser mir viel zu vertraut wirkenden elf Millionen großen, vom Betonboden bis zur Smogwolke grauen Megacity navigiert Tom den Taxifahrer zu unserer Wohnung, die er vor Kurzem für den Rest seines Studienjahres für uns beide gemietet hat. Er hat sich parallel zu seinen Semesterprüfungen voll ins Zeug gelegt, um noch eine Wohnung zu finden, bevor ich ankomme. Auch wenn ich ihm immer versichert habe, dass es mir nichts ausmachen würde, noch ein paar Wochen in seiner Studenten-WG zu wohnen, bin ich heilfroh, dass wir jetzt von Anfang an unser eigenes, kleines Reich haben.

Tom studiert Internationale Wirtschaftswissenschaften und entspricht absolut nicht dem Klischee des aufstrebenden Wirtschaftsstudenten, der gerne einmal Consumer Brand Manager bei Procter & Gamble werden will. Als ich ihn kennenlernte, damals war er noch Zivildiener, war das zwar schon absehbar, aber längst nicht so deutlich wie heute. Durch sein Studium hat Tom bisher vor allem ganz genau herausgefunden, was er NICHT mit seinem Leben machen möchte. Er jagt nicht einem konkreten Karriereziel hinterher, sondern sucht meistens Antworten auf die großen, schwierigen Fragen unserer Menschheit: Wie schaffen wir mehr Frieden? Wie bekämpfen wir Armut und Umweltverschmutzung? Wie gelangen wir zu einer gerechteren Welt? Dabei macht er sich wenig Gedanken darüber, ob er bei den Lösungen eine tragende Rolle spielen wird, und genau dafür liebe ich ihn. Das Austauschstudium in Peru hat seine Ansichten über unsere ungerechte Welt nur noch mehr bestärkt, und die neue Langhaarfrisur ist in Wirklichkeit ein längst überfälliger modischer Ausdruck seiner alternativen, sozialkritischen Ansichten – auch wenn dieser Look momentan leicht mit dem eines stinknormalen Hipsters verwechselt werden kann. Wenn er mit seinen ausgelatschten Ledersandalen und einem bunten Stirnband durch Lima spaziert, erinnert er mich eher an einen modernen Jesus. Vielleicht auch, weil er das wirklich einmal zu mir gesagt hat, als ich während eines Sommerurlaubs zögerte, in Flip-Flops eine Kirche zu betreten: »Wenn dich jemand schief anschaut, dann denk einfach daran: Jesus hat immer nur Sandalen getragen.«

Nachdem wir nun unsere neue Wohnung betreten haben, gibt es für mich nichts Schöneres, als einfach nur ein paar meiner Habseligkeiten in den Schrank zu legen und zu wissen: Hier dürfen sie jetzt ein paar Monate bleiben. Gleichzeitig packe ich einen meiner zwei Rucksäcke schon wieder zusammen, denn in nur zwölf Stunden werden wir schon wieder am Flughafen von Lima sein. Diesen zugegebenermaßen größten Quatsch aller Zeiten hat Tom sich einfallen lassen, damit wir seinem Vater, der gerade zu Besuch ist, den Traum erfüllen können, den Machu Picchu zu besichtigen. Eine fünfundzwanzigstündige Busfahrt kommt für den alten Herren, wenn er auch noch sehr rüstig ist, nicht infrage, also fliegen wir in die Andenstadt, von der aus man zu diesen so berühmten Inka-Ruinen gelangt. Mir ist es jetzt, da ich wieder neben Tom einschlafen und aufwachen kann, relativ egal, wo das dazugehörige Bett steht und wie wir dorthin gelangen. Trotzdem habe ich mir fest vorgenommen, dass dies der letzte Kurzstreckenflug meines Lebens werden wird.

Das nächste Mal bleib ich daheim

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